Letzte Woche gab es einen Spiegel-Titel zum Thema „Fehlurteile“. Anlass war der Kachelmann-Prozess. Ich habe den Artikel erst gestern (beim Arzt) gelesen, dabei aber übersehen, dass es sich nicht um die aktuelle Ausgabe handelte. Da mein etwas voreilig verfasster Kommentar nun als Leserbrief nicht mehr geeignet ist, stelle ich ihn hier ein. Vorab etwas zum Verständnis: Der Artikel stellte einige Fälle bizarrer juristischer Verkennungen der Wirklichkeit dar, die dann im Sinne des Thomas-Theorems in ihren Konsequenzen furchtbar real werden, nämlich in Form mehrjähriger Freiheitsentziehungen (die sich als Freiheitsberaubungen entpuppten).
Ein besonders bizarrer Fall hing mit dem Verschwinden eines Landwirts zusammen (ich glaube, das war 2001), der nach Ansicht der Richter won weiteren Hofbewohnern bzw. Verwandten zerstückelt und an die Schweine verfüttert worden sein soll (wobei es auch die Mutmaßung gab, dass die Schweine anschließend von den Hofmitarbeitern gegessen wurden). Die nicht gerade intellektuellen Angeklagten haben sich dann wohl von der Justizmaschinerie mürbe machen lassen und gestanden (was wohl öfter vorkommen soll, um sich den Schikanen zu entziehen). 2009 (nach meiner Erinnerung) wurde dann der Bauer in seinem Auto aus der bayrischen Donau gezogen und die juristischen „Tatsachen“ erwiesen sich als das, was sie von Anfang an waren: purer Unsinn bzw. Produkte einer ziemlich perversen Phantasie. Es wurden auch weitere Beispiele gebracht, wie etwa der Wormser „Kinderschänder“-Skandal. Das plötzliche massive Auftreten von Eltern, die ihre Kinder sexuell missbrauchten und vermieteten wurde seitens der Justiz und dank entsprechender moralunternehmerischer Aktivitäten nicht für unwahrscheinlich gehalten; zurück blieben zerstörte Familien. (Später hatte sich dann meines Wissens der Gärtner als Bock erwiesen – ein moralunternehmerischer Kinderbetreuer).
Der Artikel dürfte ab nächster Woche über die Spiegel-Website frei zugänglich sein. Im Zusammenhang mit Kachelmann ging es auch um die Folgen der prozeduralen Ungerechtigkeit, soweit sie „nur“ zu Bloßstellung führt. Die zerstörten Leben werden dann mit ein paar Euro Haftenschädigung abgefunden. Auch wenn wir keine Todesstrafe haben, sind die Folgen – anders als dies ein Richter im genannten Artikel formuliert – alles andere als reversibel.
Immer wieder problematisiert wird ja auch, dass gerade bei Kapitalverbrechen keine zweite Tatsacheninstanz existiert, die von der Erstinstanz „festgestellten“ Tatsachen als unumstößlich gelten – und das bei dem gravierenden Strafmaß, das hier zu erwarten ist. Richter irren sich eben nicht. Und mitunter werden neue Tatsachen dann auch verschleiert.
Hier also mein Kommentar, der einen Zusammenhang mit der Juristenausbildung herstellt, in der Pauken und formale Korrektheit wichtiger sind als Denken und Wirklichkeitssinn:
??Die in dem Artikel dargestellte Problematik ist meiner Ansicht nach eng verzahnt mit der Juristenausbildung, die seit Bismarck einen obrigkeitsstaatlichen Impetus hat. Und da jeder Reformversuch – wie etwa die Initiative von 1997 – die Identität der bereits ausgebildeten Juristen in Frage stellt, mahlen hier die Mühlen besonders langsam.
Bei den in der Ausbildung zu lösende Strafrechtsfällen geht es nicht darum, für eine wie auch immer geartete Wahrheit durch Offenheit für Komplexität zu sensibilisieren, sondern – unter hohem Druck – die lebensweltlichen Gewissheiten des Aufgabenstellers bzw. des juristisch-bürgerlichen Milieus zu erschließen. Das ist aber mehr eine Übung im Vorurteil, als in Wahrheitsfindung. Schon Theo Rasehorn hat 1966 (unter dem Pseudonym Xaver Berra) in seinem Paragraphenturm einen „Rigorismus im Tatsächlichen“ konstatiert – das Tatsächliche in seiner Vielfalt bleibe im Filter des Juristischen oft hängen. Der „Eifer der Ahnungslosen“ lasse „in die Unmenschlichkeit stolpern“.
Eine Ausbildung, die vor allem auf Härte und Aussieben setzt, auf möglichst vollständige Identifikation mit der jeweils „herrschenden Meinung“, auf die Entmutigung eigenständigen Denkens, dürfte zwangsläufig Narzissmus, Eigendünkel und Kritikunfähigkeit züchten. Zudem stehen Strafrechtler in der juristischen Achtungshierarchie nicht besonders weit oben (das Klientel färbt wohl ab). Das dürfte bei entsprechender Sensibilität die Offenheit für Kritik noch zusätzlich einschränken. Ein solches System sollte allerdings unter demokratischen Vorzeichen als veraltet gelten.
Klingt nicht gut.
Und wie ist das mit dem Projekt in den USA, das sich der Aufdeckung von Fehlurteilen widmet, also dem Unschuldsprojekt (Innocence Project)? Stand darüber auch etwas in dem Spiegel-Artikel? Und stand darin auch etwas über die Entscheidung des Gouverneurs eines US-Staats, sämtliche Hinrichtungen auszusetzen, weil es ihm einfach zu viel wurde mit den (nachträglich) festgestellten Fehlhinrichtungen? Und auf wie viel Prozent schätzt denn der Spiegel die Fehlinhaftierten sagen wir mal in der Türkei oder in Kasachstan oder in Russland? Oder Frankreich oder Polen oder Deutschland oder Dänemark? Und darüber, was die Kriminologie über Fehlurteile geforscht hat? Und herausgefunden hat? Oder beschäftigt sich die Kriminologie mit so etwas nicht so sehr, sondern mehr mit kriminologischen Regionalanalysen und kommunaler sogenannter Kriminalitätsprävention an sogenannten Runden Tischen? Wenn das stimmte: das würde mir Gänsehaut machen.
Über das Innocence Project stand, glaube ich, nichts in dem Artikel. Und Zahlen gab es nur für Deutschland, aber die habe ich mir nicht gemerkt. Der Artikel ist aber mit zweiwöchiger Verzögerung (ab nächster Woche) über die Spiegelseite frei verfügbar:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2011.html