Sie nennen sich lifting-cutie, littlemisskittenlifter, xo-prettylifter, shoplifting-seagull oder princessklepto. Sie sind weiblich, zumeist im Teenager-Alter, stammen überwiegend aus den USA aber auch aus Kanada und England und sie bezeichnen sich selbst als Lifter – Ladendiebe. Auf ihren Tumblr-Blogs brüsten sie sich mit ihren erfolgreichen Diebestouren. Sie präsentieren die Beute ihrer Diebestouren auf Fotos, teilen Hinweise wie Sicherheitsetiketten zu entfernen sind ebenso wie ihre generellen Erfahrungen und Tipps für erfolgreiche Diebestouren, informieren, wo Magneten und ‚Krallen‘ zum Entfernen der Diebstahlsicherungen im Internet zu beziehen sind, in welchen Ladenketten die Sicherheitsvorkehrungen besonders hoch oder niedrig sind und woran Ladendetektive zu erkennen sind. Ihre Postings sind mit den Hashtags #lift, #haul, #shoplift, #retail redistribution, #steal, #five finger discount oder #sticky fingers gekennzeichnet.
Einige Mitglieder der Lifter Community versehen ihre Profile mit dem Hinweis, dass es sich bei den vermeintlichen Selbstoffenbarungen ihres kriminellen Handelns selbstverständlich nur um ein Rollenspiel handeln würde. Diese doch sehr fadenscheinig anmutenden Rechtfertigungen werden jedoch durch die obligatorische Angabe des Warenwertes, der im Laufe der ‚Lifter-Karrieren‘ erbeutet wurde, konterkariert. Die Mitglieder der virtuellen Gemeinschaft sprechen hier von ‚Ersparnis‘ (money saved). Der Wert der erbeuteten Ware ist Indikator für die Anerkennung, die einem Mitglied zuteil kommt,ebenso wie die Wahl der Ziele für die Diebestouren. Läden, die bekanntermaßen über ein engmaschiges System der Diebstahlsicherung verfügen (wie z.B. Apple Stores), versprechen zahlreiche anerkennende Kommentare der übrigen Nutzer.
Während einige Lifter angeben, die erbeutete Ware auf Ebay weiterzuverkaufen und so ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, wird anhand der auf Tumblr geposteten Bilder deutlich, dass die Mehrzahl der Ladendiebe sich ihre ‚Mädchenträume‘ erfüllen, die außerhalb des üblichen Finanzrahmens von Teenagern liegen. Kosmetikprodukte, Designerklamotten, Dessous, Süßigkeiten und vereinzelt Sexspielzeug liegen hoch im Kurs der Community-Mitglieder.
Der Präsentation der gestohlenen Waren auf Bildern kommt ein hoher Stellenwert zu. Erst die Bilder belegen den ‚Erfolg‘ der Mitglieder. Wie die oben gezeigten Bilder veranschaulichen, wird das Diebesgut sorgsam arrangiert. Mitglieder lassen sich teilweise über die ’schwierigen Lichtverhältnisse‘ in ihren Zimmern aus, die es ihnen unmöglich machten, ansprechende Photos zu produzieren. Je umfangreicher die Sammlung an Diebesgut und je besser das Bild, desto wahrscheinlicher, dass der Beitrag auf Tumblr vielfach kommentiert und geteilt wird. Die von Jack Katz in seiner Phänomenologie krimineller Erfahrungen, Seductions of Crime, getroffene Charakterisierung des Ladendiebstahls scheint im Hinblick auf die Tumblr-Gemeinschaft nur noch bedingt Gültigkeit zu haben. Katz schreibt (1988: 52):
Youthful shoplifting, especially by older youths, often is a solitary activity retained as a private activity.
Im Gegensatz zum ‚Sneaky Thrill‘ – bei Katz charakterisiert durch die im Verborgenen stattfindende und eine prickelnde Erregung versprechende Grenzüberschreitung – wird das zur Schau stellen des Shopliftings auf Tumblr durch den kommunikativen Austausch und die Präsentation des Diebesgut zum gemeinschaftlichen Erlebnis. Die Verstohlenheit des Ladendiebstahls steht im Kontrast zur angeberischen Zurschaustellung des kriminellen Erfolges. Diese Bedeutungsverschiebung von der Heimlichkeit zum expressionistischen ‚Thrill Seeking‘
‚Bling Ring‘ als popkulturelles Vorbild
Die Webseite Jezebel berichtete bereits 2014 über die Aktivitäten der Gemeinschaft der ‚Lifter‘ auf Tumblr. Anlass des Berichts war eine Auflistung der einschlägigen Profilseiten auf Tumblr unter der Bezeichnung „Tumblr’s Bling Ring“. Die Liste ist mittlerweile nicht mehr online zu finden und viele ursprünglich hier aufgelisteten Profilseiten sind seither verschwunden. Andere Nutzer hingegen beschweren sich, weshalb sie in dem Pressebericht nicht erwähnt würden, seien sie doch respektierte und bekannte Mitglieder der Gemeinschaft.
Die Bezeichnung „Tumblr’s Bling Ring“ ist aufschlussreich, da sie auf ein mögliches popkulturelles Vorbild der auf Tumblr vereinten Ladendiebe verweist. Als the „Bling Ring“ wurde eine Gruppe jugendlicher Täter bezeichnet, die zwischen Oktober 2008 und April 2009 in die Villen zahlreicher Hollywood-Stars und -Sternchen wie etwas Paris Hilton und Linsay Lohan einbrach und neben Schmuck und Bargeld auch Kleidung und Modeaccessoires im Wert von insgesamt über drei Millionen Dollar entwendete. Das Treiben der überwiegend aus guten Elternhäusern stammenden Einbrecher wurde zunächst durch den Presseartikel „The Suspects Wore Louboutins“ und später durch den auf den Presseartikel basierenden Film „The Bling Ring (2013)“ von Sofia Coppola einem größeren Publikum bekannt. Andere Medien haben die Geschichte seither mehrfach aufgegriffen.
Trailer von „The Bling Ring (2013)“
https://www.youtube.com/watch?v=Y2dJLd1cIbc
Zwischen den Tumblr-Nutzern und den Mitgliedern des sog. „Bling Ring“ ergeben sich klare Parallelen. In beiden Fällen scheinen weniger existentielle Nöte Antrieb des kriminellen Verhaltens zu sein, sondern vielmehr die Erfüllung eines hedonistischen Lebensstils. Nicht der Besitz einer beliebigen Ware steht hier im Mittelpunkt, sondern der Erwerb der einen bestimmten Kommodität (auch gerne in x-facher Ausführung), die die Zugehörigkeit und Verbundenheit zu einem Lebensstil verspricht. Der Besitz und das Tragen von Designer-Kleidung verspricht eine soziale Nähe zu den Stars und Sternchen zu schaffen, die die Produkte in den Hochglanz-Magazinen präsentieren. In dem Polizeibericht zur Motivation der als Haupttäterin identifizierten ‚Anführerin‘ des Bling Ring heißt es:
[…] that Rachel Lee—a Korean-American girl from Calabasas, a wealthy suburb in the Valley—was “the driving force of the burglary crew and that her motivation was based on her desire to own the designer wardrobes of the Hollywood celebrities she admired.
Auch die als „The Bling Ring“ bezeichnete Tätergruppe gab gegenüber der Polizei zu Protokoll, dass sie ihre Diebestouren als “going shopping” bezeichnet hätten.
Die Lifter Community als kriminelle Subkultur
Die Lifter-Community weist Merkmale einer (kriminellen) Subkultur auf. Bei der Gemeinschaft handelt es sich um eine mehr oder weniger geschlossene Gruppe, die sich durch gruppenspezifische Sprache und Verhalten sowie Wertvorstellungen, die in Opposition zu den Regeln der Mehrheitsgesellschaft stehen, auszeichnet.
Die Beiträge der Mitglieder weisen sich durch durch zahlreiche Abkürzungen aus, die den übrigen Mitgliedern bekannt sind. So steht beispielsweise das Kürzel ‚SA‘ steht für Shop Assistents, ‚VS‘ für die Dessous-Marke Victoria’s Secret und ‚LP‘ für Loss Prevention (Ladendetektive).
Wie bereits eingangs erwähnt, zeichnet sich Gruppierung durch einen ausgesprochen hohen Frauenanteil aus – dies ist für kriminelle Vereinigungen durchaus ungewöhnlich, wenngleich der hohe Anteil weiblicher Täter bei Ladendiebstahlsdelikten bekannt ist.1)
Die gruppenspezifische Regeln der Lifter Comunity werden als Gebote (‚Commandments‘) dutzendfach geteilt. Es existieren mindestens zwei Versionen von sechs bzw. zehn Geboten der Gemeinschaft der Ladendiebe – wobei die inhaltliche Abweichungen und Überschneidungen interessant sind. Die erste und ältere Version lautet:
1. thou shalt not judge other’s hauls or techniques.
2. thou shalt not be a snitch.
3. thou shalt support fellow lifter’s endeavors and answer questions when possible.
4. thou shalt not steal from small businesses.
5. thou shalt not get caught.
6. thou shalt be a bad bitch.
Vier der sechs Verhaltensregeln (1. bis 3. und 6.) beziehen sich klar auf das Miteinander der Gemeinschaftsmitglieder wie etwa das Gebot, andere Diebe nicht zu verraten oder andere Mitglieder in ihren Unternehmungen zu unterstützen.
Eine zweite und aktuellere Version der Verhaltensanweisungen mit zehn Regeln wird in Form einer Grafik geteilt:
Hierbei bezieht sich lediglich das zweite Gebot („Support other lifters“) auf das Miteinander der Gemeinschaftsmitglieder. Acht der zehn Regeln beziehen sich indes auf Verhaltensregeln, die ein unentdecktes, erfolgreiches Handeln der Ladendiebe versprechen. Diese inhaltliche Verschiebung der Verhaltensregeln von einem Gemeinschaftsgedanken hin zu einem größeren Maß an Individualismus mag als eine Veränderung der Subkultur über die Zeit verstanden werden, die durch neue, jüngere Mitglieder in der Gemeinschaft der Ladendiebe herbeigeführt wird. Die 20jährige Olivia – offensichtlich ein langjähriges Mitglied der Gemeinschaft – beschwert sich bei einem anderen Mitglied über den Wandel der Gemeinschaft:
Jaz!! I had no idea you still lurked around the community, I miss you and a lot of the other older lifters. 🙁 It’s just too toxic now. There’s too much pointless drama in the community and too many people, mostly young teenage girls, who have no idea what they’re doing and are treating it as more of a trend than anything. I hope you’re doing okay <3
Ebenso interessant wie die inhaltliche Unterschiede in den Verhaltensregeln, sind die Gemeinsamkeiten. Die Gebote „Don’t get caught“ und „Don’t steal from small businesses“ sind die einzigen Appelle, die sich in beiden Fassungen der Verhaltensregeln wiederfinden. Während die erstgenannte Aufforderung ’sich nicht erwischen zu lassen‘ selbsterklärend ist, bedarf die zweite Anweisung, nicht von kleineren Ladengeschäften zu klauen, durchaus einer Erläuterung. Hierunter steckt eine Kapitalismuskritik, die als Rechtfertigung des kriminellen Handelns angeführt wird. Die Entwendung von Waren von großen international agierenden Konzernen – so die Logik – sei durch Versicherungen gedeckt und schade wenn überhaupt den multimillionen-Dollar-schweren Konzernen.
Eine weitere Grafik, die vielfach auf Tumblr geteilt wird, treibt diese Logik noch weiter. Hiernach ist der durch Ladendiebstahl entstehende Schaden nicht nur durch große Konzerne zu schultern, sondern der Diebstahl selbst wird zu einem politischen Statement verklärt: „We’re here. We’re queer and we’re going shoplifting. Smash capitalism.“
Dass diese ‚Kapitalismuskritik‘ in einem nicht aufzulösenden Widerspruch zu dem augenscheinlich konsumorientierten Lebensstil vieler Mitglieder der ‚Lifter-Community‘ steht, wird nur selten thematisiert.
Ladendiebstahl als Form des kulturellen Widerstandes?
Aus Sicht der Cultural Criminology lässt sich der Widerspruch teilweise auflösen. Die Wirtschaft/ der Markt wird heimgesucht von den Geistern, die er rief. Der spätmoderne Kapitalismus verführt und formt den Menschen zum Konsumenten. Hier ist Geiz ‚geil‘ und die Null-Prozent-Finanzierung und der kostenlose Sofort-Kredit, die allabendlich in der Fernsehwerbung angepriesen werden, propagieren den zügellosen Konsum. Nicht zu konsumieren, ist hier keine Option; denn nur wer konsumiert, ist. Nur wer hat, wird inkludiert und darf am Sozialen teilhaben. Wer mittellos ist und sich dieser Logik verweigert, wird exkludiert – aus den innerstädtischen Einkaufspassagen ebenso wie aus dem sozialen Gefüge. Aber wenn Geiz ‚geil‘ ist, dann ist nur Klauen noch ‚geiler‘. Ferrell et al. schreiben:
For us that issue is clear: unchecked global capitalism must be confronted as the deep dynamic from which spring many of the ugliest examples of contemporary criminality. Tracing a particularly expansionist trajectory these days, late modern capitalism continues to contaminate one community after another, shaping social life into a series of predatory encounters and saturating everyday existence with criminogenic expectations of material convenience. All along this global trajectory, collectivities are converted into markets, people into consumers, and experiences and emotions into products. So steady is this seepage of capitalism into social life, so pervasive are its crimes – both corporate and interpersonal – that they now seem to pervade most every situation. (2015: 15)
Dennoch sollte man sich davor hüten, Ladendiebstahl per se als eine Form des widerständigen Verhaltens anzusehen. Nicht jeder geklaute Kajalstift ist der Beginn des revolutionären Aufstands gegen den globalen Kapitalismus. Hayward lässt sich in einem kürzlich veröffentlichten Artikel zum inflationären Gebrauch des Wortes ‚Widerstand‘ in der Cultural Criminology aus. Er schreibt:
Hayward and Schuilenburg argue that much of what passes for ‘resistance’ in criminology today should actually be reclassified under the alternative heading ‘attempted resistance’—a ‘reactive gesture’ something akin to what Nietzsche (1887/2007) identified in On the Genealogy of Morality as ‘a reaction to the behaviour of the masters’. Looking to distinguish political resistance from cultural or personal reinvention, they propose that we think about resistance as a three-stage process. Stage 1 describes inventive forms of resistance that emerge from the creative sphere and the ever-expanding culture industries. This includes anti-authoritarian music/film and so on, and various forms of rebellious posturing (the countercultural rebel, the anti-hero, etc.) designed specifically to provoke reaction or (increasingly) stimulate demand. Stage 2 describes the process of imitation by which Stage 1 is adopted by the public and the marketing/advertising industries, and then developed into the default position of a post-political late modern consumer society. (Importantly, this is not simple ‘co-optation’, but a heightened symmetry between resistance creator and resistance imitator (Heath and Potter, 2006).) At this stage, ‘resistance’ becomes routine, even commonplace, developed into something akin to the habits of everyday life. (2015: 14)
Im Falle der Lifting Community wäre demnach wohl eher von einem ‚versuchten Widerstand‘ oder einer „‘hedonism-as-revolutionary’ sensibility“(vgl. Hayward, 2015: 15) zu sprechen.
Unabhängig dieser definitorischen Grenzziehungen kann die Lifter-Community als Beleg für Youngs These angesehen werden, dass das Auftreten devianter Subkulturen ein Beleg für ‘the structural problems facing individuals in their section of society’ (2004: 554) seien. Obwohl es sich keineswegs um die einzige deviante Gemeinschaft handelt, die ihr illegales Treiben in sozialen Netzwerken offenbart, ergibt sich hier doch die seltene Gelegenheit eine – vornehmlich aus weiblichen Mitgliedern zusammengesetzte – kriminelle Subkultur zu studieren.
Literatur
- Bundeskriminalamt (Hg.) (2015) Polizeiliche Kriminalstatistik. Bundesrepublik Deutschland. Jahrbuch 2014. 62. Ausgabe. Wiesbaden
- Ferrell, Jeff; Hayward, Keith; Young, Jock (2015) Cultural Criminology. An Invitation (2. Auflage). Sage.
- Hayward, Keith (2015) Cultural criminology: Script rewrites. Theoretical Criminology.
- Katz, Jack (1988) Seductions of Crime. Moral and Sensual Attractions in Doing Evil. Basic Books.
- Young, J. (2004b) ‘Crime and the Dialectics of Inclusion/Exclusion: Some Comments on Yar and Penna’, British Journal of Criminology 44: 550–61.
Laut PKS 2014 (PDF) beträgt der Anteil der Frauen unter allen erfassten Tatverdächtigen ca. ein Viertel (25,7%). Im Berichtsjahr wurden 394.826 Fälle von „Diebstahl ohne erschwerende Umstände“ erfasst. Nur ein Drittel (32,7%) dieser Taten entfallen auf weibliche Tatverdächtige (vgl. 6.2 – T01). Schaut man sich allerdings die Deliktsverteilung gesondert nach Geschlecht an, so kann man feststellen, dass – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – Ladendiebstahl ein typisch ‚weibliches Delikt‘ ist: 48,1% aller weiblicher Tatverdächtiger unter 14 Jahren werden des Diebstahl ohne erschwerende Umstände verdächtigt. Hingegen beträgt der Anteil unter den männlichen Tatverdächtigen unter 14 Jahren 33,6%. In der Altersgruppe der Heranwachsenden (14-18 Jahre) beträgt der Anteil 39,1% in Bezug auf die weiblichen und 24,5% in Bezug auf die männlichen Tatverdächtigen. (vgl. 6.2 – T04 ↩
sebastian scheerer schreibt
Das ist ja spannend. Nicht nur, dass mir der Bling Ring bisher entgangen war; mehr noch der erstaunliche „social turn“ von der heimlich-einsamen Aktivität der sneaky thrills zum medial vermittelten Gesellschaftsspiel. Das ist wirklich faszinierend und zeigt das außerordentliche Potential, das immer noch in cultural and visual criminology schlummert. Bin begeistert!
Christian Wickert schreibt
Hier ein weiterer lesenswerter Beitrag zum Thema: We R Cute Shoplifters. Inside the hidden teenage world of Tumblr’s pro-Bernie, anti-capitalist Bling Ring (The Daily Good, 01.06.2016)