In der Zeit vom 12.9. hat der Autor Yascha Mounk in einem Artikel mit dem Titel „Was hilft gegen den Hass? Eine härtere Justiz“ einige interessante Thesen und Argumente aufgestellt, allerdings auch Fragen und Irritationen, so dass es einer Gegenrede bedarf. Dieser Artikel erschien in der Zeitung unter der dort neuen Rubrik „Streit“ und man konnte online mit dem Autor darüber diskutieren. Ich konnte zunächst nicht auf den Artikel online zugreifen, da dafür eine Registrierung nötig war, habe aber inzwischen sehen können, dass es auch dort einiges an Kritik an dem Artikel uns seinen Argumenten gab. Antworten vom Autor gab es dort nur zwei Mal, die allerdings eher schwach waren. Angesichts der von Yascha Mounk vorgebrachten Argumente, die einen Kernbereich der Kriminologie betreffen, habe ich eine Antwort an ihn geschickt sowie an die Zeit. Antwort habe ich noch nicht bekommen (außer einem Standardschreiben der Redaktion, die sich bedanken). Im folgenden also mein Brief an den Autor, den ich für die Veröffentlichung auf Criminologia.de leicht ergänzt habe.
Lieber Yascha Mounk,
Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu, dass die Maßstäbe eines Rechtsstaates für alle gelten müssen und dieser seine Bürger dh. alle die innerhalb seiner Jurisdiktion leben, nicht enttäuschen darf. Und es gäbe in Deutschland eine Menge zu beklagen, was das Justizsystem, die Polizei und andere Institutionen des Rechtsstaates angeht. Diskriminierung bestimmter Gruppen, nicht nur von Ausländern, sondern auch und gerade über soziale Schichtungen hinweg. Eine Polizei, die ihr Handeln nicht genug reflektiert und Kritik von außen, wie jüngst in einer Studie zu Polizeigewalt von Bochumer Kollegen geschehen, pauschal ablehnt – zumindest, was die öffentlich vernehmbare Kritik angeht, die Zustimmung wird zumeist nicht gehört oder nur leise geäußert. Ein Staat der allzuoft auf dem rechten Auge blind ist, wie sie es auch in ihrem Beispiel anführen und anderes mehr.
Ihre Kur, ihr Rezept zur Besserung sind härtere Strafen und das halte ich für falsch und aus wissenschaftlicher, kriminologischer Sicht für nicht haltbar. Folgende Punkte, ein wenig angelehnt an ihre Argumente, sind dabei wichtig zu beachten:
-
Ihre Vergleiche mit anderen Rechtssystemen: Die USA deutlich, aber auch andere europäische Länder haben mehr Gefängnisinsassen per 100.000 Einwohner. Wofür ist das ein Ausweis? Das mehr bestraft wird? Das besser und gerechter bestraft wird? Das deren Rechtssystem u.U. noch diskriminierender sind als das Deutsche? Oder aber auch, wenn schon mehr gestraft wird, dann müsste ein Blick auf die Kriminalitätsstatistiken (so problematisch diese sind) zeigen, dass es dort weniger an Kriminalität gibt. Das ist aber nicht unbedingt der Fall. Abgesehen davon, dass die Kriminalitätsrate in fast allen westlichen Industrie-Ländern fällt, können härtere Strafen hier nicht als Argument taugen.
-
Sie fordern härtere Strafen, um den Rechtsstaat sichtbarer und verlässlicher zu machen. Keine schlechte Idee. Das würde aber auch bedeuten, dass härtere Strafen tatsächlich mehr sind als nur eine symbolische Geste für was Sie das „Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung“ nennen. Dieses als Maßstab für Strafen zu nehmen, halte ich für problematisch, weil es allzu leicht zur Beute von Populisten werden könnte, die schon heute bisweilen mal die Todesstrafe fordern für Verbrechen, die sich gegen jedes moralische Verständnis in der Bevölkerung wendet, u.a. Kindesmissbrauch, aber auch andere. Die hohe Mordrate in den USA bei gleichzeitigem Bestehen von extrem harten Strafen bis hin zur Todesstrafe ist dann ein Widerspruch, der zumindest Fragen aufwirft.
-
Ihr Plädoyer für härtere Strafen nimmt einfach kausal an, dass die Taten von den Strafen abhängig sind, ein Gemeinwesen also vor allem an Normen aus dem Strafgesetzbuch orientiert funktioniert. Das halte ich für zu kurz gesprungen und dafür gibt es keinerlei empirische Begründungen. Ein friedliches Miteinander orientiert sich nicht allein an Gesetzen und deren Sanktionsmacht, sondern auch an anderen Dimensionen von Gesellschaft. Interessant in diesem Zusammenhang ist z.B. eine Studie von Münchner Kollegen1, die vermutet, das es Zusammenhänge zwischen Waffengesetzen und Mordraten gibt. Auch hier sind es zwar Gesetze zu Regulierung des Waffenbesitzes, aber nicht Strafandrohungen, die für ein friedliches Zusammenleben entscheidend sein sollen.
Für die Wirksamkeit von härteren Strafen für die Eindämmung von Straftaten gibt es keine oder nur sehr unklare Belege. Dass härtere Strafen bestimmte Gruppen von Menschen, oft denen, die suggeriert bekommen, dass könnte auch passieren bzw. deren moralischer Kompass durch bestimmte Taten extrem gestört ist, beruhigen, scheint nachvollziehbar. Aber auch hier fehlen empirische Belege, denn die Zusammenhänge sind doch zu vage, zu offen, zu viel abhängig von anderen Aspekten, als dass man dieses Verhältnis einfach isolieren könnte. Interessant ist, dass härtere Strafen ja oft von rechten Populisten gefordert werden – der Sie nicht sind – diese aber dann genauso oft kriminell sind, wie man an den Nazis, an den Pegida-Wortführern u.a. sehen kann.
-
Härtere Strafen für die von ihnen geschilderten Taten halten u.U. auch nicht von den Taten ab, da diese im Affekt geschehen, wie bei so vielen Beziehungstaten oder im Falle des angezündeten Hauses, es einfach dumm war. Letztlich sind es aber einzeln angeführte Beispiele, die einer weiteren Erkundung bedürften um sie als typische herauszustellen. Ja, der Bürger sieht immer nur den Einzelfall. Das sollte für die Justiz und noch mehr für die Politik nicht der Maßstab sein, Gesetze zu machen (ist es leider allzuoft aus populistischen Beweggründen) oder Strafen hoch oder runter zusetzen.
-
Schaut man sich die durchschnittliche Gefängnisbevölkerung an, in Deutschland, aber wohl auch in GB, Frankreich und den USA, so sitzt da kein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung. Fast nur Männer, oft mit wenig Bildung, oft aus schwierigen sozialen Verhältnissen (das ist bei einigen Delikten anders), mit wenig Chancen auf einen geordnetes, bürgerliches Leben. Strafen treffen also bestimmte Gruppen von Menschen mehr als andere, in den USA, wo Sie ja leben, sind es u.a. African-Americans und andere Nicht-Weiße oft aus sozial prekären Verhältnissen. Das hier das eine mit dem anderen zusammenhängt ist unübersehbar. Gefängnisse scheinen nicht der Ort zu sein, der zur Besserung führt, die Rückfallquoten sind zumindest ein Indikator dafür. Bessere Gefängnisse – oder etwas Besseres als Gefängnis? Das wäre für mich die entscheidende Frage. Schafft die Strafe und der Knast den sozialen Frieden oder war er schon vor der Tat in Gefahr, dass bestimmte Menschen die Verbrechen verübten, für die sie nun Rechenschaft und Verantwortung übernehmen müssen.
Nicht falsch verstehen: Ein schwere Kindheit rechtfertigt keine Vergewaltigung, keinen Mord oder sonstiges. Aber ein Blick darauf zeigt, das zum einen bestimmte Menschen eher sitzen als andere und das eine gesellschaftliche Schieflache unabhängig von der Höhe der Strafen existiert.
Respekt vor dem Rechtsstaat entsteht nicht durch die Höhe der Strafen, dieser Zusammenhang ist mir zu einfach. Der Respekt ist vielseitig, so wie der Rechtsstaat nicht nur aus den Strafgerichten und dem StGB besteht.
Zwei Veröffentlichungen jüngeren Datums zeigen sehr eindrücklich, wie ungerecht das Strafsystem ist, allerdings ganz anders, als sie es in ihrem Artikel darstellen. Didier Fassin in „Der Wille zu Strafen“ (2018) sowie Geoffrey de Lagasnerie mit „Die Verurteilten“ (2017) machen deutlich, dass Strafen also solche hochproblematisch für das Zusammenleben in einer Gesellschaft sind, darüber hinaus betonen sie die nicht neue Erkenntnis, dass Strafsysteme, wie wir sie kennen vor allem sozial ungerecht sind. Für Frankreich würden sie ihren Argumenten heftig widersprechen, ich würde aber die dort vorgebrachten Argumente für darüber hinaus geltend halten. Beide Autoren schließen damit an Ergebnisse einer Kritischen Kriminologie in Deutschland, Großbritannien und den USA an, die die Wirksamkeit von härteren Strafen schon lange anzweifelt.
Was mich ein wenig ärgert an den vorgebrachten Argumenten ihrerseits sind die vielen normativen Setzungen, die ohne weitere Erklärung der Interpretation der Leser obliegen. So sprechen Sie von Sühne – was das genau sein soll, bleibt unerklärt. Das gleiche gilt für den Begriff des „inneren Friedens“ einer Gesellschaft. Ich bin stark dafür, allein als Maß für Bestrafung bedürfte so ein „innerer Frieden“ einer weiteren Erklärung und Definition. Da erwarte ich von einem Wissenschaftler etwas mehr an argumentativer Strenge.
Dass Sie extra erwähnen, dass sich „Politiker auch weiterhin nicht in laufende Verfahren einmischen dürfen sollen“ finde ich gut, allerdings sollte das selbstverständlich sein. Ist es aber in der Tat nicht immer, insbesondere nicht, wenn es um Straftaten von Institutionen des Staates geht – Polizei, Verfassungsschutz. Auch wenn die Einmischungen hier sehr subtil ablaufen und sicherlich nicht über direkte Weisungen.
Ihre Forderungen haben einen Hang zum Populismus und ich kann leider nicht erkennen, woher das kommt, noch den größeren Argumentationszusammenhang ihrerseits erkennen. Auch nicht, was das speziell mit einer Einwanderungsgesellschaft zu tun hat. Aber da hoffe ich, können Sie mich aufklären. Es gäbe noch mehr zu dem ganzen Komplex zu sagen, aber ich lasse es mal hierbei bewenden. Ich würde mich freuen von Ihnen zu hören.
Nils Zurawski
Literatur
Didier Fassin in „Der Wille zu Strafen“ (2018) Suhrkamp
Geoffrey de Lagasnerie mit „Die Verurteilten“ (2017) Suhrkamp
Titelbild: flickr- my_southborough
Steffen Hurka and Christoph Knill: Does regulation matter? A cross-national analysis of the impact of gun policies on homicide and suicide rates, in: Regulation & Governance (2018) doi:10.1111/rego.12235 ↩
Eva Martin schreibt
Das Rechtssystem leidet nicht an zu milden Strafen, sondern daran, dass vieles willkürlich oder absurd erscheint: Steuersünder werden lasch verfolgt und bekommen auch bei Steuerhinterziehung im mehrstelligen Millionen-Bereich kaum höhere Haftstrafen als der ziemlich Arme, der verschiedene Kleinschulden hat. Kündigungsschutz gilt nicht, wenn der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis einseitig zerrüttet oder wenn ein Mitarbeiter der „Loyalität“ gegenüber dem Arbeitgeber vermissen lässt, weil er eine Straftat (Überwachungskameras in den Umkleidekabinen der Mitarbeiter) publik macht. Eine Richterin verweigert einer aus Marokko stammenden Frau eine schnelle Scheidung vom schlagenden und sie mit Mord bedrohenden Ehemann mit der Begründung, dass im Koran Züchtigung erlaubt sei. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/justiz-skandal-deutsche-richterin-rechtfertigt-eheliche-gewalt-mit-koran-a-472849.html Eine andere Richterin empfindet ein bisschen arg viel Mitleid mit einem Ehemann, der seine Frau erwürgt hat. https://www.focus.de/panorama/welt/vier-jahre-haft-wegen-totschlags-nach-ehehoelle-rentner-erwuergt-ehefrau-im-streit_id_4340218.html Ein Richter verurteilt jemanden zu einer Geldstrafe für die Verwendung eines durchgestrichenen (!) Hakenkreuzes auf ANTIFA-T-Shirts.
Woran der Rechtsstaat am meisten leidet, sind urteilsunfähige Richter und Staatsanwälte. Der eigentliche Grund für die eklatante Urteilsunfähigkeit der Justiz ist, dass wir eine Asperger-Justiz haben. Sprich Menschen mit Asperger bzw. mit autistsichen Zügen fühlen sich ebenso naheliegender- wie fatalerweise zur Justiz besonders hingezogen. Das sage nicht nur ich, sondern das meinen auch andere, sowohl von seiten der Autismus-Forschung, als auch in Autismus-Foren, als auch – bekennende Asperger-Juristen als auch Justizkritiker wie Rolf Lamprecht (vgl. http://gabnet.com/jus/autistis.htm), die Autoren von „The Psychopathology of Unjust Prosecutions.“ (https://www.amazon.com/Three-False-Convictions-Many-Lessons/dp/1909976350) und indirekt Supreme-Court-Richter Richard Posner, laut Spiegel der meistzitierteste Jurist unserer Tage, wenn er betont, wie stark biologisch bedingt die Art eines Richters zu urteilen sei, und dass viele Richter eine „autoritäre Persönlichkeit“ im Sinne der berühmten Faschismus-Studie der Frankfurter Schule hätten.
Zum Thema „Asperger-Justiz“ stelle ich derzeit eine Pinnwand zusammen. https://www.pinterest.de/gertrud4617/asperger-justiz-what-is-wrong-with-the-judicial-sy/.
Eva Martin schreibt
Ich hatte vergessen die Quelle zu Richard Posner einzufügen: https://www.youtube.com/watch?v=Iq7pfFoV6OY Ein Transkript des von Posner Gesagten findet sich übrigens direkt unter dem Video.
Martin Cichy schreibt
Seit einigen Jahren haben in der Kriminologie die Abolitionisten wieder verstärkt das Sagen, was nicht zuletzt in den Ausführungen des Autors durchblickt. Die Konsequenz ist dann nicht selten jene „Strafe-ist-keine-Lösung“-Attitüde. Der Vergleich mit ach den bösen USA folgt dann stets an zweiter zweiter Stelle (so auch hier). Nach dem Motto: Die USA haben die höchsten Strafen (was stimmt), und dennoch eine enorm hohe Kriminalität (was ebenso stimmt). Nur sind das sehr vordergründige Feststellungen, die Studien hierzu weisen entscheidende methodische Mängel auf (Scheinkorrelationen, Gleichsetzung von Korrelation und Kausalität, fehlende Betrachtung von Hintergrundvariablen, Adäquationsproblem bei der Festlegung des Untersuchungsobjektes).
Letztlich lässt sich die Sinnhaftigkeit von Freiheitsstrafe nur sehr schwer wissenschaftlich untersuchen; monokausale Aussagen wie „Gefängnisse bringen nichts“ sind ebenso verfehlt, wie die Annahme, die Strafen müssten nur hart genug sein, um die Kriminalität theoretisch auf Null abzusenken. Der gesamte Themenkomplex ist mehrfaktoriell, mit vielen, sich gegenseitig beeinflussenden Effekten – das hier im Detail auszuführen, würde den Rahmen eines „Kommentars“ sprengen.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass wir in Deutschland kriminalpolitisch recht gut fahren, auch hierzulande können im Einzelfall hohe Strafen bzw. langjährige Aufenthalte in staatlichen Institutionen erfolgen. Das schließt nicht aus, dass man bei einzelnen Delikten punktuell verschärft, oder auch punktuell abmildert. Zu grundlegenden Reformen unseres Strafrechts, wie auch des Strafvollzugs, gibt es jedoch keine Veranlassung.