In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Büchern aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie. Weitere Rezensionen finden sich hier.
Titel: | Strafrecht als Risiko. Festschrift für Cornelius Prittwitz zum 70. Geburtstag | |
HerausgeberInnen: | Beatrice Brunhöber, Christoph Burchard, Klaus Günther, Matthias Jahn, Michael Jasch, Jesús-María Silva Sánchez, Tobias Singelnstein | |
Jahr: | 2023 | |
Verlag: | Nomos | |
ISBN: | 978-3-8487-8549-0 |
Die „Festschrift“ ist eine ehrwürdige und gelegentlich belächelte Institution der deutschsprachigen Rechtswissenschaft, mit der sie ihre besonders verdienten Mitglieder zu ehren pflegt – was insgesamt (erst) gut eintausendmal geschehen sein dürfte. Obwohl Festschriften ebenso wie z.B. die gelben Hefte der Reclam-Universalbibliothek zur Gattung der Bücher gezählt werden, sprechen Insider von diesen meist nicht gerade billigen Objekten (in diesem Fall: € 199) ob ihres Gewichts und Umfangs (hier: 844 Seiten) gerne auch als „Ziegelsteinen“. Soziologisch erklärt sich die Tendenz zur Gewichtigkeit aus der Bedeutung der Anzahl der Gratulanten (hier: 47) als Indikator für den Rang eines Jubilars im Statuslabyrinth der Korporation. Ein gelbes Reclam-Heft als Festschrift wäre also ein Widerspruch in sich. Ziegelstein muss sein.
Die Beiträge zu einer Festschrift bilden ein fuzzy set ohne erkennbare Logik. Das quält Rezensenten. Man kann es sich aber auch bequem machen, einfach los lesen und wie ein Angler am Ufer eines fischreichen Gewässers abwarten, ob und was da wohl anbeißen wird.
In diesem Fall zogen viele potentielle Leckerbissen einfach vorbei. Darunter der Täuschungsbegriff im Betrugsstrafrecht, die Ausbalancierung des Adhäsionsverfahrens, die Virtualisierung der Hauptverhandlung, die elektronische Urkunde als digitale Herausforderung für die Anwaltschaft und, man glaubt es kaum, sogar ein Roboter als Zeuge de facto.
Dann aber schnappte der Ukraine-Krieg zu. Bei Peter-Alexis Albrecht („Wege jenseits von Recht aufgrund seiner globalen Auflösung“; S. 21 ff.) ist unsere Führungsmacht zumindest Abrissunternehmerin rechtlicher Friedenspolitik, wenn nicht Bestatterin der Europäischen Sicherheitsarchitektur (S. 26 f.). Heiner Alwart hingegen argwöhnt (S. 41 ff.), dass die „Begeisterung für universale Menschenrechte und internationales Strafrecht“ seit dem Fall der Mauer die Politik dazu verleitet haben könnte, nicht „rechtzeitig an Abschreckung“ gedacht und nicht „überall die notwendigen Vorkehrungen“ getroffen zu haben. Seit der Zeitenwende müsse man auch die Wissenschaften neu denken. Am Beispiel seiner berühmten „Hypertrophie eines Unikums“ (des sog. Schwarzfahrens) und der NSU-Aufarbeitung ergänzt er den zurechnungstheoretischen Neuanfang von Cornelius Prittwitz und Klaus Günther – also das Zurechnungsdreieck von personaler Verantwortung des Individuums, kollektiver Verantwortung der Gesellschaft und Zuschreibung zur Natur – um ein Kriminalitätsdreieck aus Mikro-, Meso- und Makrokriminalität.
Dass im Krieg das erste Opfer die Wahrheit ist, münzt man im Krieg auf den jeweiligen Gegner. Wenn man nicht in der Lage ist, nach einer alten Faustregel mindestens drei Nachrichtenquellen der eigenen, der anderen und einer neutralen Seite zu nutzen. Jedenfalls schießen in Kriegen Gerüchte und Verschwörungstheorien ins Kraut, und dass Fake News „die Kriegshandlungen unterstützen und rahmen und somit auch eine Rolle beim Ausgang des Konflikts spielen können“, wie Felix Herzog und Georgios Sotiriadis in ihrem Beitrag über die „Strafbarkeit von Desinformation – Corona-Leugnen, Verschwörungstheorien und fake news in der Pandemie“ konstatieren (S. 637 ff.), lässt sich wohl annehmen. Die Skepsis der Autoren gegenüber legislativen Anti-Fake-News-Initiativen wäre wohl noch deutlicher ausgeprägt, hätten sie mit Beatrice Brunhöber (S. 59 ff.) nicht nur den Wert des zu schützenden Rechtsguts, sondern auch denjenigen der dafür eingeschränkten Rechte der Verbotsadressierten etwas stärker in den Blick genommen, galt doch einst und seit den frühen Tagen der Französischen Revolution la libre communication des pensées et des opinions als unverzichtbar und sogar als eines der droits les plus précieux de l’Homme.
Wie die künftige Fake-News-Polizei im Namen der Demokratie dieselbe demontieren wird, zeigt die Empirie der selbsternannten Fakten-Checker (Stichwort Pascal Siggelkow) und vieles andere mehr, was Peter-Alexis Albrecht wohl als weiteren Beleg für seine These vom allgemeinen Niedergang des Rechts auf dem „Weg in die Nekropolis“ (S. 33) ansähe. Das lässt natürlich Nostalgie aufkommen. Denn dem Abbau des Rechtsstaats sich mittels einer kritischen Strafrechtswissenschaft zu widersetzen, dafür war die Gruppe um Wolfgang Naucke, Klaus Lüderssen, Winfried Hassemer und Herbert Jäger so bekannt, dass man von ihr schließlich als „Frankfurter Schule der Strafrechtswissenschaft“ zu sprechen begonnen hatte.
Allerdings konstatiert Lothar Kuhlen (S. 131 ff.), dass das „Frankfurter Strafrecht“ weder eine gemeinsame Theorie noch irgendeine „meinungsmäßige Geschlossenheit“ hatte, sondern sich einzig und allein durch einen besonders intensiven Diskussionszusammenhang auszeichnete, der ungewöhnlich offen war für Anregungen und Problemstellungen, die nicht dem Revier der Strafrechtsdogmatik selbst entstammten: „Diesen Diskussionszusammenhang zu etablieren, war eine große Leistung, und es wird auch einer großen Leistung bedürfen, ihn fortzusetzen. Die Vorstellung von einer Frankfurter Schule scheint mir dabei eher hinderlich zu sein.“
Dass die klassische Strafrechtsdogmatik allerdings durchaus quicklebendig und sogar zu Höchstleistungen fähig ist, beweisen Rolf Dietrich Herzberg (S. 219 ff.) und Urs Kindhäuser (S. 271 ff.) mit ihrer Diskussion der „Raserfälle“, bei denen es darum ging, ob der Unfalltod unbeteiligter Verkehrsteilnehmer aufgrund wilder nächtlicher Autorennen (street races) mit Höchstgeschwindigkeiten von 170 km/h, bei denen die Fahrer 20 Kreuzungen passieren, als fahrlässige Tötung oder Mord zu ahnden sei. – Während die Rechtsprechung für Mord und lebenslange Freiheitsstrafe optierte, war Jubilar Prittwitz in der Zunft mit seinem Insistieren aufgefallen, dass man doch wohl schwerlich „fahrlässig morden“ könne.
Während sich nun in der Festschrift Urs Kindhäuser nach bewundernswert differenzierten Überlegungen zur Vorsatz- und Fahrlässigkeitslogik im Ergebnis auf die Seite von Prittwitz schlägt, plädiert Rolf Dietrich Herzberg nicht weniger scharfsinnig für Ingeborg Puppes Konstrukt der „Vorsatzgefahr“ und die Meinung, dass man auch dann einen Mord begehe, wenn man eine unmittelbare und nicht mehr beherrschbare Gefahrensituation vorsätzlich heraufbeschwöre und dann nur völlig unrealistisch hoffe, dass alles gut gehen werde. Man kann nach dieser Meinung also zum „Mörder“ werden, auch wenn man betet, dass nichts passieren möge. Da eine solche Situation nicht gerade dasselbe sei wie ein absichtlicher Mord, schlägt Herzberg eine Gesetzesänderung mit Strafmilderungsmöglichkeit (in § 16 StGB) vor. Ob das im Frankfurter Dienstags-Seminar auf Zustimmung gestoßen wäre?
Untergründig macht der Strafrechtswissenschaft die Perspektive ihrer Abschaffung zu schaffen. Also der Abolitionismus. Damit meine ich jetzt nicht in erster Linie die Kriminalpolitik, obwohl zum Beispiel der Ex-Frankfurter Lorenz Böllinger nicht nur von der Möglichkeit, sondern auch von der Notwendigkeit einer Komplett-Abschaffung des heutigen Drogenstrafrechts spricht und den Begriff des Abolitionismus sogar in den Titel seiner Abhandlung aufnimmt (S. 755 ff.). Ich meine auch nicht die verbreitete Hoffnung, man könne erst einmal am Rand entrümpeln und sich dann dem Rest zuwenden, wie es u.a. Helmut Pollähne (S. 737) vorschlägt, wenn er die Politik ermutigt, mit der Ersatzfreiheitsstrafe anzufangen und dann „mit deren Abschaffung zugleich einen Einstieg in den Abolitionismus“ zu wagen. Denn prinzipieller Fortschritt erfordert Arbeit am Fundament. Also an der strafenden Vernunft, den Straftheorien und der Zurechnungslehre. Kurz: an den metaphysischen, bzw. scholastischen Resten und Fesseln einschließlich des „reflexiven Equilibriums“ (vgl. Ulfrid Neumann, S. 157 ff.). Der Abolitionismus fragt eben nicht auf der axiomatischen Grundlage einer ratio scripta danach, wie die vorausgesetzte Notwendigkeit der Strafe und des Strafrechts zu begründen seien, sondern danach, ob diese Institutionen der Leidzufügung wirklich geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind in einer Zeit, die sich anderen Werten verschrieben hat als jenen, aus denen das absurd-präkonstitutionelle System der Bekräftigung der Herrlichkeit des Staates durch das Leiden oder die Vernichtung dessen, der sich gegen sie aufgelehnt hat, nun einmal stammt.
Klaus Günther behandelt seit Jahren den Punkt, der bekanntlich Michel Foucault sofort in den Sinn gekommen war, als man ihn zu Louk Hulsmans These von der Verzichtbarkeit des gesamten Kriminalsystems einschließlich seiner Begriffe und Institutionen befragt hatte. Wie später Vincenzo Ruggiero in Penal Abolitionism (2010) soziophilosophisch und Lucas Villa in Hegemonia e Estratégia Abolicionista: O abolicionismo penal como negação da crueldade (2020) rechtsphilosophisch, so hatte Günther bereits 2005 (in „Kritik der Strafe“ und „Schuld und kommunikative Freiheit“) die Herausforderung eines Denkens ohne Geländer bis an die aktuellen Grenzen des strafrechtswissenschaftlichen Binnendiskurses aufgenommen. In „Die Schuld der Anderen“ (S. 111ff.) entmystifiziert Günther die Attraktivität der Strafe als „Erklärung für negativ erlebte Kontingenz“, die zwar die Zurechnung zu einer strafenden Autorität als auch zu demjenigen erlaubt, „welcher das Unrecht zu verantworten und deshalb Strafe zu erleiden hat“ (S. 113), sich aber eben doch nicht mehr als alternativlos darstellen und nur noch auf ihre Abschaffung durch eine neue Aufklärung warten kann. Die freilich scheint dieser Tage tatsächlich hinter einer eclipse of reason verborgen.
Für den Angler neigt sich der Tag dem Ende zu. Während er packt, ziehen weitere Prachtexemplare vorbei, darunter Bernd Schünemann mit seiner Kritik des staatlichen Lockspitzeleinsatzes (S. 305 ff.), Walter Kargl mit der „verhetzenden Beleidigung“ (S. 359 ff.), und während Jochen Bung fragt, wie viel Foucault die Kriminologie heute wohl noch braucht (S. 771 ff.) und Michael Jasch über die Zukunft der Kriminalität der Mächtigen in eben derselben Disziplin nachdenkt (S. 803 ff.), meldet man die Einstellung eines der seltenen akkreditierten und international anerkannten Studiengänge an der Universität Hamburg. Eines Studiengangs, der immer noch viel mehr BewerberInnen angezogen hatte als etwa die Soziologie, die Journalistik oder die Politologie an derselben Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Sein Name: M.A. Internationale Kriminologie.
[…] Brunhöber et al (Hrsg.) Strafrecht als Risiko. Festschrift für Cornelius Prittwitz zum 70. Geburtstag. 2023 Baden-Baden: […]