In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Bücher aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
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Titel: | Gewalt und Mimikry – Vom frühen Trauma zum Amoklauf | |
Autor: | Andreas Prokop | |
Jahr: | 2016 | |
Verlag: | Springer | |
ISBN: | 978-3-658-13796-0 |
Dr. Andreas Prokop, Kriminologe und regelmäßiger Autor hier auf Criminologia, hat kürzlich seine Dissertationsschrift im Springer-Verlag vorgelegt.
„Gewalt und Mimikry. Vom frühen Trauma zum Amoklauf“ ist eine gut 300 Seiten starke, intellektuell herausfordernde Abhandlung, die sich abseits der ausgetretenen Pfade der ‚Mainstream-Kriminologie‘ einer sozialpsychologischen und psychoanalytischen Beschreibung und Erklärung von sog. Amokläufen widmet. Ich habe mich mit Andreas über seine „meinungsstarke Streitschrift“ (Lorenz Böllinger im Geleitwort) unterhalten.
Andreas, Du hast Dich die letzten Jahre im Rahmen Deiner Dissertation, die jetzt in Buchform vorliegt, mit Amokläufen beschäftigt. Wie bist Du auf dieses in der ‚Mainstream-Kriminologie‘ doch eher vernachlässigte Thema gekommen?
Christian, dass die ‚Mainstream-Kriminologie‘ das Thema vernachlässigt hätte, kann man vielleicht nicht einmal sagen; nur, dass sie dabei einen zu kurz greifenden ‚methodisch-individualistischen‘ Ansatz verfolgt. Die ‚kritische Kriminologie‘ wiederum, der wir ja beide verpflichtet sind, hat den Einzelnen – mit Klaus Horn den Vereinzelten – wohl zu sehr aus den Augen verloren.
Ein wesentlicher Anlass für meine Beschäftigung mit dem Thema amokartige Gewalt war sicherlich die Schockwirkung des Amoklaufs von Erfurt im Jahre 2002, den ich allerdings nicht untersucht habe. Ich wohnte damals in Jena, war also nicht weit entfernt vom Ort des Geschehens. Der ehemalige Gymnasiast Robert Steinhäuser, der von seiner Schule verwiesen worden war, hatte dort 16 Menschen und sich selbst mit Schusswaffen getötet. Zum Schulverweis war es gekommen, weil Steinhäuser ärztliche Atteste gefälscht hatte. Seinen Eltern gegenüber hatte er vorgetäuscht, weiterhin das Gymnasium zu besuchen. Als die Abiturprüfungen fällig waren, drohte die Täuschung aufzufliegen.
In solchen Fällen wird gerne der Terminus der ‚psychischen Störung‘ ins Feld geführt, der zwar beruhigend wirkt – ein bedauerlicher Einzelfall ohne Bezug zum gesellschaftlichen Ganzen. Wenn aber auf der Makro-Ebene Staaten wie die USA Kriege wegen bedrohter Glaubwürdigkeit – der Gefahr, dass die eigene ‚Wahrheit‘ nicht mehr genügend Unterstützer findet – führen und dabei den Tod vieler Menschen in Kauf nehmen wie in Vietnam, Afghanistan und im Irak – dann wird man in der Regel nicht die kollektive psychische Erkrankung der jeweiligen Regierung als Erklärungsmuster in Anspruch nehmen. Zwar argumentiere auch ich mit psycho- und soziostrukturellen Imbalancen bei den Betreffenden, die man aber nicht ohne Berücksichtigung der kulturellen und allgemeinmenschlichen Rahmenbedingungen verstehen kann. In Bezug auf die Amokfälle wird häufig auf den Narzissmus der Täter verwiesen, ohne auf den kollektiven Narzissmus unserer Kultur (oder von Kultur überhaupt) einzugehen, den solche Täter in gewisser Weise komplementieren. Christopher Lasch sprach 1979 im Hinblick auf die USA von einer ‚Kultur des Narzissmus‘ (deutsch: Das Zeitalter des Narzissmus). Sie übertreiben nur das, was allgemein prävalent ist: Schein ist Sein. Das Image, die Abbildung zählt mehr als die körperliche Existenz. Wenn gedankenlos von ‚Extremismus‘ die Rede ist, dann vergisst man in der Regel diesen konfigurativen Aspekt.
Während wir nun sehr viel Wert auf das von außen Feststell- und Messbare legen, können diese aktuellen Umstände amokartige Gewalt häufig kaum erklären. Dafür spricht gerade das ‚Missverhältnis‘ zwischen Anlass und Tat, auf das der damalige Thüringer Kultusminister Krapp gegenüber den Eltern Steinhäusers verwies, das er aber gleichsam nur ‚imaginär‘ (im Sinne Lacans) bzw. moralisierend in den Blick nehmen konnte, d. h., ohne dieses Missverhältnis auf einer symbolischen Ebene zu hinterfragen.
Auch die „Protagonisten“ wissen häufig nicht, was sie motiviert; angebbare Motive sind dann nur Rationalisierungen, Spiegelungen allgemeiner Vorstellungen von klischéehaften Motivationszusammenhängen. Diese, nennen wir sie mal Protosymbole, stehen für etwas Anderes, für eine Not, zu der der Betreffende keinen unmittelbaren Zugang hat. So könnte der Schulausschluss sowie die damit verbundenen Entscheidungen und Neuorientierungen psychisch für eine katastrophale Trennungs- und Todesangst aus der frühesten Kindheit stehen, gegen die sich im Übrigen auf der Makroebene auch unsere Kultur durch vielfältige Anstrengungen – etwa die Technologisierung – zu versichern sucht. Hier setzt auch die Produktwerbung an, indem sie den Besitz eines Produkts implizit mit der Aufhebung der Getrenntheit (von der Mutter, der Welt) gleichzusetzen sucht. Die Kultur so zu sehen, wirkt unvertraut und dürfte Widerspruch hervorrufen. Aber ich bin immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass die kulturelle Verleugnung bestimmter Härten der Existenz und ihre künstliche Manifestation im Gewaltakt nicht isoliert voneinander betrachtet werden können. Der Mensch kommt, anders als das Tier, in einem sehr unreifen Zustand auf die Welt und ist deshalb in besonderem Maße auf eine angemessene Versorgung nach der trennenden Geburt angewiesen. Dies ist gerade in unserer technologisch so fortgeschrittenen Welt in besonderem Maße prekär, da wir übermäßig auf rationales Denken gesetzt, Empathie dagegen vernachlässigt und abgewertet haben. Wenn in der Forschung von ‚Empirie‘ die Rede ist, dann meint man häufig eine rationalistisch verstümmelte Wirklichkeit.
Mich hat also interessiert, wie man etwas über die tieferliegenden ‚Motivationsstrukturen‘ von Amoktäter herausfinden kann. Möglich sind hier nur Rekonstruktionsversuche, etwa aufgrund der psychoanalytischen Klinik und der philosophischen Selbsterkundung des Menschen. Dies wäre gegenüber dem empiristischen, atomistischen Ansatz ein eher holistischer im Sinne der Duhem-Quine-Hypothese. Insbesondere die psychoanalytische Erkenntnis, dass Menschen traumatische Erfahrungen immer wieder reinszenieren – das wird als Wiederholungszwang bezeichnet –, kann hier weiterhelfen. Das Verständnis erfordert aber, sich von der (dem erwachsenen Denken entsprechenden) Alltagsrationalität zu lösen, die beim Überleben hilft, aber nicht unbedingt der Erkenntnis dient. Dabei scheint mir der psychoanalytische und soziologische Diskurs über den Narzissmus einen sinnvollen Ansatz zu bieten. ‚Narzissmus‘ ist ein Begriff, mit dem sich sehr unterschiedliche Inhalte verbinden, im Sinne eines Wittgensteinschen Wortspiels. Hier wird damit der Versuch bezeichnet, sich den Mühen des Lebens und der Getrenntheit von der (mütterlichen) Welt zu entziehen. Der Littleton-Attentäter Dylan Klebold etwa hatte gehofft, nach der Tat in einen „Raum reinen Glücks“ zu gelangen. Vorstellungen von der vorgeburtlichen Existenz im Mutterleib werden hier evoziert.
Das erinnert entfernt an Mertons Anomietheorie, die ja davon ausgeht, dass Kriminalität die Konsequenz eines anomischen Zustandes sein kann, der auf eine Diskrepanz zwischen kulturell vorgegebenen Erwartungshaltungen und strukturell bedingten Mitteln zur Zielerreichung zurückzuführen ist. Welchen Mehrwert zu gängigen Kriminalitätstheorien siehst Du in den psychoanalytischen Theorie, auf die Du Dich beziehst?
Die Anomietheorie ist sicherlich ein fruchtbares Erklärungsinstrument auf der Makroebene. Mit einer Version der Anomietheorie, wie sie von Robert Agnew vertreten wird, habe ich mich auch in meinem Buch auseinandergesetzt. Ich habe dort allerdings kritisiert, dass die Anomietheorie eine Persönlichkeitsstruktur voraussetzt, die ihrerseits als historisch kontingent zu betrachten ist. Das betrifft in diesem Fall insbesondere den prävalenten Narzissmus des ‚außengeleiteten‘ Menschen. Er möchte wie Narziss mit den äußeren Verhältnissen, dem von der Gesellschaft erzeugten Bild des Guten verschmelzen, in das er sich selbst hineinprojiziert.
Der ‚ödipale‘ bzw. ‚innengeleitete‘ Mensch – der also durch ein individuelles Gewissen geprägt ist – dürfte gegenüber der von Dir genannten Diskrepanz wesentlich resistenter sein. Amerikanische Soziologen wie Riesman, Sennett, Lasch, die ihrerseits von der Psychoanalyse beeinflusst sind, haben allerdings dessen Niedergang diagnostiziert und etwa dem ‚Organization Man‘ früherer Zeiten den neuen Managerismus gegenübergestellt. Die aktuelle VW-Affäre ist ein typisches Produkt einer solchen Entwicklung. Auch ein Beispiel für den prävalenten kulturellen Narzissmus.
Zurück zu den Kriminalitätstheorien. Der Mehrwert der Psychoanalyse besteht hier sicherlich darin, dass sie gegenüber den statischen Theorien einen dynamischen Ansatz bietet. Denn den stärker aggregierten Kriminalitätstheorien gelingt es häufig nicht, einerseits die Kontingenz der beobachteten Verhältnisse als auch Veränderungen der prävalenten Persönlichkeitsstrukturen zu berücksichtigen. Auf der Basis psychoanalytischer Theorien lässt sich demgegenüber ein dynamischer Mikro-Makro-Ansatz entwickeln, wie er etwa von Henner Hess und Sebastian Scheerer angedacht worden ist.
Du kritisierst in Deiner Arbeit Erklärungsansätze, die auf Gottfredson & Hirschis „General Theory of Crime“ fußen. Worin bestehen die Unzulänglichkeiten dieser theoretischen Annahmen Deiner Meinung nach?
Die GST, die ausgehend vom utilitaristischen Rational-Choice-Modell Kriminalität als eine Frage mangelnder Selbstkontrolle versteht, ist immer noch sehr beliebt in Forschungsdesigns, weil sie leichte ‚empirische‘ Überprüfbarkeit verspricht. Der dafür zu zahlende Preis ist jedoch aus meiner Sicht eine erhebliche konzeptuelle Diffusion.
Die Theorie geht von einem sozusagen bürgerlichen Menschenbild aus, dem des sogenannten ‚innengeleiteten‘ (David Riesman) Menschen: Der (bürgerliche) Mensch ist ein rationaler Akteur, der eine Kosten-Nutzen-Rechnung anstellt und deshalb über diese Berechnung gesteuert werden kann. (Die Rolle des Gewissens bleibt bei Gottfredson und Hirschi unberücksichtigt.) Wenn er aus dieser Sicht ‚irrational‘ agiert, also trotz überverhältnismäßiger Kosten (durch Strafe) nach Genuss strebt, dann liegt das nach dieser Theorie an mangelnder Selbstkontrolle. Das impliziert natürlich, dass man einen objektivierbaren Nutzen unterstellt, was an sich schon fragwürdig ist. Individuell dürfte hingegen die Nutzenbewertung höchst unterschiedlich ausfallen, da ja oft der ‚symbolische‘ Nutzen den realen ausspielen dürfte. Das gilt vor allem auch für die Amokfälle.
Diese Selbstkontrolle wiederum betrachtet die Theorie als einen Erwerb der Erziehung durch Überwachen und Bestrafen von aus Sicht der Erwachsenen unerwünschtem Verhalten.
Die Autoren haben dabei zurecht auf die Willkürlichkeit der Kriminalitätszuschreibung verwiesen und auf analoge Phänomene wie Drogengebrauch oder Arbeitsunwilligkeit aufmerksam gemacht. Während solche Phänomene etwa in der Psychoanalyse oder der Kultursoziologie in wesentlich differenzierterer Weise untersucht worden sind, behauptet die Theorie Gottfredsons und Hirschis nun ein allzu schlichtes Modell, dem sie allerdings wohl auch ihre Prominenz verdankt. Man könnte sagen: um in den Genuss des Verstehens zu gelangen, werden dem Leser keine besonderen Anstrengungen abverlangt, da die Theorie an alltagstheoretische Vorstellungen des Mittelklasse-Milieus anknüpft. Sie ist gleichwohl im Kern richtig, aber viel zu undifferenziert und ideologiebelastet. Denn sie ist geeignet, bürgerliche Ressentiments gegenüber den Unterschichten zu rationalisieren.
Was man der Theorie vorwerfen muss, ist deshalb erstens ihre soziokulturelle und historische Ignoranz. D. h., sie geht von einem historisch kontingenten Habitus – dem ‚innengeleiteten‘ Menschen in einer patriarchalen Familie – als gegeben aus, der schon bei Erscheinen des Buches anachronistisch war, also nicht mehr als Leitmodell betrachtet werden konnte. Demgegenüber behauptet wie gesagt die Kultursoziologie nachvollziehbar die Prävalenz eines ‚außengeleiteten‘ oder ‚narzisstischen‘ Menschen (eher im Sinne des ‚vulnerablen‘ Narzissten im Sinne von Rosenfeld; weniger des ‚dickfelligen‘), der über seine Wünsche vor allem durch Verführung, etwa in Gestalt der Werbung (und nicht durch Bestrafung), dirigiert wird. Das Konzept der mangelnden Selbstkontrolle und das des (pathologischen) Narzissmus dürften sich im Übrigen mit denselben Phänomenen beschäftigen. Nur ist letzteres inzwischen wesentlich differenzierter, jedenfalls im psychoanalytischen Diskurs.
Zweitens und damit in Verbindung konstruiert die Theorie ‚(geringe) Selbstkontrolle‘ nach dem äußeren Erscheinungsbild als einen einheitlichen, persistenten Persönlichkeitszug, der bestimmten Menschen vorbehalten bleibt, die durch kulturell unerwünschte Betätigungen auffallen. Insofern sie Devianz beschreiben will im Gegensatz zu Konformität, bleibt ihr das Fehlen von Selbstkontrolle bei zwanghafter Konformität verborgen (hier überwiegt schambedingt die Fremdkontrolle), aber auch das mögliche Vorhandensein von Selbstkontrolle etwa bei ethisch motiviertem Widerstand gegen systemische Zwänge der je prävalenten Kultur.
Die äußere Kontrolliertheit, die man zumindest partiell bei den Protagonisten amokartiger Gewalt findet, spricht dafür, dass man zwischen einer flexiblen und einer rigiden Selbstkontrolle differenzieren muss. Ähnlich hat Max Scheler bereits (bezogen auf das Christentum) zwischen einer lebensdienlichen und einer lebensfeindlichen Askese differenziert. Während die ‚psychologischen‘ Diskurse, auf die sich die Autoren zu berufen scheinen – etwa der Behaviorismus –, gegenüber dem inneren Erleben und dem Ich – also dem eigentlich Psychischen – weitgehend abstinent blieben, sich im Hinblick auf die Selbstkontrolle gerade noch zu einem Zugeständnis bereitfanden, bietet das psychoanalytische strukturgenetische Konzept der (traumatogenen) Ich-Spaltung einen Verständniszugang zu sonst kaum erklärbaren Phänomenen. Ein Teil des Ich kann dann durchaus (in rigider Weise) Selbstkontrolle ausüben, während ein anderer Teil dazu nicht imstande ist.
Die Neuropsychologie hat gegen die Selbstkontroll-Theorie eingewandt, persistierende Selbstkontrollprobleme, insbesondere in Gestalt motorischer Auffälligkeiten, ließen sich schon sehr früh nachweisen, was meine Argumentation stützt. Sie macht dabei Schäden des Präfrontalkortex verantwortlich. Dabei hat sie aber die frühen präverbalen ‚sozialen‘ Erfahrungen, insbesondere mit der Mutter, weitgehend außer Betracht gelassen und so einem (modischen) Biologismus das Wort geredet, den ich für eine arge Verkürzung halte. Die besondere Aufmerksamkeit, die dabei auch in der Kriminologie dem Präfrontalkortex und seiner messbaren Aktivität zugemessen wird, ist wohl eher Hirnmythologie. Es scheint, als projiziere man die bürokratischen bzw. manageralen Strukturen unserer Kultur ins Gehirn. Das Frontalhirn wird zum Äquivalent des Managers. Dem Neurophysiologen Gerhard Roth zufolge lässt sich aber das entsprechende kognitivistische Paradigma der Verstandeskontrolle durch die Neurowissenschaften allerdings nicht stützen.
M.E. besteht ein großes Problem unserer Kultur auch in der großen (narzisstisch konnotierten) Diskrepanz zwischen der Welt der Erwachsenen und der Welt des Säuglings bzw. Kleinkindes. Dafür sprechen etwa die Konjunkturen sich häufig widersprechender Erziehungsparadigmen und die Beliebtheit von Erziehungsratgebern in der westlichen Welt. Die Theorie von Gottfredson und Hirschi, die sich hier einreiht, überträgt bürokratische Strukturen auf die Familie, hat jedoch ihre Mühen in ihrem Allerklärungsanspruch. Das gilt vor allem für die Erklärung von Amokläufen und White Collar Crimes. Hier ist jeweils ein hohes Maß an Selbstbeherrschung nötig.
Diese gleichwohl rigide Form der Selbstkontrolle kann das Konzept der Ich-Spaltung (als Vermeidung der Getrenntheitserfahrung) verständlich machen. Danach wird die Realität teils geleugnet, teils anerkannt. So wird auch die äußerliche Normalität etlicher Täter verständlich, während ein ‚psychotischer Kern‘ (der auf unbegrenzte Wunscherfüllung bzw. Spannungslosigkeit insistiert) von außen unbemerkt persistieren kann. Anomische Verhältnisse können diesen psychotischen Kern allerdings zum Vorschein bringen.
Die Probleme, die die Mainstream-Psychiatrie mit Breivik hatte, hängen beispielsweise damit zusammen, dass sie glaubt, jemand könne nur entweder ‚normal‘ oder ‚gestört‘ sein, denn sie sieht die ‚Störung‘ als genetisch bedingt oder als Einbruch von außen, nicht aber als (Abwehr-)Leistung des Ichs. Der Streit der Psychiater verweist demgegenüber auf Breiviks innere Gespaltenheit, aber auch auf eine kulturelle Spaltung.
Bekannte Kriminologen haben vor allem im Kontext mit Amokläufen an Schulen Mobbing, soziale Isolation aber auch Videospiele für die Gewalttaten verantwortlich gemacht. Diese Erklärungen greifen jedoch nach Deinen Aussagen zu kurz. Warum?
Soziale Isolation und Videospiele werden häufig im Rahmen eines faktorenanalytisch-empiristischen Ansatzes diskutiert. Dieser reduktionistische Rahmen ist es, der zu kurz greift bzw. zur Verdinglichung tendiert, insofern er sich die Welt im Sinne des Atomismus als aus Einzelteilen zusammengesetzt vorstellt. Phänomene wie soziale Isolation und eine Präokkupation durch Videospiele sind m. E. jedoch nicht konkretistisch, sondern symbolisch zu verwerten, insofern die postulierte spezifische Wirkung auf bestimmte Menschen im Hinblick auf Gewaltexzesse nur auf der Basis einer ausgeprägten narzisstischen Problematik verstanden werden kann.
Konfigurativ könnte man etwa ein grobes Modell entwerfen, wonach die soziale Isolation (die regelmäßig subjektive und objektive Gründe haben dürfte) frühe unerträgliche Getrenntheitserfahrungen wiederholt, während sich hier die Flucht ins Computerspiel anbietet, um dieses Erleben zu kompensieren. Das Computerprogramm bildet einen vermeintlich verlässlichen Rahmen, um das Gefühl des Ausgesetztseins zu vermeiden. Dem Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott zufolge ist aber die Fähigkeit des Kleinkindes zum Alleinsein ein zentrales Merkmal psychosozialer Reife.
Die sonst resultierende Aggressivität hat jedoch wenig mit den behavioristischen Vorstellungen vom Modelllernen zu tun; vielmehr verstärkt die Passivität gegenüber dem Computerspielprogramm das, was die Psychoanalyse ‚Triebentmischung‘ nennt, d. h., man kann sich mit einem Computer nicht wie mit einem Menschen austauschen und ‚Triebe‘, also Liebe und Aggression in sinnvoller Weise mit dem Gegenüber abstimmen. Wo solche Beziehungen aber fehlen – das gilt im Übrigen etwa auch für bürokratische Strukturen mit ihrer Tendenz, Beziehungen zu verdinglichen –, wird der Computer zum Partnerersatz. Das Programm übt die alleinige Herrschaft aus, und die Absorption durch das Programm, die man strukturell mit so etwas wie Liebe (Anziehung) gleichsetzen kann, führt zu einer Abspaltung der aktiven, aggressiven (trennenden) Triebanteile. Das ist generell ein Problem unserer computerisierten Welt. Wenn die nicht integrierte Aggression nicht ausagiert wird, sondern zu Erkrankungen führt, dann wird das von der Schulmedizin in der Regel isoliert betrachtet und mystifiziert.
Frühe Traumata können ihrerseits wie ein ‚Programm‘ immer wieder in bestimmte Situationen führen wie etwa Mobbing. Wer von Trennungsangst bestimmt ist, kann sich schlecht aus solchen Situationen lösen, da die dazu erforderliche Autonomie die Akzeptanz der (relativen) Isolation von der Welt bedarf.
Den empiristischen Konzepten, die wie eine einheitliche Sicht von oben auf eine Fläche wirken (‚god’s eyes view‘), fehlt eine solche holistische und dynamische Betrachtungsweise, wie sie hier angedeutet ist.
Narzissmus ist keineswegs ein gesellschaftlich neues Phänomen, aber es ist kulturell präsenter denn je und es hat seine negative Konnotation weitgehend verloren. Schlagwörter wie ‚YOLO’ (You only live once), Casting-Fernsehshows jedweder Couleur oder in jeder Lebenslage Selfie-schießende Prominente zeugen von dieser neuen Lust der Selbstinszenierungen. Müsste – gemäß Deinen Ausführungen – diese Lust am Narzissmus nicht mit mehr Amoktaten einhergehen?
‚Narzissmus‘ ist sehr in Mode, wird aber häufig in einer lediglich deskriptiven Weise verwendet. Von „Lust am Narzissmus“ zu sprechen, ist in psychoanalytischer Hinsicht jedoch etwas problematisch. Aber schon Freud hatte sich mit dem Begriff der Lust sehr abgemüht, weil er ja einerseits mit einer Erregungssenkung bis zur Spannungslosigkeit und andererseits gerade mit einer insbesondere sexuellen Erregungssteigerung verbunden wird. Der Narzissmus bezieht sich demgegenüber nur auf den ersteren Aspekt der Lust, der Reduktion der Spannung, unter Umständen bis auf Null, wodurch er auch als Manifestation des Todestriebes angesehen wird.
Narzisstische Tendenzen in der westlichen Kultur dürften bereits wesentlich zu den verheerenden Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen haben. Dass Freud seinen Aufsatz „Zur Einführung des Narzissmus“ während des ersten Weltkriegs geschrieben hat, ist demnach kein Zufall. Narzissmus ist nun ein sehr schillernder Begriff, der sowohl mit Selbstliebe als auch mit Selbsthass in Verbindung gebracht wird. Wesentlich ist also die Selbstbezogenheit, die allerdings als solche zu hinterfragen ist. Hier führen eine individualistische und eine intersubjektive Betrachtungsweise zu ganz unterschiedlichen Postulaten.
Von Narzissmus ist die Rede bei so unterschiedlichen Phänomenen wie dem großartigen Selbstinszenierer in Politik, Wirtschaft, Sport und Kunst; bei den Konsumenten plastischer Chirurgie, dem Amokläufer oder Rechtsextremisten etc. Was rechtfertig nun, diese Phänomene begrifflich zu vereinigen?
Ursprünglich verstand man unter Narzissmus eine Perversion in Gestalt einer erotischen Besetzung des eigenen Körpers. Freud hatte diese Autoerotik als einen normalen Anfangszustand betrachtet und davon einen sukzessiven primären Narzissmus des Ichs vor der Anerkennung einer Außenwelt aus eigenem Recht unterschieden. Die frühe Autoerotik wird inzwischen aber als eine pathologische Reaktion auf eine versagende Außenwelt betrachtet.
Vom primären Narzissmus zu unterscheiden ist der sekundäre Narzissmus, der nach der Anerkennung der Bedeutung und Unabhängigkeit der Außenwelt, insbesondere der der Liebesobjekte, einen Rückzug von diesen ‚Besetzungen‘ auf das Ich bezeichnet wegen der damit verbundenen Enttäuschungen. Dieser Rückzug auf das Ich ist gemeint, wenn wie bei Lasch von einer ‚Kultur des Narzissmus‘ die Rede ist. Und sicherlich spiegeln die von Dir genannten Phänomene, die Kündigung des ‚Generationenvertrags‘ aus Gründen der ‚Selbstverwirklichung‘, eine solche Entwicklung, die allerdings in den USA bereits vor Jahrzehnten diskutiert wurde.
Der Zusammenhang der von mir angeführten Phänomene lässt sich nur verstehen, wenn man die deskriptive Verwendung des Narzissmus-Begriffs intersubjektivistisch transzendiert. Wir sind als Menschen am Beginn des Lebens in besonderem Maße auf die Fürsorge anderer angewiesen. Somit stellt sich auch die Frage, ob das, was als Selbstbezug imponiert, ursprünglich tatsächlich ohne einen anderen gedacht werden kann. Der Narzissmus ist vielmehr zunächst ein Idealzustand, in dem diese Fürsorge perfekt ist. Ist sie das, wird der fürsorgende andere, also im Normalfall zunächst die Mutter, als solcher gar nicht erfahrbar. Wir rechnen uns diese Fürsorge gewissermaßen selbst zu.
Es sind gerade die Mängel in der Fürsorge, die den anderen als solchen erkennbar machen. Wir erfahren uns erst dann als getrennt vom anderen. Und diese Getrenntheit ist eben das Problem. Wenn sie allmählich durch maßvolle und altersangemessen Frustrationen spürbar wird, lässt sie sich besser akzeptieren, als wenn Frustrationen durch Versorgungsmängel oder Übergriffe zu früh oder zu stark auf ein noch kaum entwickeltes Ich treffen. Die Getrenntheitserfahrung muss dann unter allen Umständen verleugnet werden. Die narzisstischen Phänomene auch in ihrer Unterschiedlichkeit lassen sich also von diesem Begehren der Ungetrenntheit her begreifen. Alles, was mit Differenz verbunden ist, bedroht diesen Anspruch.
Wenn also ein reicher Banker in der Londoner Innenstadt darunter leidet, dass ein anderer eine Million oder ein Haus mehr besitzt, dann ist er ebenso narzisstisch wie der Rechtsextreme, der die ethnischen Unterschiede nicht tolerieren kann. Der prospektive Amokläufer, der sich gemobbt oder nicht genügend anerkannt fühlt, leidet unter der Differenz zwischen seinen Ansprüchen und ihrer mangelnden Befriedigung ebenso wie die Botox-Konsumentin, die einem kulturellen Jugend- und Schönheitsideal hinterherläuft. Hier lässt sich auch die Merton’sche Anomietheorie verorten. Wenn man gesellschaftlichen Idealen nicht entsprechen kann, dann bedeutet das zunächst, dass man als Einzelner von der übrigen Welt getrennt ist, und es droht eine Aktualisierung der frühen katastrophalen Hilflosigkeit.
Genau hier liegt aber nach meiner These das Grundproblem der Amokläufer, nämlich im vorzeitigen, traumatischen Einbruch der Realität, also dem zu frühen und unerträglichen Bewusstwerden der eigenen Hilflosigkeit und Ohnmacht. Das führt dann zu einer übermäßigen Verleugnung der traumatisch wirkenden Realität, während die freigesetzten Erregungsmengen die symbolische Sublimierung von Frustrationserfahrungen einschränken oder verhindern. Die zu beobachtende Frustrationsintoreranz kann man also so erklären, dass spätere, durchaus lebensnotwendige Frustrationen das frühe (kumulative) Trauma aktivieren und damit so wirken, als sei der Betroffene noch ein hilfloser Säugling. Fatalerweise macht also der Rückzug vom Leben, das eben in der Überwindung von Schwierigkeiten besteht, besonders anfällig für weitere Traumatisierungen. Daraus kann sich dann – gerade in einer spaßbetonten, leichtlebigen Kultur – ein schwelendes, kumulierendes Ressentiment entwickeln (die anderen scheinen das zu haben, was einem fehlt). Das kann dann zu der etwa von Karl Weilbach beschriebenen Eskalation führen, aber auch zu psychosomatischen Störungen.
Letztere sind im Übrigen bei Amoktätern in der Tat häufig zu beobachten. Das Problem ist, dass der Narzissmus – vor allem als Verhaftetsein an ein künstliches ‚Selbstbild‘, für das Bestätigung eingefordert wird – die Integration aggressiver Triebanteile verhindert, die auf Trennung und Autonomie gerichtet sind. Dieses Selbstbild – es geht heute ja häufig um Identitätsprobleme – steht unbewusst für die frühe, idealisierte Mutter, wie ja das Wasserloch, in dem Narziss sein Spiegelbild sah, in das er sich verliebte, seine Mutter, die Wassernymphe darstellte. Narziss muss als Resultat der Vergewaltigung seiner Mutter durch den Flussgott als Frühtraumatisierter betrachtet werden, was psychologisch stimmig ist. Denn er stammt ja zur Hälfte von dem her, der der Mutter Gewalt angetan hat, was die Mutter-Kind-Beziehung zwangsläufig stören muss. Das bedingt die Unterwerfung unter die Imago der ‚guten Mutter‘, während die trennenden aggressiven Autonomieimpulse zwangsläufig die Imago der ‚bösen Mutter‘ evozieren müssen und wodurch die generell prekäre Trennungsproblematik nicht bewältigt werden kann. Diese abgespaltene Aggression kann dadurch nicht für wirkliche Leistung fruchtbar gemacht werden sondern somatisiert sich.
Wer dagegen genügend äußere Stützung für sein narzisstisches Selbstbild mobilisieren kann, der kann in unserer Gesellschaft leicht Karriere machen und zu den Erfolgreichen zählen. Der Amokläufer ist also wohl wesentlich realitätsnäher (und insoweit psychisch gesünder) als manche andere, die aufgrund ihres Erfolgs als gesund gelten. Große äußere Differenzen im Erscheinungsbild können also mit einem sehr ähnlichen Kern verbinden sein, wie auch Sokrates das Gegensätzliche als gänzlich oberflächlich ansah.
Das Problem mit dem (pathologischen) Narzissmus ist, dass er Genüsse bietet, gegen die die der Realität verblassen. Die kompromisslose Suche nach maximaler Lust, die Gottfredson und Hirschi mit mangelnder Selbstkontrolle verbinden und über die auch Freud rätselte, kann jedoch ein Resultat früher Traumatisierung sein, also keineswegs eine allgemeine Gegebenheit.
In den letzten Wochen und Monaten kam es in Paris, Brüssel und zuletzt in Orlando, Florida zu tragischen Massenmorden durch junge Männer, deren Handeln als ‚Terrorismus’ bezeichnet wurde. Wo siehst Du die Abgrenzungen zwischen diesen terroristischen Anschlägen und den Amoktaten, die Du untersucht hast?
Da ich mich nicht explizit mit Terrorismus beschäftigt habe, kann ich hier nur in aller Vorsicht ein paar Vermutungen äußern. Terrorismus galt ja ursprünglich als ein Mittel in einem politischen Kampf, dessen sich die schwächere Partei bedient, um gegen eine Hegemonialmacht vorzugehen. Da der Begriff Terrorismus – Terror bedeutet Schrecken – eine pejorative Bedeutung hat, wurde der Begriff in kritischer Absicht auch auf Staatshandlungen ausgedehnt, wenn diese etwa die Einschüchterung der Bevölkerung zum Ziel hatten. Das Entscheidende ist dann also die kommunikative, über den unmittelbaren Handlungserfolg hinausgehende Wirkung des Schreckens.
Es stellt sich nun die Frage, ob auch ein Amoklauf eine kommunikative Absicht beinhaltet. Dies dürfte in der Tat häufig der Fall sein. Der Hauptlehrer Ernst August Wagner, der 1913 erst seine Familie – Frau und vier Kinder – umbrachte und dann im schwäbischen Mühlhausen, wo er sich gedemütigt glaubte, 9 weitere Menschen ermordete – es hatten viel mehr sein sollen – wollte damit, wie er später einem Psychiater sagte, auf sein Leiden aufmerksam machen. Das wollte auch Elliot Roger, der sich von Mädchen und Frauen gedemütigt fühlte und deshalb 2014 in Isla Vista, Kalifornien, 6 Menschen und sich selbst ermordete. Auch hier hatten es viel mehr Tote sein sollen.
So könnte man als Unterscheidungskritierium vielleicht auf den Aspekt des Narzissmus zurückkommen: Terrorismus will bestimmte Veränderungen in der Wirklichkeit erreichen, Amok bezieht sich auf Änderungen des in der Außenwelt manifestierten Selbstbildes. Das ist natürlich nur ein abstraktes Modell. In der Realität werden auch vordergründig terroristischen Taten Aspekte des Narzissmus beinhalten. Bei Andres Breivik etwa diffundieren die Begriffsgrenzen – er hatte 2011 im Osloer Regierungsviertel und auf der Insel Utøya, wo ein Jugendcamp stattfand, insgesamt 77 Menschen umgebracht, um gegen die Islamisierung seines Landes Norwegen zu protestieren, aber auch um sein 1500-seitiges Manifest zu promoten. Mit Nietzsche könnte man sich auch fragen – darauf hatten etwa Jan Philipp Reemtsma und Jack Katz hingewiesen –, ob nicht dem Gewaltakt immer das Primat zukommt und die Kommunikation nur eine „Rationalisierung der Leidenschaften“ darstellt, wie Freud formulierte.
Eine Theorie, die Gewalthandlungen erklären will, muss sich auch an ihrem Nutzen für die Prävention messen lassen. Siehst Du Potential wie sich der von Dir herausgearbeitete psychoanalytische Erklärungsansatz nutzen lassen kann, um potentielle Amokläufer frühzeitig zu erkennen und so Gewalttaten zu verhindern?
Du sprichst da einen Punkt an, dem heutzutage eine enorme Bedeutung zukommt. Natürlich erzeugen Gewaltexzesse den Wunsch, alles Denkbare zu ihrer zukünftigen Verhinderung zu tun. Ich frage mich aber, ob wir dabei nicht zu sorglos mit sprachlichen Abstraktionen umgehen. Ein Wort wie Amokläufer wird schnell verdinglicht. Ernst Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, hat für diese Gefahr des abstrakten Denkens ein passendes Bild gefunden, das er auf den Begriff der Krankheit bezog. Er meinte nämlich, es sei genauso unsinnig, Krankheiten heilen zu wollen, wie eine Käsefabrik zur wirtschaftlichen Verwertung der Milchstraße zu bauen. Wenn wir von einem Amokläufer oder Terroristen sprechen, dann ist das natürlich auch eine Abstraktion. Diese Abstraktion führt dann schnell zu einem ‚methodologischen Individualismus‘, der die konfigurativen Zusammenhänge außer Acht lässt.
Ich bin hingegen zu der Auffassung gelangt, dass solche Gewalttäter gerade in ihren Individualisierungsbemühungen gescheitert sind – die übermäßige, traumatogene Trennungsangst ist bereits angesprochen – und damit viel mehr als Leuchttürme kultureller Interferenzen gelten müssen, denn bloß als böse oder kranke Individuen, deren Herausfiltern dann eine (im Wesentlichen) gewaltfreie Welt übriglässt.
Wenn wir vom Einzelnen her denken, dann lässt das vor allem einen Machtaspekt erkennen: der Einzelne erscheint leichter beherrschbar als die Kultur als solche. Deshalb konstruieren wir auch die Probleme von den Methoden her, mit denen wir sie zu beherrschen gedenken – wie die Schildbürger. Dieses Verlangen nach Macht, das auch im Präventionsgedanken enthalten ist, scheint jedoch selbst die Grundlage paradoxer Phänomene zu sein. Wer bereit ist, sein Leben hinzugeben (etwa, weil er den Tod gar nicht realisiert), ist durch die üblichen Machtmittel kaum zu kontrollieren – handele es sich nun um einen Amokläufer oder um einen Selbstmordattentäter. Angenommen, man könnte einen Vulkan versiegeln, dann würde sich der Druck im Erdinneren einfach an anderer Stelle entladen.
Die individualistische Sichtweise erscheint mir gerade bei Amokläufern verfehlt, auch wenn man den Einzelnen verstehen muss, um die Kultur analysieren zu können. Ich habe die Rolle früher Traumata hervorgehoben, weil diese eine adäquate Individuation verhindern. Zugleich ist aber das prävalente Denken, besonders auch in der Wissenschaft, den Effekten einer traumatogenen Hirnspaltung und dem resultierenden operativen Denken sehr ähnlich. Der Empirismus geht entsprechend von einer Welt aus, die aus Einzelteilen zusammengesetzt ist. Das entspricht der Dominanz der linken Hirnhälfte, wie sie für unsere Kultur typisch ist. Dieses kognitivistische Selbstverständnis wiederum bildet einen Antagonismus zur Empathie und Ganzheitlichkeit der rechten Hirnhemisphäre. Unser auf Prävention gerichtetes Denken ist also selbst Ausdruck eines Prinzips, das Empathielosigkeit und Gewalt fördert, was wir dann Einzelnen vorwerfen. Wir sollten dabei auch die Gewalt gegen die äußere Natur nicht vergessen, die durch den Klimawandel deutlich wird. Ein weiteres Beispiel: Im Hinblick auf das aktuelle Flüchtlingsproblem wird oft von Integration gesprochen, aber dies dem Einzelnen abgefordert. Es wurde beispielsweise vorgeschlagen, dass Flüchtlinge ein Papier unterschreiben, das sie auf unsere ‚Werte‘ verpflichtet. Integration wird hier also als ein rein kognitiver Akt betrachtet. Integration ist aber vor allem ein affektives Geschehen, das mit dem Gefühl, gehalten zu werden, zu tun hat. Damit aber hat unsere westliche Kultur gerade ein ungeheures Problem; sie versucht, dieses Defizit dann mit immer mehr sozusagen Linkshirn-lastigen Angeboten zu kompensieren, einschließlich der ubiquitären ‚Aktivierungs‘-Rhetorik.
Das prävalente Paradigma der Social-Behavioral Sciences, das Behaviorismus und Kognitivismus –eigentlich widersprüchliche Konzepte – vereint, ist entsprechend Ausdruck eines von Empathielosigkeit geprägten elementaristischen Denkens. Es negiert insbesondere die Bedeutung früher Traumata, weil es monothematisch auf Lernen bzw. ‚falsches‘ Lernen im kognitiven Sinne fokussiert ist. Damit ist es Ausdruck der Unterwerfung unter Herrschaftsstrukturen und lässt die innerpsychische Dimension – die sich der Hierarchisierung widersetzt – weitgehend außen vor.
Geradezu verrückt muten nun die Bestrebungen an, die Bindungstheorie in das kognitivistische Paradigma zu integrieren, ohne den impliziten Antagonismus zu erkennen. Wie gesagt, ist das kognitivistische Paradigma durch den Ausschluss von Empathie und die Betonung der Verstandesherrschaft geprägt, während die Bindungstheorie die Wichtigkeit von Empathie und Intersubjektivität in der frühen Mutter-Kind-Beziehung betont. Diese vermeintliche Aufhebung von Widersprüchen durch Abstraktion mutet indessen wie magisches Denken an und kann vielleicht als Ausdruck eines wissenschaftlichen Narzissmus gewertet werden, der alle Spannungen eliminiert.
Hintergrund ist jeweils eine massive Trennungsangst, die auch dort ausgedrückt wird, wo man elementaristisch von schon immer isolierten Einzelteilen ausgeht und die Dynamik des Werdens verkennt. Das ist natürlich auch eine Abstraktion, die aber m. E. solange zulässig ist, wie sie mit der Mannigfaltigkeit der entsprechenden Erscheinungen verbunden bleibt, aus denen sie emaniert ist. Abstraktionen werden hingegen destruktiv, wenn sie nicht aus der eigenen Erfahrung entwickelt, sondern als Schulstoff unverbunden eingeprägt werden. Die Abstraktion entkoppelt sich dann von der Empathie, und das ist die Voraussetzung für Antisemitismus, Rassenhass, Misogynie etc. Wir dürfen also auch den Einfluss der Schule auf destruktive Tendenzen nicht verkennen. Prävention muss eigentlich in der Arbeit an der Kultur aufgehen. Demgegenüber kann die Früherkennung potentieller Amokläufer, Djihadisten etc. – das dürften nicht wenige sein – leicht in einer selbsterfüllenden Prophezeiung enden oder darin, dass ‚Bekehrte‘ nunmehr selbst nach Sündenböcken suchen, also ihre Probleme auf andere projizieren.
Gleichwohl hat die Psychoanalyse auch einen wesentlichen Beitrag zur Individualprävention zu leisten. Aus ihrem strukturgenetischen Denken ergibt sich nämlich, dass sich die menschliche Entwicklung keineswegs wie ein biologischer Automatismus vollzieht. Bestimmte Auffälligkeiten, etwa in der Schulzeit, können einen Versuch darstellen, zunächst, d. h. in der frühen Kindheit nicht mögliche Reifeschritte in einem späteren Lebensabschnitt nachzuholen. Dazu gehören auch aggressive Äußerungen. Wenn die Umwelt nun einen solchen Kontext verkennt und (abgesehen von einer möglichen Pathologisierung) nur richtiges und falsches Verhalten sehen will – dies gilt ja insbesondere für die am Behaviorismus orientierte Selbstkontroll-Theorie – können solche Versuche nicht adäquat aufgegriffen und beantwortet werden und die Entwicklungsstörung verfestigt sich noch weiter.
Statt auf standardisierte Methoden sollten wir also lieber auf die menschliche Reife der jeweiligen Bezugspersonen setzen, da hier intuitives Handeln auf der Basis von Empathie gefordert ist und nicht das Abspulen einer Programmroutine, die die Autonomieentwicklung eher behindern als fördern dürfte. Vielmehr spiegeln manualisierte Programme nur eine bürokratisierte Gesellschaft wider und entbinden von persönlicher Verantwortlichkeit. So setzen wir einseitig auf Wissen und vernachlässigen das Verstehen. Damit entgeht uns aber leicht der Unterschied zwischen wirklicher Reifung und bloßer Mimikry gegenüber den beworbenen Bildern.
Prävention kann also nicht einfach im Austausch von Bewusstseinsinhalten bestehen, sondern muss Umstände schaffen, die eine möglichst weitgehende Nachreifung gestatten. Zu dieser Nachreifung gehören zwangsläufig (schwere) Konflikte, die es in adäquater Weise auszuhalten und auszutragen gilt. Das dürfte auch, wie Karl Jaspers formuliert, an der antinomischen Struktur der Welt liegen, die wir in narzisstischer Manier verkennen, wenn wir Einzelne zu Sündenböcken machen.
Gerade bestimmte Machtkonstellationen, die auch durch Wissenschaft und statistische Evaluation inauguriert werden, können diese Nachreifung jedoch von vornherein verhindern. Sie stärken die Illusion der technischen Beherrschbarkeit des Lebens. Günther Anders sah diese Entwicklung als viel bedrohlicher an, als die Diktaturen des 20. Jahrhunderts, weil diese den Menschen in seinem Widerstandspotential immerhin noch ernst nahmen. Der moderne westliche Mensch aber unterdrückt sich selbst, um nicht aus einem System herauszufallen, in dem jeder Fehler das soziale und berufliche Aus bedeuten kann. Er ähnelt damit in gewisser Weise dem früh Traumatisierten, der durch Mimikry bzw. Pseudonormalität versucht, die Bindung an eine destruktiv agierende Bezugsperson aufrechtzuerhalten. Dieser vom Empirismus vernachlässigte konfigurative Zusammenhang verdient nach meiner Auffassung mehr Aufmerksamkeit bei der Beschäftigung mit Gewaltphänomenen.
Andreas, vielen Dank für das Gespräch.