Das Urteil des Landgerichtes Ulm im Mordprozess gegen Andreas H. und Frederik B. ist nun ergangen. Die Angeklagten hatten am 9. Apriol gemeinsam die beiden Schwestern sowie die Eltern des Andreas H. erschossen. Sowohl Tatort als auch Tatzeit liegen nicht weit von dem sogenannten Amoklauf von Winnenden. Die beiden Täter waren zur Tatzeit als Heranwachsende einzustufen. Anders als sein Mittäter (Jugendstrafe, 10 Jahre) wurde Andreas H. nach Erwachsenenstrafrecht zu lebenslanger Haft verurteilt. Dabei hat das Gericht auch auf besondere Schwere der Schuld erkannt. Außerdem wurde eine anschließende Sicherungsverwahrung vorbehalten. Dies lässt sich als hilflosen Versuch charakterisieren, mit einer bizarren Tat umzugehen und das Bestürzende daran abzuwehren, indem „das ganze Programm“ durchgezogen wird.
Laut Gericht soll Andreas H. „die einen jungen Erwachsenen kennzeichnende Ausformung seiner Persönlichkeit“ erfahren haben. Als Motiv wird Habgier angegeben. Solche Kausalitätskonstruktionen wiederholen das Bizarre der Tat. Dass jemand seine Familie auslöscht, um anschließend dann das Familienerbe durchbringen zu können, sehen Staatsanwaltschaft und Gericht demnach als vereinbar mit der einen Erwachsenen kennzeichnenden Reife. Das ist absurd, deutet aber auf unser westlich-instrumentelles Denken hin, dass uns hier scheinbar in völlig überzeichneter Form begegnet. Es scheint sich hier um reines Tatstrafrecht zu handeln mit einem Seitenblick auf die öffentliche Meinung und die insbesondere die Medien. Sicher, ein Gericht muss irgendwie entscheiden, auch wenn es dazu gar nicht die Voraussetzungen hat. Die hölzernen Kategorien, deren es sich bedienen muss, sind vielleicht nicht mehr zeitgemäß. Selbst der Gutachter ist ratlos.
Der Kompagnion, der angibt, die Schüsse abgegeben zu haben, ist mit einer Jugendstrafe davon gekommen, weil ihm ein sogenanntes Asperger-Syndrom attestiert worden ist, das auf soziale Probleme hinweist. Das Verhältnis zu Andreas H. wird als homoerotisch apostrophiert – wieder eine grobe Kategorie ohne Erklärungswert. Auch in Tessin hatten 2007 zwei Jugendliche mit einem symbiotischen Verhältnis zueinander einen brutalen Doppelmord begangen. Letztlich dürfte es sich um eine komplexe Beziehungsproblematik handeln, die beide betrifft und die nicht ohne Bezug zu unserer Gesellschaft sein dürfte. Sicherlich wird man schnell auf Begriffe wie Narzissmus kommen, aber solche Begriffe sind keine Erklärungen, sondern allenfalls so etwas wie Hinweisschilder, Wegzeichen. Eine völlige Aufklärung ist da illusorisch, aber solche Fälle bieten schon gewisse Auffälligkeiten, die aber ein über abstrakte Kategorisierung hinausgehendes Verständnis erfordern, auch im Hinblick auf die Prävention solcher Taten.
Andreas P. schreibt
Nachdem ich noch einiges im Interent gelesen habe, bin ich mehr denn je der Ansicht, dass die Bestrafung des Andreas H. nach Erwachsenenstrafrecht auf einer Verkennung der wesentlichen Tatumstände beruht. Zentral scheint mir die mißglückte Ablösung von den Eltern zu sein und das würde, da es sich – ungeachtet der Monstrosität der Tat – um einen jugendtypischen Konflikt handelt, für die Anwendung von Jugendstrafrecht sprechen.
Lara T. schreibt
Auch ich denke, dass es sich bei dem Mord um eine jugendtypische Tat handelt und daher die Bestrafung des Andreas H. nach Erwachsenenstrafrecht nicht korrekt ist. Damit schließe ich nicht aus, dass der Wunsch das Erbe anzutreten, nicht auch (also neben anderen, entscheidenderen Faktoren) eine Rolle für das Motiv der Tat gespielt hat. Da ich keine Kriminologin bin, würde mich an dieser Stelle interessieren, ob das Gericht sich so monokausal auf Habgier festgelegt hat, um Andreas H. nach Erwachsenenstrafrecht verurteilen zu können. Muss ein Gericht – notfalls auch wider besseren Wissens bzw. gegen plausiblere Gründe – auf die Benennung mehrerer Motive, Gründe oder Voraussetzungen für eine Tat verzichten, um zu einem eindeutigen Urteil zu kommen? (Vielleicht kann jemand aus dem Block etwas dazu sagen.)
Noch eine dazu in etwa konforme Beobachtung zur Aufarbeitung des Falles in den Medien: Vor einigen Monaten war ein Videoausschnitt (ich glaube aus Focus-TV)im Internet, in dem die Nachbarin der Familie H. relativ nachdrücklich berichtete, dass der Vater die ganze Familie schikaniert und oft herumgebrüllt habe (den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr)und dass die beiden getöteten Schwestern auf ihren jüngeren Bruder (Andereas H.) „eingehackt hätten wie die Hühner“. Vor einigen Tagen habe ich nun festgestellt, dass diese Sentenzen aus dem Video entfernt wurden (sofern es sich um das gleiche Video handelt, was sehr wahrscheinlich ist). Dieselbe Nachbarin war auch in der am Abend der Urteilsverkündung ausgestrahlten Sendung „betrifft – Vierfachmord in Eislingen“ im Südwestfernsehen zu sehen, wo sie sich diesbezüglich so gut wie gar nicht äußert bzw. nur dahingehend, dass sie sich gut vorstellen könnte, dass sich Andreas unwohl in seiner Familie gefühlt habe, was ja nichts darüber aussagt, worin hierfür die Gründe lagen. Dies passte nun, so meine Wahrnehmung, auch gut zur Gesamt-‚Botschaft‘ dieser Reportage, die Gründe für die Tat mehr oder weniger ausachließlich in den Tätern selbst, ihrer unheilbringenden Beziehung zueinander und der mangelnden Aufmerksamkeit der Umgebung (Eltern des Frederik B., Polizei und Vereine) hinsichtlich ihres Doppellebens lagen. Zwar wurde schon auch etwas über den Vater berichtet und auch eine konkrete Demütigung angeführt, aber eine (nur zufällig?) die viele Jahre zurücklag. Die Thematisierung einer aktuellen Problematik in der Familie von Täter und Opfer wurde ausgespart. Soll dies die Sicht der Tat auf eine relativ konsistente und möglicherweise urteilskonforme Sicht hin ‚filtern‘ und folgt dies zum Teil auch der (zwar nachvollziehbaren, aber nicht unbedingt wahrheitsdienlichen) Devise, nicht ’schlecht‘ über die Opfer zu reden?
Andreas P. schreibt
Hallo Laura, das mit der Nachbarin ist ja sehr interessant.
Zum Urteil – ich denke, dass sich das Gericht und auch der Gutachter hier überfordert fühlten. Das Recht geht – ganz im Kantschen Sinne – von Kategorien aus, in die dann Tat bzw. Täter eingeordnet werden. So wird Komplexität reduziert, aber auch eine Geschichte konstruiert, die die Wirklichkeit nicht unbedingt abbildet bzw. abbilden kann. Für die hier wesentlichen psychologischen Fragen wäre der Gutachter zuständig gewesen, aber der hat sich gedrückt. Er wollte dem Gericht keine Entscheidung vorgeben und hat sich so seiner Verantwortung entzogen (aber das Geld für das Gutachten sicherlich trotzdem mitgenommen). Zwar kann man hier nach den stark abstrahiereden Kategorien des Rechts die Tat unter das Mordmerkmal Habsucht subsumieren. Wenn man diesen Umstand aber nicht isoliert betrachten würde, dann müsste man das aber im Kontext der Umstände betrachten:
Das JGG hierzu:
§ 105 Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende
(1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§ 4 bis 8, 9 Nr. 1, §§ 10, 11 und 13 bis 32 entsprechend an, wenn
1.
die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder
2.
es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.
Hier scheint mir vor allem Abs. 2 entscheidend zu sein, da es – nach den mir bisher bekannten Umständen – um etwas jugendtypisches, nämlich die Ablösung von den Eltern geht. Das hier wohl entscheidende Familienklima kann man von außen nur ansatzweise beurteilen. Die finanzielle Abhänigkeit von der Familie bzw. dem Vater dürfte aber jedenfalls eine erhebliche Rolle gespielt haben, aus der sich der Sohn offenbar nicht anders befreien zu können glaubte, als durch diese monströse Tat. Auch die symbiotische Beziehung zu seinem Mittäter verweist auf eine Abhängigkeits- bzw. Schamproblematik. Da ist offenbar einiges schiefgelaufen bzw. eine Entwicklung des Täters in Richtung Autonomie möglicherweise von einem autokratischen Vater nicht eben gefördert worden bzw. konnte der Vater keinen anderen Willen neben seinem dulden. Konsequenz für den Sohn: Autonomie/Selbstwirksamkeit ist nur möglich, wenn der Vater weg ist. Es deutet also einiges auf eine Art Klaustrophobie hin, aus der die Beseitigung des (Willens des) Vaters und die Inbesitznahme des Familienvermögens Befreiung versprach. Eine solche Motivation muss nicht zwangsläufig bewusst sein. Meiner Ansicht nach legt der Kontext eine solche Deutung nahe und ein isoliertes Abstellen auf „Habgier“ ist deshalb sehr problematisch.
Möglicherweise mussten die Mutter und die Schwestern vor allem deshalb sterben, damit sie ihren Sohn/Bruder nicht als Mörder wahrnehmen konnten (Scham).
Andreas P. schreibt
Lara, … Entschuldige, ich habe gerade bemerkt, dass ich Deinen Blog-Namen falsch geschrieben habe ;-).
Übrigens gibt es im aktuellen Spiegel einen Beitrag, zu dem Fall, ich habe ihn aber nur kurz überflogen. Der Gutachter moniert hier die starke Selbstkontrolle (Selbstbeherrschung) des Täters, der nach den Morden an den Schwestern, noch mit seinen Eltern in der Kneipe sitzen konnte, die er anschließend umzubrigen gedachte. In der Kriminologie gibt es eine Theorie, die einen Mangel an Selbstkontrolle als Ursache für jegliche Kriminalität postuliert (Hirschi/Gottfredson).
Lara T. schreibt
Hallo Andreas,
Vielen Dank für deine Informationen. Vielleicht werde ich mir den Spiegel-Artikel organisieren.
Andreas P. schreibt
Hallo Lara,
die Spiegel-Artikel gibt es auf der entsprechenden Website zwei Wochen nach dem Erscheinen kostenlos.
Lara T. schreibt
In der Südwestpresse war nun im November zu lesen, dass der Revisionsanstrag des Anwalts von Andreas H abgelehnt wurde. Unter anderem ist in dem Artikel (www.swp.de/goeppingen/lokales/mittleres_filstal/art5777,712282) zu lesen:
„Sein Anwalt Hans Steffan hatte die Revision unter anderem damit begründet, das Gericht habe seine Forderung nach einem Jugendpsychiater als Gutachter abgelehnt. Auch wollte er erreichen, dass nach Jugendstrafrecht geurteilt wird. „Der BGH hat die Begründung geprüft und sie für nicht durchgreifend erachtet“, sagte gestern dessen Sprecher Bertram Schmitt. Es sei keinerlei Rechtsfehler erkennbar, sodass die Revision offensichtlich unbegründet sei.“
Mir erscheint das irgendwie ziemlich ignorant. Was meint ihr dazu? Was sind denn die Kriterien für ‚Rechtsfehler‘ in diesem Fall ? Gibt es bei Revisionen im Allgemeinen eine Tendenz, dem vorangegangenen Urteil möglichst nicht zu widersprechen bzw. sind erfolgreiche Revisionen sehr selten? Welche Möglichkeiten gibt es nach der Ablehnung einer Revision? Eine Rückmeldung wäre schön, auch wenn der Ausgangsfall schon eine Weile zurückliegt.
Andreas Prokop schreibt
Erst mal Danke für den Hinweis auf die Entscheidung. Die Angaben in dem Artikel sind leider etwas dürftig. Das eigentliche Problem – und eigentlich ein Skandal – scheint mir aber zu sein, dass bei Kapitalverbrechen nur eine Tatsacheninstanz zur Verfügung steht. Wirst Du etwa wegen Unterschlagung vom Amtsgericht verurteilt und gehst in Berufung, kann das Landgericht die sogenannten Tatsachen neu prüfen, also etwa neue Zeugen vernehmen oder auch ein neues Gutachten erstellen lassen. Bei Straftaten, bei denen ein hohes Strafmaß zu erwarten ist, ist die Erstinstanz das Landgericht. Und was dieses Gericht ermittelt, das gilt als Wahrheit, das kann nicht mehr in Frage gestellt werden. Die Revisionsinstanz kann nur noch Formfehler prüfen. Man kann also sagen: je stärker der Eingriff, desto geringer die Verteidigungsmöglichkeiten. Klingt bescheuert, ist aber so. Das hängt vielleicht mit Autoritätsgläubigkeit zusammen – schließlich stammt unser Strafgerichtsverfahren aus dem 19. Jahrhundert und seitdem hat sich wenig verändert – nach Ingo Müller hat Bismarck den Deutschen einen konservativen Juristenstand mit wenig Flexibilität verpasst.
Und die Kritik am § 21 StGB (Schuldunfähgigkeit) – der auch vom Menschenbild des 19. Jahrhunderts ausgeht – hat die Justiz auch von sich abperlen lassen.
Unter bestimmten Voraussetzungen könnte man nun noch an eine Verfassungsbeschwerde denken.
Lara T. schreibt
Hallo Andreas,
vielen Dank für deine präzisen Antworten.
Find ich ja schon beeindruckend bzw. schockierend, dass das vom Landgericht Geurteilte, pauschal als „Wahrheit“ gilt und dagegen nur noch „Formfehler“ (=Rechtsfehler wahrscheinlich) beanstandet werden können. Ist es genau definiert, was „Formfehler“ sind und was nicht oder gibts da gewisse Spielräume ? Vielleicht entscheidet aber auch ohnehin oft so etwas (mit) wie der ‚politische Wille‘.