Am Dienstag vor einer Woche ist ein Flugzeug der Lufthansa-Tochter Germanwings in den französischen Alpen abgestürzt. Die Ursache war aber aller Wahrscheinlichkeit nicht, wie zunächst voreilig in den Medien debattiert, ein technischer Mangel, sondern ein intentionaler Akt massiver Gewalt des Co-Piloten. Man rätselt nun, ob es sich um ein Verbrechen handelt, oder nicht, das heißt, ob ein Mensch gehandelt hat oder eine Geistesstörung. Im DLF haben sich Zuhörer unter anderem darüber beschwert, dass nun wieder „die unsäglichen Psychologen ihren Senf dazugeben“. Meine Kritik an den entsprechenden Stellungnahmen bezieht sich nicht auf die Einbeziehung des Psychischen in solchen Fällen generell – Léon Wurmser hat der westlichen Kultur vielleicht nicht zu Unrecht eine „Psychophobie“ attestiert – sondern auf die ewige Wiederkehr des Gleichen, nämlich einer verdinglichenden Bezugnahme auf „psychische Krankheiten“ wie „Depression“, als könne ein abstraktes Konzept eine Subjektfunktion ausüben. Wir behandeln das Seelische wie eine technische Angelegenheit, das durch klar benennbare Störungen beeinträchtigt sein kann, aber das ist eine Chimäre. Leider wissen wir, wie etwa Rodolf Eucken oder später Kurt R. Eissler betont haben, mehr über technische Dinge, mehr über das Atom als über uns selbst. Auch die akademische Psychologie und Psychiatrie machen in ihren Hauptströmungen einen großen Bogen um das Psychische und obstruieren es mit dem technisch Messbaren, Äußeren.
Ob es sich bei der Tat, die als Massenmord erscheint, um ein Verbrechen im juristisch formalen Sinne handelt, wird sich nicht feststellen lassen (es sei denn, man wendet begriffliche Gewalt an), denn wie schon Fritz Mauthner vor über hundert Jahren schrieb, kann der Psychiater dem Juristen die von diesem verlangte Genauigkeit nicht bieten – es ist immer Spekulation. Denn Krankheit ist ein abstraktes Konzept, dass dort seine Berechtigung hat, wo jemand um institutionelle Hilfe ersucht, aber keine Tatsache, Faktum nur im Sinne des Konstruierten. Auch der Zugang zu Krankenakten kann da keine Gewissheit bringen.
Was auf der Hand liegt, aber notorisch verkannt wird, ist massive Aggression. Wenn jemand diese Aggression zugleich gegen sich selbst und eine Vielzahl (fremder) anderer richtet, dann deutet das darauf hin, dass er zwischen diesen Anderen und sich selbst auf einer bestimmten psychischen Ebene nicht oder kaum zu unterscheiden vermag. Solche Fälle wie der des Piloten Lubitz zeigen, dass die äußere Anpassung, die Präsentation von Normalität durchaus mit eine eklatanten psychischen Unreife einhergehen kann.
Angesichts der aktuellen Konjunktur des Redens über Depression wird man Zeuge, wie manche Psychiater sich in die Rolle des Goetheschen Zauberlehrlings versetzt finden: „Besen, Besen, sei’s gewesen!“ Die meisten Depressiven sind doch Gute, nur ein paar sind genetische Monster, die in die chemische Zwingburg gehören. Was ist das anderes als eine fatale Form des Othering? Diese naturalistische Doktrin besagt nämlich auch – wenn unsere Maßnahmen nichts fruchten, dann liegt das nicht etwa an der Untauglichkeit dieser Maßnahmen, sondern an Deinen monströsen Genen.
Vor allem wird in diesem Zusammenhang auch von Psychologen eine fragwürdige Konfusion der Begriffe Trauer und Depression betrieben. Verlusterfahrungen erzeugen nicht zwangsläufig Depression, wie etwa ein Luftfahrtpsychologe bei Günther Jauch behauptet hat, sondern Depression ist Ausdruck von Ambivalenz, also auch aggressiven Impulsen gegen einen bestimmten (verlorenen) Anderen, die nicht akzeptiert werden können. Unsere Kultur hat aber generell ein Problem mit Aggression, die man gerne projiziert – man vermutet den Feind immer außen und es ist deshalb paradigmatisch, dass man für die innere Gefahr im Flugverkehr keine Vorsorge getroffen hat. Die Krankheitsmetapher bietet sich als wohlfeile Lösung an, aber damit beißt sich die Katze in den Schwanz.
Dass „Depression“ (oder gentrifiziert „Burnout“) als Volkskrankheit betrachtet wird, besagt nichts weiter, als dass unterdrückte bzw. nicht in die Person integrierte aggressive Impulse in unserer Kultur notorisch sind. In der Regel verhindern die damit verbundenen Schuldgefühle den Ausbruch, aber eine tiefe Regression auf den primären Narzissmus (primitive Allmachtsgefühle; etwa durch das Fliegen begünstigt – Argelander hat sein Buch über den Narzissmus „Der Flieger“ genannt), kann die primitive, unintegrierte Zerstörungswut, etwa anlässlich einer narzisstischen Kränkung freisetzen. Bezeichnend ist im Übrigen auch, dass gerade die Sicherheitsmaßnahmen das Flugzeug zur tödlichen Falle gemacht haben – wie in der griechischen Geschichte des Ödipus es die Sicherungsmaßnahmen der Eltern (die Aussetzung des Ödipus) zur Verwirklichung der geweissagten Taten – Vatermord und Mutter-Inzest – geführt hatten. Auch jetzt wieder flüchtet man sich in einen fragwürdigen Aktionismus – irgendwann muss doch mal die totale Sicherheit erreicht werden.