In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Büchern aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie. Weitere Rezensionen finden sich hier.
Titel: | Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute. | |
Autorin: | Helena Barop | |
Jahr: | 2023 | |
Verlag: | Siedler Verlag | |
ISBN: | 978-3-8275-0172-1 |
So viel sei vorweggesagt: die junge Historikerin weiß Bescheid und erzählt eine komplexe, verästelte und in manchen Details immer noch rätselhafte Geschichte mit kunstvoller Leichtigkeit und einer angenehmen Prise Ironie. Vor die Wahl gestellt, sich entweder bei ihr oder bei der Bundesregierung und ihren Drogenbeauftragten Rat zu holen (vor allem von der Sorte Marie Mortler, die auf die Frage, warum Alkohol legal, Cannabis aber verboten sei, nur zu antworten wusste, „weil Cannabis eine illegale Droge ist“), fiele wohl nicht nur dem Rezensenten die Entscheidung leicht. Auch den gegenwärtig wohl noch sehr jungen Kindern der Autorin würde man wünschen, dass sie sich zu gegebener Zeit an das ihnen auf Seite 285 unterbreitete Angebot ihrer Mutter erinnern: „Wenn ihr mal was über Drogen wissen wollt, fragt einfach eure Mama, ohne Angst und Scham.“
So viel sei vorwegkritisiert: die einst selbständige Stadt Jaffa ist zwar heute ein Teil von Tel Aviv und damit Israels, aber als der auf Seite 65 erwähnte Walter Rößler dort bis zur erfolgreichen Absolvierung seiner Konsularischen Prüfung im Jahre 1908 als Vizekonsul seinen Dienst versah, tat er dies seinerzeit doch nicht „in Israel“ (das bekanntlich erst am 14. Mai 1948 zu existieren begann), sondern im Kaza Jaffa, bzw. Mutesarriflik Jerusalem, und damit im Osmanischen Reich, in das er nach seinem Ausflug zur Shanghai Commission auch wieder zurückkehrte (und sich dort letztlich vergebens gegen den Völkermord an den Armeniern engagierte). Auch werden die einen oder anderen Expertinnen und Experten der deutschen Verwicklungen in die frühe Prohibitionsgeschichte etwa von 1910 bis 1934 an der einen oder anderen Stelle dieses Buches vielleicht die Augenbrauen hochziehen. Aber wie sollte es anders sein bei einem (im besten Sinne) populärwissenschaftlichen Streifzug durch ganze Erdteile und Jahrhunderte?
Das Verdienst des Buches liegt nicht darin, auch noch das letzte Haar zu spalten. Es liegt darin, einem immer noch erheblichen Aufklärungsbedarf entgegenzukommen und ohne Häme und Besserwisserei, aber mit viel Verständnis für die von hundert Jahren verdummender Anti-Drogen-Propaganda natürlich nicht gerade aufgeklärt wirkende Öffentlichkeit und mit spürbarer Freude als kundige Reiseführerin zu wirken – auf einer Erkundungstour, die von Thomas de Quincey und Charles Baudelaire bis zu Sigmund Freud, aber auch von Sertürner, Niemann und Dreser bis zu Hofmann führt. Und sogar die von der Politik so gerne ignorierten Selbstdenker der jüngsten Zeit wie Stephan Quensel und Carl Hart nicht ausspart.
Diese Erkundungsreise von Station zu Station mitzuerleben – die Einflüsse des Rassismus auf die Prohibition von Opium (Seite 34 ff.), aber auch die des Moralunternehmers Charles Brent (Seite 53 ff.), um von Harry Anslinger ganz zu schweigen (Seite 95 ff.), dann die verschiedenen Moralpaniken vom Mafia-Mythos (Seite 107 ff.) bis zu den deutschen Medienmärchen über „Einstiegsdrogen“ und das „Anfixen“ unschuldiger Opfer böser Dealer (Seite 208 ff.) – könnte man sich auch als Arte-Dokumentation in elf Teilen vorstellen. Mit dem beruhigenden Schluss, dass wir heute dank der Risse im drogenpolitischen Abstinenz-Konsens und einiger anderer Ereignisse über das Schlimmste hinweg zu sein scheinen (siehe Portugal seit 2001 und inzwischen auch Lauterbachs Initiative zu einer – inzwischen freilich wiederholt entambitionierten und womöglich sogar deshalb letztlich gar nicht mehr stattfindenden „Cannabis-Legalisierung“).
Ach so, ja, und warum werden Drogen nun eigentlich kriminalisiert? Das kann man sehr kompliziert und soziologisch zu beantworten versuchen. Man kann aber auch Seite 204 bis 207 aufschlagen. Da bekommt man vermittelt über einen der engsten Berater des US-Präsidenten Richard Nixon schon einen ganz guten Eindruck von der politischen Ökonomie der Drogenpolitik.