In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Büchern aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
Weitere Rezensionen finden sich hier.
Titel: |
Kriminologie und Musik. Haft und Gefängnis in der englischsprachigen Populärmusik (1954-2013) |
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Autor: | Christian Wickert | |
Jahr: | 2017 | |
Verlag: | Beltz | |
ISBN: | 978-3-7799-3601-5 |
Music matters
Christian Wickert, der ja auch diesen Blog erfunden hat, hat wieder etwas erfunden. Er hat ein Buch geschrieben. Ein überaus geglücktes, das sei gleich verraten. In „Kriminologie und Musik“ erfindet er damit, im Kontext der Cultural Criminology und in Anlehnung an Haywards Konzept der „aural criminology“ die Auditive Kriminologie. Und stößt damit eine Tür auf, hinter der er eine nahezu unerschlossene und reich sprudelnde Quelle der Erkenntnis findet: Lieder, deren Texte von Haft und Gefängnissen erzählen. Aus einer Facebook-Schnapsidee „Lass uns doch mal Gefängnissongs sammeln!“ hat Christian Wickert eine neue Forschungsrichtung erarbeitet, die man in Anlehnung an Bachmann-Medick als Auditive Turn in der Kulturwissenschaft bezeichnen könnte.
Die alltägliche Gegenwart von populärer Kultur in musikalischer Form ist in unserer Gesellschaft so selbstverständlich, dass der so riesige und unübersichtliche Fundus an Lyrics, die das Thema Gefängnis thematisieren, bislang ganz erstaunlicherweise kaum wissenschaftlich genutzt wurde. Erstaunlich auch, weil dieser Fundus jedem dauerhaft zur Verfügung steht:
„Liedtexte stellen eine leicht zugängliche, reichhaltige und kostenlos verfügbare Datenquelle dar, die in den Sozialwissenschaften bisher weitgehend ignoriert wird“, so der Autor.
Doch trotz dieser attraktiven Forschungsvoraussetzungen und der reizvollen Kombination, die Liebe zur Musik mit der professionellen Forschungstätigkeit zu verknüpfen: Neben der so gelungenen, weil präzisen, informationsdichten und kenntnisreichen Darstellungsleistung steckt auch eine Menge Fleißarbeit in diesem Buch. Zahllose Musiktitel wurden erfasst, gesichtet, gehört, sortiert und kategorisiert bevor sich 11.000 davon als für die Forschungsfrage relevant erwiesen. Glücklicherweise lässt der Autor den Leser das nicht spüren. Spannend und unterhaltsam wird erklärt: Fakten- und auch anekdotenreich werden unterschiedliche Themenkomplexe beleuchtet. Vor der Klammer steht immer der Zusammenhang mit Kriminalität, Devianz und Musik. Über Zensur, Musikpiraterie und Urheberrecht wird berichtet. Über die Kriminalisierung von Rave- und Hip-Hop–Kultur. Von Musik als Störschall und von ihren verschiedenen Funktionalisierungen als Folter, als Strafe, als Präventionsinstrument.
Zurück zur Forschungsfrage: Untersucht wird, ob eine Wechselwirkung zwischen einem gesellschaftlichen Diskurs über die strafrechtliche Sanktionspraxis einerseits und der Thematisierung dieser Praxis in der Musik andererseits nachweisbar ist.
Zuvor stimmt der Autor uns ein: Auch musikaffine Leser erinnern bei der Darstellung der Entstehungsgeschichte der Genres Country, Rock, Pop, Blues und Hip-Hop Vergessenes und erfahren Neues.
Wickert analysiert im Sinne eines pars pro toto exemplarisch Songtexte verschiedener Musikrichtungen, deutet und interpretiert sie. Dabei interessiert er sich für sprachliche Besonderheiten, Rhetorik, Syntax, Symbole, narrative Muster, Konnotationen, Soziolekte, Slang und Jargonausdrücke.
Besonders interessant erscheinen dabei sprachliche Elemente, denen eine sogenannte Fährenfunktion zukommt. Der Autor erklärt sie als solche Formulierungen, die auf Vorwissen, Einstellungen oder Normen und Werte anspielen. Insbesondere im Bereich der Rap-Lyrics sind diese aber nicht durch reine Textlektüre identifizier- und interpretierbar. Beim Adressatenkreis von Rap und Gangster–Rap wird ein kollektives Vorwissen vorausgesetzt. Die Hip-Hop Kultur verfügt über ihre spezifischen Symbole, Gesten, Synonyme, Zeichen und Vokabeln. Wer nicht zum adressierten Kreis gehört, soll den Text gar nicht verstehen. Um solche Elemente überhaupt zu erkennen und ihre Bedeutung zu verstehen, muss der Rezipient über dieses Vorwissen verfügen oder es sich aneignen. Hier leistet der Autor Dolmetscherarbeit und dekodiert: Dass zum Beispiel „hole“ für „Gefängnis“ steht- darauf wäre man wohl auch selbst gekommen. Aber dass mit „shank“ eine aus einem Kleiderbügel hergestellte Stichwaffe bezeichnet wird, das muss einem schon erklärt werden. Dankenswerterweise findet sich im Anhang ein Glossar mit der Übersetzung themenspezifischer Jargonausdrücke.
Das alles ist aber eben nicht nur informativ, unterhaltend und so überaus lesbar, wie man es für eine Promotionsarbeit gar nicht zu erwarten hofft. Die Analyse der Songtexte offeriert einen wissenschaftlich wertvollen, weil ungefilterten Zugang zu „Ungehörtem“ oder den Stimmen der „Ungehörten“. Denn „Musik eröffnet die Möglichkeit, vom hegemonialen Diskurs abweichende Diskurspositionen zu vertreten“, wie der Autor schreibt. Und: „Die Lieder offenbaren die ehrlichen und unzensierten Ansichten derer, deren Stimmen im hegemonialen Diskurs nicht gehört werden.“
Nicht gehört wurden.
Ilsabe Horstmann, Hamburg