In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Bücher aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
Weitere Rezensionen finden sich hier.
Titel: | Gewalt im Frieden. Formen und Ursachen der Gewaltkriminalität in Zentralamerika | |
Autor: | Heidrun Zinecker | |
Jahr: | 2014 | |
Reihe: | Studien zu Lateinamerika | 24 | |
Verlag: | Nomos Verlagsgesellschaft | |
ISBN: | 978-3-8487-0376-0 (Print); 978-3-8452-4685-7 (ePDF) |
Mittelamerika ist seit einigen Jahren Schauplatz massiver Gewaltkriminalität. Und das mitten im Frieden, wie man so sagt. Doch was heißt Frieden, wenn die Omnipräsenz der Gewalt wie in Kriegsgebieten jeden Aspekt der sozialen und staatlichen Existenz betrifft, vom Familienleben über die Berufswelt bis hin zum Regieren und Verwalten? Zahlen bieten keine Gewähr für Richtigkeit und schon gar nicht für Anschaulichkeit, aber sie können doch (zumindest dann, wenn sie wie die Zahlen des United Nations Office on Drugs and Crime auf einer inzwischen doch recht soliden Basis stehen), etwas von der Dimension ahnen lassen, mit der die Menschen es in dieser Weltgegend zu tun haben: während in Europa jedes Jahr rund 3 von jeweils 100 000 Einwohnern durch vorsätzliche Tötungsdelikte ums Leben kommen und während die Homizidrate im globalen Durchschnitt bei 6 liegt, erreicht sie in Guatemala, El Salvador und Belize zwischen 39 und 45 und in Honduras als Land mit der weltweit höchsten Mordrate einen Wert von über 90. Dazwischen liegt nur noch Venezuela mit rund 50 Homizid-Opfern pro Jahr und 100 000 Einwohner, so dass nicht weniger als vier der fünf Länder mit den höchsten Mordraten der Welt in Mittelamerika zu finden sind.
Interessanterweise sind aber nicht alle mittelamerikanischen Staaten gleichermaßen von der Welle der Gewalt betroffen. Erklärungsbedürftige Ausnahmen in einem insgesamt erklärungsbedürftigen Kontext sind Costa Rica (8,5) und Nicaragua (11,3). Da sich Costa Rica aber als die sprichwörtliche „Schweiz Lateinamerikas“ sowie in vielerlei Hinsicht von seinen armen Nachbarn unterscheidet, bleibt vor allem das ebenfalls arme und aufgrund verschiedener Indikatoren durchaus als gewaltanfällig zu klassifizierende, de facto aber eher relativ gewaltarme Nicaragua als ein merkwürdiger Ausnahmefall bestehen, den es zu begreifen gilt. Und genau dies ist die Absicht – und die Leistung – dieses Werkes: sowohl das exorbitant hohe Gewaltniveau dieser Region als auch die relative Immunität eines einzelnen Landes innerhalb dieser Region, also das „Rätsel Nicaragua“, zu erklären.
Zum Glück für die Kriminologie hatte Heidrun Zinecker dabei mit einer besonderen Schwierigkeit zu kämpfen, die sich aus dem ergab, was man die doppelte disziplinäre Randlage des von ihr untersuchten Phänomens im wissenschaftlichen Diskurs nennen könnte.
Denn ein Phänomen wie die massive Gewaltkriminalität der in Mittelamerika zu beobachtenden Art stellt sowohl die Instrumente der Politikwissenschaft wie auch die der Kriminologie vor erhebliche Probleme:
- Politikwissenschaftler identifizieren sich (evtl. unbewußt) nur allzu gerne mit der Perspektive der „von oben“ auf die Gesellschaft hinabblickenden Akteure, die sie eigentlich analysieren sollten. Dieser kataskopische Blick (Louk Hulsman), bzw. die Selektivität, die sich aus dem „seeing like a state“ (James C. Scott) ergibt, lässt die Disziplin eher unsensibel werden für „normale“ Tötungsdelikte in der allgemeinen Bevölkerung, und seien diese auch noch so massenhaft und lebensweltlich ebenso wie langfristig strukturell folgenreich.
- Die Kriminologie hat ihren blinden Fleck im Makrobereich des Verbrechens. Auch ihr ist zwar die Sicht von unten, der Hulsman’sche anaskopische Blick, nicht vertraut, aber da sie nach Ursprung und Kerngeschäft von ihrer Nützlichkeit für die Arbeit der Instanzen sozialer Kontrolle zu leben pflegt, ist ihr Horizont auf das beschränkt, was einen Richter, Staatsanwalt oder Rechtsanwalt interessieren kann, wenn es um die Erklärung individueller Tötungsdelikte geht. Diese Selbstbornierung auf das, was man in Anlehnung an Scott als „seeing like a court“ bezeichnen könnte, bedeutet, dass fast alle theoretische Anstrengung in der Kriminologie auf die Mikroebene der Erklärung gerichtet ist, also auf die Frage, wie und warum Individuum A kriminell/kriminalisiert wurde, Individuum B aber nicht. So kann man individuelle Taten und Zuschreibungen, kriminelle Karrieren usw. nachzeichnen und erklären, gelangt in der Kriminologie aber nur in Randbereichen mal bis zu Fragen unterschiedlicher Kriminalitätsraten und schon gar nicht bis zur Erklärung divergierender Mordraten in verschiedenen globalen Regionen. Alles, was nach größeren Zusammenhängen fragt, hat es in der Kriminologie schwer. Erklärungsversuche unterschiedlich hoher Kriminalitätsraten in verschiedenen Teilen der Welt gehören nicht gerade zu ihrem täglichen Geschäft.
Aus der Not eine Tugend machend greift die Autorin deshalb selbst in verschiedene Werkzeugkästen und erstellt im wesentlichen wohl auf dem Wege der end-to-end-integration ein prinzipiell wohl durchaus funktionstüchtiges Theoriegebäude. Zunächst wird erklärt, wie eine bestimmte Art des Wirtschaftens und Regierens Spannungs- und Druckpotentiale im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Gewaltanfälligkeit entstehen lässt. Je weniger integriert eine Wirtschaft und je höher die Ungleichheit innerhalb abgrenzbarer Bevölkerungsgruppen (Einkommensquintile) – und dabei spielt in Mittelamerika die ökonomische Abhängigkeit von Rück-Überweisungen in die Heimat durch im Ausland berufstätige Angehörige (sog. remittances) ebenso eine Rolle wie die von den seitens der USA aus Lohnkostengründen nach Süden ausgelagerten Montagebetrieben, den sog. maquilas – desto größer die Gewaltanfälligkeit einer Gesellschaft; verstärkt wird diese Anfälligkeit durch exkludierende politische Institutionen und mangelnde Rechtsstaatlichkeit, wie sie für die hybriden Regime der Region kennzeichnend sind. Man kann sich vorstellen, dass die Merton’sche Anomietheorie und insbesondere ihre Weiterentwicklungen durch die General Strain Theory (Agnew) und die Institutional Anomie Theory (Messner & Rosenfeld) hier nicht nur anschlussfähig sind, sondern auch eine wichtige Funktion als Transmissionsriemen zwischen Struktur und Handlung erfüllen.
Allerdings ist Zineckers Theoriegebäude kein Haus, das zur Gänze aus Fertig-Bauteilen besteht, und wie beim richtigen Bauvorhaben gibt es sicherlich Zeiten und Punkte, an denen man sich die Haare rauft und nicht mehr an ein gutes Ende glauben mag. Ich muss gestehen, dass ich beim Lesen immer mal wieder ziemlich aus der Puste kam. Ob daran der manche sicherlich an Karl-Dieter Opp erinnernde Stil der Hypothesenformulierung oder aber die Komplexität der Sache selbst schuld war, ich weiß es nicht. Denn natürlich darf die Kontrollseite und dürfen die Kontrolltheorien der Kriminalität nicht übersehen werden: je nachdem, wie die Kontrolle durch soziale, staatliche und parastaatliche Akteure organisiert ist, kann sie ja staatliche Gewaltkriminalität darstellen oder auch zivilgesellschaftliche Gewalt (Vigilantismus, Lnychjustiz etc.), die ihrerseits wiederum mit Teilen des Staates kooperieren mag, begünstigen.
Um die Komplexität in den Griff zu bekommen, beschränkt die Autorin jedenfalls ihre Erklärung auf nicht-staatliche Gewalt und innerhalb dieses immer noch sehr vielgestaltigen Phänomens auf die Bandenkriminalität der Maras (täterzentriert), die Lynchjustiz (formenzentriert) und den Femizid (opferzentriert), also auf die drei am besten dokumentierten Formen (227).
Zugleich ordnet sie die staatliche Gewaltkriminalität nicht dem Explanandum, sondern dem Explanans zu. Das ist eine originelle und nachvollziehbare Vorgehensweise, die allerdings auf die Schwierigkeit treffen muss, dass repressive Verbrechen (Henner Hess) meist gar nicht von den Interessenten und Auftraggebern selbst, sondern oft von manipulierten Angehörigen marginaler Schichten ausgeführt werden. Hier sind noch viele Einzelheiten zu klären und eine gründlichere Ausschöpfung des kriminologischen Potentials wäre hier sicher möglich und wünschenswert gewesen.
Denn beim Bauvorhaben einer Theorie massiver Gewalt dieser Größenordnung bringen allgemeine kriminologische Werke von Hans-Dieter Schwind, Günther Kaiser oder Hans Göppinger, die für Zinecker offenbar Gewährsleute darstellen, sicherlich noch weniger als die immerhin schon etwas themennähere (wenngleich hier doch nur recht oberflächlich rezipierte) Anomie-Tradition, während von der Autorin ignorierte Werke wie die von Herbert Jäger zur Makrokriminalität oder von David Garland zu den High Crime Societies wohl besser hätten weiterhelfen können.
Das Theoriegebäude hat also seine Lücken und Macken: es wird viel altes Baumaterial verwendet und gute neue Produkte werden übersehen, doch wollen wir uns nicht im Meckern verlieren. Sehr interessant finde ich die Unterscheidung zwischen Gewaltanfälligkeit und Gewaltwirklichkeit und damit die Denk-Möglichkeit, auch das Ausbleiben von Gewalt in einer an sich sehr gewaltanfälligen Gesellschaft erklären zu können.
Im Gegensatz zu der zwar ehrenwert motivierten (533), aber doch kaum überzeugenden Eskamotierung der Drogenfrage aus der Erklärung der Gewaltproblematik erscheint mir jedenfalls die vorgeschlagene Lösung für das „Rätsel Nicaragua“ auf den Seiten 458 ff. und 506 ff. durchaus überzeugend. Und das war ja das Hauptanliegen der Arbeit. Aber die Auflösung verrate ich hier noch nicht. Ein bisschen Spannung für die theory nerds. Für die zumindest ist „Gewalt im Frieden“ ein wahrer Leckerbissen, an dem sie lange ihre Freude haben werden.