Regelmäßig wird nach jihadistischen Anschlägen die Frage diskutiert, ob derartige Taten religiös oder politisch zu verstehen seien. So auch wieder nach dem Anschlag im Londoner Stadtteil Woolwich vom 22. Mai 2013, wo zwei Männer einen Soldaten in Zivil mit einem Auto anfuhren und ihn dann mit Messern und einem Fleischerbeil töteten. Einer der Täter, Michael A., hat die Tat unmittelbar danach und noch vor Ort in einem Bekennervideo erläutert. Es ist weithin üblich, für das Verständnis aber wenig hilfreich, derartige Aussagen als ‘wirre Bekenntnisse’ oder ‘fanatische Parolen’ zu disqualifizieren und sie dann entweder zu ignorieren oder – je nach bevorzugter Deutung – selektiv zu zitieren. Tatsächlich handelt es sich in diesem Fall jedoch um eine angesichts der Umstände einigermaßen gefasst vorgetragene Erklärung über Tatgründe und Forderungen. Ihre zusammenhängende Betrachtung illustriert die Verwobenheit politischer und religiöser Aspekte und zeigt die Widersprüchlichkeiten eines Home-Grown-Terroristen.
Die Rede beginnt mit dem Vergeltungsthema: Täglich kämen Muslime durch britische Soldaten ums Leben, und dies sei der einzige Grund, warum ein britischer Soldat getötet worden sei. Es gelte das Prinzip: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Sodann folgen Drohung und politische Forderung: Beim „allmächtigen Gott“ wird geschworen, das „wir“ mit dem Kampf nicht aufhören, bevor „Ihr“ uns nicht in Ruhe lasst. Dieses Thema wird im Schlussteil der Rede näher ausgeführt, wo die Beobachter aufgefordert werden, ihre Regierungen zu beseitigen und sich für den Abzug von Truppen aus muslimischen Ländern einzusetzen. Dann sei ein Leben in Frieden möglich, andernfalls gebe es keine Sicherheit und es würden durchschnittliche Menschen („wie Ihr, und Eure Kinder“) sterben. Bezieht sich A. mit seinem Eröffnungssatz wohl auf den britischen Afghanistaneinsatz, so spricht er später von „unseren Ländern“ und „muslimischen Ländern“ sowie – im Plural – von „Euren Regierungen“ und verweist damit auf die vom Jihadismus gesehene größere Konfliktlinie und Konfliktgeschichte: ‘Der Westen’ oder ‘die Ungläubigen’ gegen ‘die Muslime’ und ‘den Islam’. In Bezug auf Großbritannien dürfte insbesondere auch der Irakkrieg eine bedeutende Rolle in seiner Konfliktwahrnehmung gespielt haben.
Im Mittelteil der Rede wird zunächst der Extremismusvorwurf umgekehrt und dann in aufklärerischer Haltung gegen eine fehlerhafte Realitätswahrnehmung argumentiert. Wenn Menschen in muslimischen Ländern nach dem Gesetz der Scharia leben wollten, so rechtfertige dies nicht, dass man sie verfolge, jage, als Extremisten bezeichne und töte. Im Gegenteil: „Ihr seid extrem“. Dies wird mit dem Thema ‘Kollateralschäden’ unterstützt: Bomben töteten nicht einzelne Menschen, sondern löschten ganze Familien aus – „Das ist die Realität.“
All dies sind gängige Themen des internationalen Jihadismus. Dazu gehören an zentraler Stelle Elemente, die formal nicht wesentlich religionsgebunden sind und so auch in säkularen Konflikten und Terrorismen vorkommen: Schuldzuschreibung an die Gegenseite, Ausführung von Verfehlungen der Gegenseite (bei Ausblendung eigener Taten – militante Islamisten töten regelmäßig Muslime), Rache, Drohung für den Fall der Konfliktfortführung, Zurückweisung und Umkehrung des Extremismus- bzw. Terrorismusvorwurfs, Aufklärungsanspruch. Die subjektive Handlungslogik ist die der Defensive: Es geht um Verteidigung, Vergeltung, Nothilfe.
Dass religiöse Komponenten nur nebensächlich seien, kann daraus allerdings nicht geschlossen werden. Schon die grundlegende Konstruktion der (angeblichen) Konfliktparteien – Muslime gegen Nicht-Muslime bzw. gegen ‘den Westen’ – ist wie auch die territoriale Aufteilung in muslimische und nicht-muslimische Länder religiös gegründet. Dass sich ein Engländer nigerianischer Herkunft berufen fühlte, in London Afghanen zu rächen, und angesichts internationaler Konflikte bis zur Selbstaufgabe gehende Solidaritäts- und Pflichtgefühle entwickelte, erforderte die Idee des Einsatzes für die Umma und für ‘muslimische Territorien’ (in denen islamisches Recht gelten soll), erforderte die religiös begründete ‘borderless loyalty’, auf die Jihadisten stolz sind (und die an religiösen Grenzen ein abruptes Ende findet).
In einer ungewöhnlichen Passage legt A. dann zunächst dar, was für ein freundlicher Mensch er eigentlich sei. „Bei Allah“, so sagt er, „wenn ich heute Eure Mutter mit einem Kinderwagen sehen würde, würde ich ihr die Treppen hinauf helfen. So bin ich.“ („This is my nature.“) Er führt weiter aus, dass er aber aus religiöser Pflicht so habe handeln müssen, wie er es getan hat: „Wir“ seien durch den Koran dazu gezwungen, „sie zu bekämpfen wie sie uns bekämpfen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Die Rechtfertigung der Tat als Akt der Vergeltung reicht A. nicht aus – er sichert sich doppelt ab und entschuldigt sich regelrecht, indem er zusätzlich das Vergeltungsprinzip selbst als vermeintlich zwingende, und im Ergebnis seiner Natur eigentlich widersprechende religiöse Vorschrift legitimiert. Die Lehre von der Pflicht zum (defensiven) Jihad ist für die jihadistische Rekrutierung wichtig. Sie arbeitet nicht nur mit dem Versprechen paradiesischer Belohnungen als Märtyrer, sondern auch mit der Furcht vor der Hölle, die für den Fall drohe, dass dieser Pflicht nicht nachgekommen wird.
Relativ zurückhaltend ausgeführt wird von A. die (für Ideologen des Jihadismus wichtige) Schariathematik. Deren Einführung fordert er noch nicht einmal für muslimische Länder offensiv, sondern sagt dazu nur: Was, wenn („so what if“) wir in muslimischen Ländern danach leben wollen – dies sei kein Grund, „uns” zu verfolgen und zu töten. Dies ist nicht nur einschränkend, sondern – wenn wir annehmen, dass er eine streng islamistische Schariaversion meint – im Grunde auch inkonsistent. Denn in strenger Interpretation ist den gottgegebenen Gesetzen Folge zu leisten, weil sie eben Gottes Gesetze sind – nicht wenn und weil irgendjemand sonst das so will. A. aber bemüht ein demokratisches Argument (‘wir wollen nach dem Gesetz leben, nach dem wir eben leben wollen’), um für ein antidemokratisches System zu werben.
Unklar bleibt dabei auch, wer das „wir“ ist, von dem A. hier spricht. Dem Kontext und dem Anspruch nach will er wohl mindestens für die Muslime in mehrheitlich islamischen Ländern sprechen. Zu behaupten, dass diese alle seine Variante der Scharia befürworteten und außerdem als Extremisten bezeichnet, verfolgt oder getötet werden, ist offensichtlich falsch. Zum Ausdruck kommt hier die für den defensiven Teil des jihadistischen Selbstverständnisses wichtige These vom „Krieg gegen den Islam“ sowie möglicherweise die fantastische Hoffnung auf Zustimmung unter den Muslimen, die der Jihadismus (jedenfalls nach außen – nach innen wird zwischen ‘wahren’ und ‘falschen’ unterschieden) zu vertreten beansprucht.
Möglicherweise ist sein Rekurs auf demokratische Argumente Zeichen einer im Zuge seiner Radikalisierung nicht ganz überwundenen Ambivalenz als Home-Grown-Terrorist, der Großbritannien bekämpfen will und doch demokratisch sozialisierter Brite ist. In diese Richtung deutet auch sein Gebrauch von Personalpronomen in den Schlusspassagen. „Verlasst unsere Länder“, sagt er da, und bezieht sich zugleich auf die britische Armee als „unsere Truppen“. Zieht die Truppen ab, „damit wir“, setzt er an, und korrigiert sich: „damit Ihr alle in Frieden leben könnt.“ Die in Terrorismen üblicherweise scharfe Dichotomie von Wir und Ihr gerät ihm durcheinander.
Auch eine hasserfüllte Abgrenzung von Nicht-Muslimen an sich wird von ihm nicht artikuliert. Er will staatliche Funktionsträger, will Soldaten und Polizisten treffen, hat aber nicht, wie manche andere Jihadisten vor ihm, die Ambition, eine maximale Opferzahl (oder überhaupt Opfer) unter durchschnittlichen Zivilisten zu erzielen. Als er, Messer und Fleischerbeil in der Hand, das Bekennervideo einspricht, läuft eine Frau mit Einkaufs-Trolley direkt an ihm vorbei; sie wird von ihm nur eines kurzen Blickes gewürdigt. In skurriler Szenerie unterhält er sich mit Passantinnen, während er auf die Polizei wartet, um mit dieser den Kampf aufzunehmen.
Gegenüber dem (anwesenden und medialen) Publikum der Tat inszeniert er eine nicht allein fordernde, sondern auch quasi-diskursive und verbrüdernde Haltung. Euren Regierungen seid ihr egal, sagt er – als sei er derjenige, der sich wahrhaft um die Sicherheit der Leute Sorgen mache. Seine Kriegskritik trägt er in rhetorischen Fragen vor. Er erläutert seine religiöse Zwangslage und illustriert seinen Altruismus. Er entschuldigt sich dafür, dass Frauen seine Tat mit ansehen mussten, und weist darauf hin, dass es allerdings „unseren Frauen“ in „unseren Ländern“ genauso ergehe. Er sucht nach Anerkennung nicht nur Gottes und als Held des Jihad, sondern zugleich noch mindestens Verständnis von der Gesellschaft, die er bedroht und deren Soldaten er gerade getötet hat.
Transkript nach ‚The Guardian‘ vom 23.05.13
The only reason we have killed this man today is because Muslims are dying daily by British soldiers, and this British soldier is one, and it’s an eye for an eye and a tooth for a tooth.
By Allah, we swear by the Almighty Allah we will never stop fighting you until you leave us alone. So what if we want to live by the sharia in Muslim lands. Why does that mean you must follow us and chase us and call us extremists and kill us? Rather, you are extreme.You are the ones. When you talk of bombs, do you think it hits one person? Or rather your bomb wipes out a whole family. This is the reality. By Allah, if I saw your mother today with a buggy, I would help her up the stairs. This is my nature. But we are forced by … many many [sections] throughout the Koran that we must fight them as they fight us. An eye for an eye and a tooth for a tooth.
I apologise that women had to see this today but in our lands our women have to see the same. You people will never be safe. Remove your governments. They don’t care about you. Do you think David Cameron is gonna get caught in the street when we start busting our guns? Do you think the politicians are gonna die? No, it’s gonna be the average guy – like you, and your children. So get rid of them. Tell them to bring our troops back so you can all live in peace.
Leave our lands and you will live in peace. That’s all I have to say. (…)
Lieber Michael,
als Du jünger warst, hast Du Vieles besser gemacht, z. B. das mit dem SChreiben.
Frankfurt brennt, und die ehemalige kritische Kriminologie fabuliert unverbindlich über Woolwich…
„Frankfurt brennt“, ja so what? Proteste kommen und gehen. Was hätte denn eine „kritische Kriminologie“ dazu verbindliches sagen sollen? Wer gut und wer böse ist? Sorry, aber das wäre auch nicht die Aufgabe von kritischer Wissenschaft. Das „kritisch“ bezöge sich nämlich nicht nur auf die da Oben, sondern auch auf die da Protestierenden. Kritisch zu hinterfragen wäre etwa die Fokussierung auf das Bankensystem in Theorie und Praxis der Ocupy-Bewegung. Das wäre in den Augen der Ehemaligen dann wohl aber nicht mehr kritisch sondern counter.
Und außerdem: Wieso repräsentiert ein Blog-Eintrag zu Woolwich überhaupt die „ehemalige kritische Kriminologie“? Hier schreibt einfach nur jemand zu einem Thema, zu dem er wohl auch Lohnarbeit verrichtet. Was soll dieser Kommentar also?