Vor kurzem hat der Deutsche Bundestag die Massaker, die die Türken an den Armeniern verübten, als Völkermord bezeichnet und sich damit vor allem mit dem türkischen Staatschef Erdogan angelegt. Den konnte man noch nie leiden. Naja, immerhin ist man ja auf eine Zusammenarbeit mit ihm in der Syrienfrage angewiesen, weswegen wohl auch Merkel und Steinmeier durch Abwesenheit glänzten. Angesichts dieser moralischen Entrüstung bin ich nun ins Grübeln gekommen: gab es eigentlich einmal eine Bundestagsresolution, die die Massaker der weißen protestantischen Nordamerikaner an den Indianern zum Völkermord erklärte? Hm, ich kann mich nicht erinnern. Im Internet fand ich nichts darüber, allerdings hat wohl der amerikanische Regisseur Quentin Tarantino Anfang 2013 einmal die Verantwortlichkeit Nordamerikas für zwei Holocausts, nämlich der (weitgehenden) Ausrottung der Indianer und der Sklaverei, betont: http://www.sueddeutsche.de/kultur/rassismus-debatte-um-django-unchained-warum-tarantino-sklaverei-und-holocaust-vergleicht-1.1569235
In einem Blog, der darauf bezugnimmt, findet sich der Satz: „Paradoxerweise beförderte gerade die Idee der Freiheit des Menschen den Völkermord.“
Christopher Lasch spricht von der „Versuchung, sich der Kultur zu entledigen und in die Barbarei zurückzufallen“ (Das Zeitalter des Narzissmus, S. 30). In Nordamerika hatten protestantische Fundamentalisten die Ureinwohner kurzerhand zu Unmenschen erklärt und bedenkenlos und oft mittels Täuschung ermordet. Als Kriminologe mag man sich dann über die Naivität mancher Kriminalitätstheorien gerade amerikanischer Provenienz wundern. Nach Lasch hatten die Weißen in den Indianern und der Natur „die innere Wildnis“ ihres eigenen Inneren gesehen und bekämpft. Mit Max Scheler lässt sich hier von „lebensfeindlicher Askese“ sprechen, die im übrigen die kriminologische Selbstkontroll-Theorie blind affirmiert. Das Lebendige wird zu Fehlverhalten erklärt, weil es nicht verstanden wird. Das führt zur Aporie von Überanpassung und Fundamentalopposition. In letzterem Sinne lassen sich vielleicht Massaker wie das von Orlando erklären. Schlagworte wie Terrorismus sind dagegen nichts als Tautologien und erklären nichts. Die Impulse zu solchen Taten kommen nicht von Ideologien, wie der kognitivistische Westen glaubt. Sie bedienen sich der Ideologien nur als Rechtfertigung, also ganz in der „Tradition“ des westlichen Rationalismus.
Wenn wir von fundamentalistischer Gewalt sprechen, dann dürfen wir also nicht vergessen, wie sehr der Fundamentalismus auch in unserer Kultur präsent ist – nämlich als Produkt gerade einer rigiden Selbstkontrolle, die vor allem mit der Abwertung einer haltgebenden lebendigen Tradition zu tun haben dürfte. Stattdessen klammern wir uns an (vor allem digitale) Bilder mit erschreckend kurzer Halbwertzeit, frönen dem kulturellen Narzissmus und wundern uns über die narzisstischen Exzesse Einzelner.
Ich übernehme hier aus dem genannten Blog noch einen Abschnitt über das Schicksal der Cherokee. Das mag den Wert empiristischer Kriminalitätstheorien weißer amerikanischer Autoren doch stark relativieren, insbesondere die Hypostasierung der Selbstkontrolle als Ausweis einer geschichtsvergessenen und blind positivistischen Kriminologie, die ihre ideologischen Grundlagen verkennt:
Die 18.000 Cherokee besiedelten die Appalachen. 1820 führten sie eine eigene Schrift ein und druckten eine eigene Zeitung. Sie gingen den „Weg des weißen Mannes“ und verknüpften ihn mit ihrer eigenen Tradition.
Ihre Gesellschaft baute auf ökonomischem Kommunismus auf und ermöglichte zugleich ein hohes Ausmaß an individueller Freiheit. Die Cherokee resozialisierten Gesetzesbrecher, die sie als „kranke Menschen“ betrachteten. Sie kannten keine Gefängnisse. Es gab keine Slums, und es gab keine Arbeitslosen. Die Lebenserwartung lag wesentlich höher als im „weißen“ Amerika. Doch 1830 erklärte Georgia das Territorium der Cherokee zum Eigentum des Staates. Das oberste Gericht der USA erklärte die Enteignung zwar für verfassungswidrig; das Urteil blieb aber unbeachtet. Weiße Räuber nahmen sich das Land der Cherokee – und weiße Gerichte verurteilten die Bestohlenen mit Lug und Trug zum Tode.
Die US-Army vertrieb die Cherokee in das heutige Oklahoma im Mittelwesten. Jeder vierte der 18.000 Cherokee starb auf dem Marsch an Hunger, Erschöpfung und Krankheit, etliche verreckten in den fünf Jahren darauf. Georgia begründete die Vertreibung mit dem „Argument“, dass Wilde und Zivilisierte nicht zusammen leben könnten. Mit Zivilisierten meinten sie den Mob, der sich das geraubte Land unter den Nagel riss. Die Cherokee hinterließen Kirchen, Akademien, Textilfabriken, Bergwerke, Anwaltskanzleien, Zeitungsbüros, Krankenhäuser, Handwerksbetriebe, die erste Porzellanmanufaktur Amerikas und alles andere, was so typisch für „unzivilisierte Wilde“ ist.
Gadamer schreibt
Zunächst ist das Unrecht an den Ureinwohnern Amerikas ein viel vielschichtigers Problem als Sie es hier darstellen. Auch war dieses Unrecht selbst in den USA nie einhellig (und bis heute) bestritten worden, selbst Zeitgenossen bis hin zu ranghohen Bundepolitikern haben sich wiederholt und eindringlich für die Rechte der Ureinwohner und gegen deren Mißhandlung eingesetzt.
Das ist aber alles nicht der Punkt: Grund für die Entscheidung des Bundestages war, dass dem Deutschen Reich ein Mitverschulden am Genozid an den Armeniern zukam. Nur deshalb kam es zu dieser nunmehr offiziellen Verurteilung.
Das sie sich mit dem Thema beschäftigen und trotzdem so wesentliche Fakten völlig außer Acht lassen ist gelinde gesagt enttäuschend, man könnte auch noch andere Worte dazu finden.
Schließlich ist ihr ganzer Beitrag im Grunde auch nur #whataboutism in Reinform.
Andreas Prokop schreibt
Danke für die Einwände, die Sie gegen meinen kurzen, spontanen Text erheben. Das hier ist natürlich ein Blog und keine Monographie, und natürlich ist die Ausrottung der Indianer – wie im Übrigen alles – ein vielschichtiges Problem. Aber sicherlich spielt der Calvinismus (die calvinistische Kirchenzucht) hier keine geringe Rolle, um nur mal ein Stichwort zu nennen. Den Türken wird diese Vielschichtigkeit im Übrigen aber wohl nicht zugestanden.
Ob man etwas bestreitet oder nicht, ist ein Umstand, der ebenfalls – das verlangen Sie für den Völkermord an den Indianern, den Sie als „Unrecht“ verniedlichen – viel differenzierter zu beurteilen, als Sie das hier tun. Denn da muss man erst mal den jeweiligen kulturellen Hintergrund in den Blick nehmen und insbesondere die jeweilige Bedeutung der Geschichte für die Stabilisierung einer Kultur. Dass die Grausamkeit gegen die Indianer in den USA, wie Sie sagen, nie einhellig bestritten wurde, kann auch damit zusammenhängen, dass man dort überhaupt eher gleichgültig bis feindselig gegenüber der Geschichte (abgesehen von ein paar verbrämten Daten) und dem generationellen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, wie jedenfalls Christopher Lasch (Das Zeitalter des Narzissmus) und andere Diagnostiker dieser Kultur schreiben. Das ist aber gerade ein Problem der westlichen positivistischen Kultur („vaterlose Gesellschaft“; etwa P. Federn, Mitscherlich, Legendre), wie man gerade an deren Rändern beobachten kann, während im Inneren der Sinn (jenseits des Konsums) verlorenzugehen droht. Aber auch der Rechtsradikalismus gehört in diesen Zusammenhang.
Dass einzelne Politiker verbal gegen Missstände eintreten sagt m. E. nicht viel, weil sie damit oft die kulturbezogenen konfigurativen Zusammenhänge (Wirtschaftsimperialismus, Triebstruktur) leugnen, und dies aus einer privilegierten Position heraus tun. Täter sind dann in der Regel die Minderprivilegierten. Wenn man dieses System prinzipiell affirmiert, dann kann man sich über dessen „Auswüchse“ (Adorno) nicht beklagen.
Dass es bei der Resolution um die deutsche Beteiligung ging, klingt sehr formal-juristisch. Ob der vorgetragene Grund wirklich Grund oder nur Rationalisierung ist, mag aber dahin gestellt bleiben. Nur der Zeitpunkt irritiert doch sehr. Man hatte jede Menge Zeit und hat sie verstreichen lassen. Das gilt ja auch großenteils für die Aufarbeitung des NS, trotz oder gerade wegen der neuerlichen Fritz-Bauer-Euphorie. Jetzt ist es eine verbale Bekundung ohne Konsequenzen und lässt an masochistischen Lustgewinn denken, auch wenn ich die positive Wirkung auf die Armenier durchaus anerkenne. Trotzdem erscheint es, als wollten wir nun (zumindest) moralisch die Größten sein.