In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Büchern aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
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Titel: | Das Gefängnis auf dem Prüfstand. Zustand und Zukunft des Strafvollzugs | |
Herausgeber: | Bernd Maelicke & Stefan Suhling | |
Jahr: | 2018 | |
Verlag: | Springer | |
ISBN: | 978-3-658-20146-3 |
Die Herausgeber dieses Buches sind anerkannte Fachleute mit erheblicher Praxiserfahrung im Bereich des Gefängniswesens: Bernd Maelicke, Jurist und Sozialwissenschaftler leitete 15 Jahre lang die einschlägige Abteilung des Justizministeriums in Schleswig-Holstein. Der Psychologe Stefan Suhling leitet den Kriminologischen Dienst des Landes Niedersachsen. Sie beabsichtigen eine „aktuelle Bestandsaufnahme zu den unterschiedlichen und mannigfaltigen Themenbereichen des Strafvollzuges und der mit ihm kooperierenden Organisationen im Prozess der Resozialisierung“ (Vorwort). An diesem Großunternehmen haben 41 AutorInnen mitgewirkt. Es ist den Herausgebern gelungen viele anerkannte Fachleute zu gewinnen, bekannte Namen wie Frank Arloth (Bayer. Justizministerium), Kirstin Drenkhahn (FU Berlin), Axel Dessecker (KrimZ), Johann Endres (Krim. Dienst Bayern), Gerd Koop (JVA Oldenburg), Jörg Jesse (JuMi Meck-Pomm), Frank Neubacher (Univ. Köln), Klaus Roggenthin (BAG-S), Johannes Sandmann (JuMi SH), Monika Steinhilper (bis 2015 JuMi Niedersachsen), Philipp Walkenhorst (Univ. Köln), Wolfgang Wirth (Krim.Dienst NRW), aber auch viele jüngere Praktiker und Wissenschaftler. Insgesamt überwiegt die Praxis deutlich gegenüber der Wissenschaft. Thematisch werden sowohl die wichtigsten Zielgruppen (Jugendliche, Frauen, Senioren, Drogenabhängige, Ausländer, kurze und lange Strafen, Sicherungsverwahrung) als auch zentrale Aspekte der Vollzugsgestaltung (Behandlungs- und Bildungsprogramme, Sozialtherapie, Anstaltssicherheit und -klima, Gewwalt und Subkultur, Familien- und Opferorientierung) behandelt. Auf den ersten Blick erscheint dies flächendeckend. Erst auf den zweiten Blick finden sich einige wenige, aber nicht unbedeutende Fehlanzeigen: z.B. der Arbeitsbereich, das Gesundheitswesen, die Vollzugsplanung, das Disziplinarwesen und der Rechtsschutz. Ergänzt wird dieser Überblick durch einige Beiträge zum rechtlichen, statistischen und strategischen Rahmen der Justizvollzugsanstalten, sowie zur Verzahnung mit der „ambulanten Resozialisierung“ (insbes. Übergangsmanagement, Soziale Dienste der Justiz, Freie Straffälligenhilfe).
Wie kann man ein solches Mammutwerk besprechen? Zwei Gesichtspunkte bieten sich als Kriterium an: die erklärte Zielsetzung der Herausgeber einerseits und die ebenso erklärte abolitionistische Einstellung des Rezensenten andererseits.
Die Zielsetzung der Herausgeber wird in den einleitenden Texten deutlich. Es geht um Übertragung von Innovationsstrategien aus der Wirtschaft, um Forschung und Entwicklung als Innovationsstrategie, auf einen „lernenden“ Strafvollzug, sowie um eine „evidenzbasierte Kriminalpolitik“ (Bernd Maelicke), um „Wirkungsforschung und wirkungsorientierte Steuerung“, sowie um „evidenzbasierte Professionalisierung“ (Stefan Suhling). Die beiden Herausgeber scheinen sich da auch weitgehend einig, wenn sie auch kleine Differenzen bei der Benutzung der Terminologie „output“ vs. „outcome“ einräumen (15, 34/35), deren Bedeutung dem Rezensenten jedoch nicht wirklich klar geworden ist. Maelicke ist übrigens nicht ganz frei von Selbstzweifeln: er nennt den „Rückzug der Strafvollzugsforscher“ (13) und die durch Wahlen bedingten kurzen Laufzeiten der Regierungsprogramme (16), während Suhling von solchen Zweifeln frei zu sein scheint. Umso bedauerlicher ist es, dass beide Herausgeber die immerhin vorhandene, sachkundige Kritik ihres Ansatzes gar nicht erwähnen (insbes. Christine Graebsch 2009; zusammenfassend AK StVollzG, 7. Aufl., 2017, 721 ff). Die, durchwegs sehr kompetenten, Einzelbeiträge versuchen dieser Zielsetzung zu folgen, können aber den innovatorischen Optimismus des Ansatzes der Herausgeber nicht immer bestätigen. So beschließen Endress/Breuer ihre Ausführungen über Behandlungsmaßnahmen- und programme mit dem Hinweis, diese seien „meist theoretisch plausibel, aber selten empirisch fundiert“ (105). Für den Bereich Bildung und Qualifizierung weisen Theine/Elgeti-Starke auf die Möglichkeiten, aber auch auf die engen Grenzen der Wirksamkeit pädagogischer Maßnahmen hin; sie nennen das Fehlen der Neuen Medien als Arbeitsmittel, aber auch den Konflikt mit der Arbeitspflicht (118 ff). Für die Sozialtherapie beklagen Wischka/v.d.Boogaart, dass eine „restriktivere Vollzugspolitik…den Handlungsspielraum für die Gestaltung veränderungsfördernder Rahmenbedingungen“ eingeschränkt habe, weshalb sie befürchten, dass die Wirksamkeit der Sozialtherapie sinke (152). Neubacher/Boxberg beschließen ihren materialreichen Bericht über das Kölner Forschungsprojekt zu Gewalt und Subkultur mit der skeptischen Frage, „ob konstruktive Lernprozesse dadurch ausgelöst werden, dass man den Gefangenen mit einer sublimieren Form von Gewalt durch die Anstalt begegnet“ (209). Dem einleuchtende Plädoyer von Yvonne Radecki für „soziale Sicherheit“ steht gegenüber die von ihr geschilderte rasante Entwicklung zu Videoüberwachung und anderen Formen instrumenteller Sicherung und dem damit einhergehenden Abbau persönlicher Beziehungen zwischen Bediensteten und Gefangenen (235). Walkenhorst/Fehrmannn zeigen sich kritisch gegenüber dem Transfer von „Change-Management-Konzepten der Wirtschaft“ in den Jugendvollzug und fragen „worum es in der Diskussion um Vollzugseinrichtungen als lernende Organisationen eigentlich gehen soll“: um Kosteneinsparungen oder um bestmögliche Förderung der Inhaftierten? (301). Maren Michels kennzeichnet den Frauenstrafvollzug als eine zusätzliche Diskriminierung durch „Übersicherung sowie geringere Angebotsvielfalt in und außerhalb der Anstalten“ (388). Ulrike Häßler und Thomas Maiwald beschreiben den „erschwerten Zugang zu adäquaten Behandlungsangeboten“ bei drogenabhängigen Gefangenen, sowie den „problembehafteten Umgang mit Substitutionsbehandlungen in Haft“ (425); sie fordern, die „Illusion eines drogenfreien Gefängnisses“ ebenso aufzugeben, wie die Abstinenzorientierung (437 ff). Selbst der erfolgreiche Manager der JVA Oldenburg, Gerd Koop, beschließt seinen Erfolgsbericht mit der skeptischen Frage nach Wirkung und Nachhaltigkeit dieser Arbeit: „Können wir mit unseren Mitteln die Gefangenen wirklich resozialisieren?“ (460). Auch der Leiter des Kriminologischen Dienstes NRW, Wolfgang Wirth, meint, „dass unser Erfahrungswissen noch nicht ausreicht, um zeigen zu können, inwieweit ein modernes Übergangsmanagement tatsächlich zu einer Verbesserung der vom Strafvollzug erwarteten Resozialisierungswirkungen führt“ (503). Für die neuen Zielsetzungen Opferorientierung (C. Jesse u.a.) bzw. Familienorientierung (Sandmann/Knapp) gibt es noch keine evidenzbasierten Erkenntnisse; diese könnten auch allenfalls durch qualitative Forschung erbracht werden. Für quantitative Forschung scheint sich das „Klima im Justizvollzug“ besonders gut zu eignen, weshalb Guéridon/Suhling „hoffen, dass das Klima in Zukunft häufiger Ziel geplanter, strukturierter und evidenzbasierter Maßnahmen ist“ (258). Das alles erscheint etwas wenig, um dem Strafvollzug eine glorreiche Zukunft zu prognostizieren.
Anders als die Herausgeber, geht der Rezensent von der Vorstellung aus, dass der Strafvollzug in Gefängnissen eine insgesamt überholte Sozialtechnologie darstellt. Die selbst gesetzten Ziele werden nicht erreicht, der Gefängnisaufenthalt hat zu viele unerwünschte Nebenfolgen (Desozialisierung, Mitbestrafung Dritter etc.) und die typischen Haftbedingungen (Zwangsarbeit, Zwangsarmut, Zwangszölibat etc.) verstoßen gegen elementare Menschenrechte. Die betriebswirtschaftliche Terminologie und Vorgehensweise („Personalentwicklung, Entrepreneurship, Marketing) mag für die Ministerien eine Hilfe darstellen (so Steinhilper/Papies für Niedersachsen (481). Ob dies die Resozialisierung im Gefängnis zu einem Erfolgsprodukt macht, muss nachdrücklich bezweifelt werden. Die im Titel des Buches enthaltenen Versprechen werden inhaltlich nur begrenzt eingelöst. Es geht fast durchwegs um den Ist-Zustand und nur selten um die Zukunft des Strafvollzuges. Eine der wenigen Ausnahmen stellt der Beitrag von Kirsten Drenkhahn über die Prognostizierbarkeit von Gefangenenpopulationen dar; sie rechnet, bei aller Skepsis gegenüber den „nur beschränkt brauchbaren“ Prognosemodellen, mit einem weiteren Rückgang der Gefangenenzahlen, warnt aber zugleich vor einem „proportionalen Abbau der Stellen“ (70). Hier zeigt sich das ganze Elend einer kriminalpolitischen Planung, welche die Institution Gefängnis für unveränderbar gegeben annimmt und sich von der wechselnden Anlieferung des „Gefangenenmaterials“ durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte abhängig gemacht hat. Der Schwachpunkt dieses aufwendig konzipierten und aus vielen interessanten Teilen bestehenden Buches besteht darin, dass der Titel „Das Gefängnis auf dem Prüfstand“ nicht eingelöst wird. Es fehlen Beiträge zur Frage, ob der Strafvollzug in Gefängnissen wirklich eine Zukunft hat bzw. ob eine solche wünschenswert wäre. Ansätze dazu finden sich in einigen Beiträgen. So kommen Judith Treig und Ineken Pruin anhand der vorliegenden Forschung zur Ersatzfreiheitsstrafe zur Forderung, dass diese Strafen „abgeschafft oder doch zumindest weiter zurückgedrängt werden sollten“ (339). Axel Dessecker beschäftigt sich kritisch mit der lebenslangen Freiheitsstrafe, klammert jedoch die „gelegentlich erhobene Forderung nach Abschaffung dieser Strafe“ ausdrücklich aus (356). Schade. Etwas mehr konnte man sich von dem abschließenden Teil des Buches versprechen. Es trägt die Überschrift: „Entwicklung des Systems der stationären und ambulanten Resozialisierung“. Hier wäre der Ort gewesen, die von Bernd Maelicke vielfach geforderte Ablösung größerer Teile des Strafvollzugs in Gefängnissen durch Bewährungshilfe bzw. Freie Straffälligenhilfe vorzustellen. Sowohl Wolfgang Wirth als auch Wolfgang Klug beziehen sich zwar in ihren Literaturangaben auf Maelickes „Komplexleistung Resozialisierung. Im Verbund zum Erfolg“ (2016). Wolfgang Wirth, Leiter des Kriminologischen Dienstes NRW, erschöpft sich jedoch in einer, im Zusammenhang mit ambulanten Möglichkeiten, befremdlichen Kettenmetaphorik (504 ff: „Förderketten“, „Wirkungsketten“, „Handlungsketten“, „Innovationsketten“). Wolfgang Klug, Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, konzentriert darauf, nachzuweisen, dass der „traditionelle“ sozialpädagogische Ansatz („Lebensweltorientierung“) nicht vereinbar ist mit „Erfordernissen des Zwangskontextes und der Evidenzbasierung in Bezug auf Rückfallverhinderung“ (541). Weiterführend erscheint mir allein der Beitrag von Klaus Roggenthin über „Freie Straffälligenhilfe – Probleme und Perspektiven angemessener Wirkungsforschung“. Der Autor zeigt nämlich, dass eine grundsätzlich wünschenswerte Wirkungsforschung in Bezug auf die freie Straffälligenhilfe mindestens drei „Stolperfallen“ vermeiden müsste (551 ff): das „betriebswirtschaftliche Wirkungsparadigma“(Aushebelung fachlicher Standards), die „Engführung Rückfallvermeidung“ (statt sozialer Eingliederung) und das „Kausalitätsversprechen“ (d.h. die Zählbarkeit der Erfolge). Forschungsgegenstand und Forschungsdesign müssten zu einander passen, weshalb Roggenthin ein qualitatives Vorgehen, speziell einen biographischen Ansatz, vorschlägt, um den Komplexitäten der Lebenswelt der Betroffenen und die damit verflochtenen Einflüsse der Sozialen Arbeit gerecht zu werden. „Ob ein so ambitioniertes und elaboriertes qualitatives Forschungsprojekt jemals finanziert und realisiert werden kann, wird die Zukunft zeigen“(563).
Aber auch unabhängig von den Ergebnissen jeder Art von Wirkungsforschung dürfte die von Thomas Mathiesen geforderte Haltung des Nein-Sagens gegenüber jeder Art von menschenfeindlichen Institutionen auf lange Sicht auch für die Zukunft dieser Institution entscheidend sein. Man dürfte einmal mit Befremden auf diese zurückblicken, wie wir dies heute bei der Sklaverei, der Folter und der Todesstrafe tun. Es ist daher bedauerlich, dass eine grundlegende Kritik der herrschenden Kriminalpolitik in diesem Bande ebenso ausgespart bleibt, wie jegliche Auseinandersetzung mit den Abolitionisten.
Wer sich allerdings mit einer Momentaufnahme des deutschen Strafvollzuges zufrieden gibt, wird nicht enttäuscht werden. Das Buch stellt zweifellos die gegenwärtig beste solche Momentaufnahme dar. Allerdings täuscht das Erscheinungsdatum 2018: der Stand der Literatur deutet auf eine z.T. weit frühere Fertigstellung der meisten Beiträge hin. Angesichts des Umfangs des Buches erscheint der Preis durchaus angemessen, auch wenn er sich für viele Interessenten als abschreckend erweisen dürfte, wenn diese nämlich nur an dem sie „betreffenden“ Kapitel interessiert sind. in diesem Fall empfiehlt es sich, entsprechende Kopien in der nächstgelegenen Stadt- oder Universitätsbibliothek anfertigen zu lassen.
Bernd Maelicke/Stefan Suhling (Hrsg.) Das Gefängnis auf dem Prüfstand. Zustand und Zukunft des Strafvollzugs. Springer: Wiesbaden 2018. XVIII + 588 Seiten. € 69,99 (als ebook: 54,99).