Anders Behring Breivik hat ein Video von 12 Minuten und ein Buch von 1500 Seiten Länge verfasst und ins Internet gestellt. Ihm geht es darum, den Islam aus Europa hinauszuwerfen – erst dann könnten Europa und der Islam wieder friedlich koexistieren. Notfalls bedürfe es aber auch eines europäischen Bürgerkriegs, um der Sache des kulturellen Isolationismus zum Siege zu verhelfen. Im Vergleich zu diesem Bürgerkrieg würde sich der Zweite Weltkrieg, so Breivik, wie ein Picknick ausnehmen.
Um seine Botschaft bekannt zu machen, beging Breivik einen spektakulär inszenierten Massenmord und opferte in einem anderen Sinne auch sein eigenes Leben. Auch nahm er in Kauf, dass die Welt ihn hassen und ihn und seine Tat verdammen würde. Das Ziel war jedenfalls erreicht: der Doppelanschlag schuf eine gespannte Aufmerksamkeit für die Motive des Attentäters und machte Person, Video und Buch über Nacht (zwar verhasst, aber eben auch und gerade) auf der ganzen Welt bekannt.
Welche Fragen wirft das Geschehen auf? Zunächst einmal die üblichen: nach dem Wahnsinn („wie kann ein Mensch so etwas tun?“), nach der Moral („zutiefst verachtenswert“), nach der Effektivität der staatlichen Überwachungs-, Ermittlungs- und Verfolgungsapparate („wie konnte das passieren“ und „was muss getan werden, damit so etwas nie wieder passieren kann“).
Es können einen aber auch noch ganz andere Fragen umtreiben – wie zum Beispiel:
(1) Woher stammt der hohe Nachrichtenwert des Ereignisses? (Zahl der Opfer? Geographische Nähe? Ungewöhnlicher politischer Hintergrund? Qualität der Inszenierung?)
(2) Wie verhält sich die moralische Verurteilung der Tat in der Öffentlichkeit zu der Analyse und Bewertung der inhaltlichen Aussagen – der beschreibenden, der bewertenden und der appellativen – von „2083“?
(3) Wie verhält sich der Doppelanschlag zur „Gesellschaft des Spektakels“, zu den Funktionsimperativen der „Kulturindustrie“ und zu den Charakteristika der „Postdemokratie“?
(4) Wie verhält sich „2083“ zu „Deutschland schafft sich ab“ und zu „Die Panikmacher“?
Gerne würde ich die Antworten auf diese Fragen (sowie weitere Fragen) studieren …
P.S.: Die Links zu Video und Buch finden sich auch in der freien kriminologischen Enzyklopädie „Krimpedia“ (unter „Anders Behring Breivik„).
Andreas P. schreibt
Sehr verstörend das Ganze. Die Kommentare dazu waren größtenteils allerdings schon vorher geschrieben (Eagleton, Enzensberger z.B. und natürlich die diversen Philosophen) – die Figuration ist bekannt.
Man könnte übrigens auch noch fragen, ob die in der Soziologie teilweise praktizierte Entwertung von so etwas wie persönlicher Identität nicht auch in diesen Kontext gehört. Denn offenbar geht es hier doch um extreme Identitätsängste.
Zum Aspekt der Kulturindustrie lässt sich sagen, dass die immer wieder konstatierte narzisstische Problemlösungsstrategie gerade durch die alles durchdringende Werbung massig forciert werden dürfte. Aber die Werbung abschaffen zu wollen ist genauso illusorisch, wie etwa das Internet gegenüber der Öffentlichkeit zu sperren, wie ich es in einem Kommentar gelesen habe.
Das Problem mit dem Narzissmus ist, dass er im Hinblick auf psychisch wirksame Verletzungen zwar kurzfristig stabilisierend wirkt, zugleich aber die Vulnerabilität gegenüber solchen Erfahrungen erhöht. Die narzisstischen Bedürfnisse steigen so ins Unermessliche. Man könnte natürlich Kopernikus die Schuld geben, aber so viel weiter bringt uns das auch nicht.
Psychiatrisierung hilft wohl nicht unbedingt weiter, ist vielleicht auch Teil des Problems. Dagegen hatte sich im Deutschlandradio übrigens auch Götz Ali ausgesprochen.
Grace schreibt
Bin gerade auf den Artikel von Micheal Kimmel hier getoßen:
http://thesocietypages.org/socimages/2011/07/27/a-tale-of-two-terrorists-redux/
Vielleicht etwas zu deinen Fragen 2 und 3.
Grace schreibt
Mehr zum Themamediereaktion
http://www.guardian.co.uk/media/audio/2011/jul/29/media-talk-podcast-norway-attacks
http://www.guardian.co.uk/commentisfree/cifamerica/2011/jul/28/fox-news-norway
Andreas Prokop schreibt
Aus der Fülle der Wortmeldungen hier ein Gespräch mit Manfred Schneider, dem Autor des Buchs „Das Attentat: Kritik der paranoischen Vernunft“:
http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2011/07/28/drk_20110728_1931_53eaff1d.mp3
Schneider problematisiert unter anderem Vaterlosigkeit und Feminisierung der Gesellschaft. Er meint, Breiviks Manifest sei in der Ausarbeitung wohl besser als die jüngst in die Kritik geratenen Politikerdissertationen und könne auch als Vorlesungsmanuskript eines konservativen amerikanischen Professors durchgehen. Paranoische Vernunft sieht er nicht nur beim Attentäter, sondern auch bei Geheimdiensten und Politikern (Internetkontrolle, Vorratsdatenspeicherung, …) Da Breivik aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft käme, müsste man nach der gängigen Logik diese selbst abschaffen, um Ähnliches zu verhindern.
Andreas Prokop schreibt
Ein paar Gedanken zu Sebastians Frage 2, wie ich sie verstanden habe. Sie lautet:
(2) Wie verhält sich die moralische Verurteilung der Tat in der Öffentlichkeit zu der Analyse und Bewertung der inhaltlichen Aussagen – der beschreibenden, der bewertenden und der appellativen – von “2083??
Ich möchte hier den ethischen Aspekt herausgreifen. Winfried Hassemer sagte (nach meiner Erinnerung) in einer Diskussionsrunde am Mittwoch (http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2011/07/27/dlf_20110727_1915_a9fd2434.mp3), dass die Tat qasi nicht nachträglich Sinn bekommen darf, indem sie positive Wirkungen im Sinne einer Auseinandersetzung mit den in Breiviks Manifest aufgeworfenen Problemen entfaltet. Das wäre eben die Frage, die sich hier stellt. Man kommt ja nicht um das Mephistophelische Prinzip herum, dass in der Weltgeschichte immer wieder extreme Katastrophen (von den Erdvereisungen, Meteoriteneinschlägen bis hin zum zweiten Weltkrieg) enorme Entwicklungsschübe nach sich zogen. Denkt Hassemer hier vielleicht zu sehr als Jurist und hat er durch seine Diskussionsteilnahme nicht schon etwas anderes ausgedrückt?
Eagleton beispielsweise meint in seinem Buch über „Das Böse“, dass ohne Judas das Christentum als Weltreligion wohl nicht denkbar wäre. Die Versuche, das „Gute“ und das „Böse“ aufzuspalten (z.B. in neuerer Lesart („Resilienzfaktoren“ vs. „Risokofaktoren“) sind problematisch und haben wohl auch die Denkwelt von Breivik geprägt.