In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Büchern aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
Weitere Rezensionen finden sich hier.
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Titel: | Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland. Ein Leitfaden für Politik und Praxis |
HerausgeberInnen: | Maria Walsh, Benjamin Pniewski, Marcus Kober, Andreas Armborst | |
Jahr: | 2018 | |
Verlag: | Springer VS | |
ISBN: | 978-3-658-20505-8 |
Bei der Frage „What works?“ handelt es sich um die vermutlich berühmteste Frage der Kriminologie, die forschungsleitend und titelgebend für eine 1974 veröffentlichte Wirkungsstudie rehabilitativer Gefängnisprogramme in den USA war1.
In Deutschland widmet sich seit Januar 2016 das Nationale Zentrum Kriminalprävention (NZK) der Aufgabe, „wissenschaftliche Befunde über die Wirksamkeit von kriminalpräventiven Maßnahmen für Politik und Praxis verwertbar zu machen“ (VII). Insbesondere ist hier das vom NZK entwickelte Tool WESPE (Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Sicherheits- und Präventionsmaßnahmen durch Evaluation) hervorzuheben, dass Präventionsmaßnahmen und -programme gemäß eines komplexen Evidenzindex bewertet.
Mit dem nun vom NZK vorgelegten Sammelband „Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland. Ein Leitfaden für Politik und Praxis“ knüpfen die Herausgeber an eine in der deutschsprachigen Kriminologie und Kriminalpolitik verhältnismäßig junge Debatte zur wissensbasierten oder evidenzorientierten Kriminologie an2 und legen mit dem gut neunhundert Seiten umfassenden Werk eine beeindruckende Übersichtsarbeit zum aktuellen Stand der evidenzorientierten Kriminalprävention in Deutschland vor.
Das Buch richtet sich gleichermaßen an Lehrende, Forschende und Studierende der mit Kriminalprävention befassten Disziplinen sowie Praktikerinnen und Praktiker aus Verwaltung und Politik. Besonders hervorzuheben ist hier die klare Strukturierung der Beiträge, die in den meisten Fällen mit einer klaren Handlungsempfehlung enden.
Der 47 Beiträge umfassende Sammelband verbietet aufgrund seines Umfangs und Themenfülle eine ausführliche Rezension aller Beiträge. An dieser Stelle soll daher eine Übersicht über die Struktur und groben Inhalte der Aufsätze für einen ersten Überblick über das durchweg empfehlenswerte Werk genügen.
Das Buch ist in drei Teile und neun Kapitel unterteilt. Im ersten Teil und den beiden einführenden Kapitel werden die Entwicklung der evidenzorientierten Kriminalprävention in Deutschland skizziert und die wesentlichen mit der wissenschaftlichen Evaluation kriminalpolitischer Maßnahmen und -programme befassten Institutionen vorgestellt.
Der zweite Abschnitt des Buches widmet sich mit dem dritten und vierten Kapitel den theoretischen und methodischen Schwierigkeiten der wissenschaftlichen Evaluationsforschung sowie den Herausforderungen der Implementierung und Umsetzung kriminalpräventiver Maßnahmen durch Politik und Praxis.
Der dritte und letzte Teil des Buches ist verschiedenen Themenfeldern und Anwendungskontexten der Kriminalprävention gewidmet. Hierzu zählen Kinder- und Jugendalter/ Schule (Kapitel 5); Extremismus/ Radikalisierung (Kapitel 6); strafrechtlicher Sanktionen/ insbesondere Strafvollzug (Kapitel 7); kommunale und städtebauliche Kriminalprävention (Kapitel 8) und schließlich verschiedene Kriminalitäts- und Präventionsfelder wie z.B. Sexualstraftaten, Menschenhandel, Wohnungseinbruchdiebstahl, Alltagskriminalität (Kapitel 9).
Dieser beeindruckenden Themenvielfalt stehen zahlreiche Kriminalitätsfelder gegenüber, die hier keine Beachtung finden. Die Missachtung von Präventionsansätzen zu Verkehrsunfall-, Wirtschafts-, Umwelt- und anderen Delikten stellt sodann den schwerwiegendsten Kritikpunkt an dem ansonsten uneingeschränkt empfehlenswerten Sammelband dar, der ohne Zweifel seinen berechtigten Platz als Standardwerk zur evidenzorientierten Kriminalprävention in Deutschland einnehmen wird.
Inhalt
Teil 1: Ideen und Entwicklungen
Kapitel 1: Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland
- Einführung: Merkmale und Abläufe evidenzbasierter Kriminalprävention (Armborst, Andreas)
- Entwicklung der Kriminalprävention in Deutschland (Kerner, Hans-Jürgen)
- Das Düsseldorfer Gutachten und die Folgen (Coester, Marc)
- Die Entwicklung des Opferschutzes in Deutschland (Gebhardt, Christoph)
- 25 Jahre Gewaltprävention im vereinten Deutschland – Entwicklungen, Erfolge, Defizite und Perspektiven [Voß, Stephan (et al.)]
Kapitel 2: Außeruniversitäre Akteure
- Die Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention (DFK) und ihre Arbeitsstelle Nationales Zentrum für Kriminalprävention (NZK) – Entstehungsgeschichte, Aufgaben und Perspektiven (Daniel, Stefan)
- Evidenzorientierte Qualitätssicherung in der Polizeiarbeit – am Beispiel des Programms Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes [Klotter, Gerhard (et al.)]
- Evaluation in der Polizei – Aufbau von Strukturen und Kapazitäten am Beispiel NRW (Dungs, Ingo)
- Erfahrungen des Landespräventionsrates Niedersachsen (LPR) bei der Umsetzung einer qualitätsorientierten und evidenzbasierten Präventionspraxis [Groeger-Roth, Frederick (et al.)]
- Jugendgewaltprävention und Wirkungsorientierung: Monitoring, Evaluation und Transfer durch die Berliner Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention [Glock, Birgit (et al.)]
Teil 2: Voraussetzungen und Methoden
Kapitel 3: Erfordernisse und Schwierigkeiten der Evidenzschaffung
- Die Konstruktion von Evidenz in der Präventionsarbeit (Dollinger, Bernd)
- Evidenzorientierung strafrechtlicher Sanktionen – Chancen, Risiken und Nebenwirkungen (Graebsch, Christine)
- Herausforderungen der Durchführung politik- und praxisrelevanter kriminologischer Forschung (Höynck, Theresia)
- Schwierigkeiten bei der Implementierung von Evaluationsforschung in der Praxis [Pniewski, Benjamin (et al.)]
- Probleme der Replikation von Ergebnissen in der Kriminalprävention und die Notwendigkeit der Differenzierung [Lösel, Friedrich (et al.)]
Kapitel 4: Methoden und Evidenzschaffung
- Die Bedeutung von randomisierten Experimenten bei der Evaluation von Kriminalprävention [Weisburd, David (et al.)]
- Methodische Herausforderungen in der Evaluation von Straftäterbehandlungsprogrammen [Oberlader, Verena (et al.)]
- Prävention von Delinquenz im Kindes- und Jugendalter – ein komplexer Gegenstand für Evaluationen [Fischer, Thomas A. (et al.)]
- Das Logische Modell als Instrument der Evaluation in der Kriminalitätsprävention im Kindes- und Jugendalter [Yngborn, Annalena (et al.)]
- Kosten-Nutzen-Analyse in der Kriminalprävention [Entorf, Horst (et al.)]
Teil 3: Bedarfe, Herausforderungen und Fortschritte
Kapitel 5: Entwicklungsorientierte und schulische Kriminalprävention
- Entwicklungsorientierte Kriminalprävention: Wissenschaftliche Fundierung und Ergebnisse der Evaluation (Beelmann, Andreas)
- Entwicklungsförderung in Familien – Eltern und Kindertraining: Das EFFEKT-Programm als ein Beitrag zur Prävention [Bender, Doris (et al.)]
- NETWorks Against School Shootings (NETWASS) – Ein evidenzbasierter Ansatz zur Prävention psychosozialer Krisen und schwerer, zielgerichteter Gewalt in Schulen [Fiedler, Nora (et al.)]
- Entwicklungsförderung und Gewaltprävention für junge Menschen – Meilensteine auf dem Weg zu einer Strategie der systematischen Weiterentwicklung sowie Verbreitung wirksamer und praxistauglicher Präventionsansätze in Deutschland (Kahl, Wolfgang)
Kapitel 6: Extremismus und Radikalisierung
- Prävention von politischem Extremismus in Deutschland (Gansewig, Antje)
- Überlegungen zur Schaffung einer Evidenzgrundlage für die Präventionsarbeit im Bereich islamistischer Extremismus [de la Chaux, Marlen (et al.)]
- Radikalisierung und Deradikalisierung im Justizvollzug [Endres, Johann (et al.)]
Kapitel 7: Strafrechtliche Sanktionen, Straftäterbehandlung und Strafvollzug
- Die Wirkung strafrechtlicher Sanktionen auf die Legalbewährung (Tetal, Carina)
- Strafvollzug (Suhling, Stefan)
- Gewaltprävention im Justizvollzug [Endres, Johann (et al.)]
- Effekte der Tertiärprävention bei Sexualstraftätern – ein kriminalpräventives Erfolgsmodell (Rettenberger, Martin)
- Kriminalprävention durch elektronische Aufsicht? [Meuer, Katharina (et al.)]
- Das Jugendstrafrecht aus evidenzorientierter Perspektive – Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen (Meier, Bernd-Dieter)
- Aufgaben und Möglichkeiten einer Qualitätsbewertung des Strafvollzugs am Beispiel des Wiesbadener Verlaufsprojekts [Bock, Michael (et al.)]
- Wiedereingliederung nach der Entlassung aus dem Strafvollzug: Evidenzbasierte Perspektiven [Pruin, Ineke (et al.)]
Kapitel 8: Kommunale und städtebauliche Kriminalprävention
- Grundlagen und Praxis der Kommunalen Kriminalprävention [Hermann, Dieter (et al.)]
- Evidenz in der Kommunalen Kriminalprävention – Zur Wirksamkeitsanalyse von Kooperationsstrukturen [Kober, Marcus (et al.)]
- Evidenzorientierte Kriminalprävention im Bereich der Stadtplanung – Zur Anwendung kriminalpräventiver Erkenntnisse in der städtebaulichen Praxis [Dünkel, Frieder (et al.)]
- Städtebauliche Kriminalprävention in der Praxis (Schürmann, Detlev)
Kapitel 9: Ausgewählte Themen, Ansätze und Maßnahmen der Kriminalprävention
- Evidenzbasierte Kriminalprävention im Bereich Menschenhandel (Haverkamp, Rita)
- „Scared Straight!“-Programme in Deutschland und internationale Erkenntnisse (Sturm, Lisa)
- Chemische Kastration und andere medikamentöse Interventionen zur Desexualisierung von (potentiellen) Sexualstraftätern in Deutschland [König, Andrej (et al.)]
- Ein Kampf gegen Windmühlen? Zur Prävention von Alltagsdelikten (Knickmeier, Susanne)
- Kriminalprävention durch Restorative Justice – Evidenz aus der empirischen Forschung [Trenczek, Thomas (et al.)]
- Möglichkeiten zur Prävention im Bereich Wohnungseinbruchdiebstahl [Dreißigacker, Arne (et al.)]
- PräDiSiKo – Bessere Kriminalprävention durch digitale Sicherheitskommunikation? [Jerke, Viktoria]
- Handlungsempfehlungen für die Evidenzorientierung in der deutschen Kriminalprävention [Walsh, Maria (et al.)]
R. Martinson (1974): What works? – questions and answers about prison reform. The Public Interest, Spring 1974, S. 22-54. ↩
Lösel, F.; Bender, D.; Jehle, J. M. (Hrsg.) (2007) Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik: Entwicklungs- und Evaluationsforschung. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg. ↩