Man könnte an Nietzsches Konzept der ewige Wiederkehr des Gleichen denken, wenn wie gerade in Oregon das immergleiche Stück aufgeführt wird, das dem Artaudschen Theater der Grausamkeit zu entstammen scheint. Es sterben wirklich Menschen; die anschließende Posse wird in einem Online-Artikel der Süddeuschen gut auf den Punkt gebracht: http://www.sueddeutsche.de/politik/schiesserei-in-oregon-amoklauf-als-ritual-1.2675720
Allerdings dient das Ritual – die Kerzen, die eifrige Motivsuche, der unvermeidliche Verweis auf diverse „psychische Störungen“, insbesondere die Konjunktur des „Autismus“-Konstrukts – wohl weniger einem Verstehen der Tat denn als beruhigende Obstipation. Das Ganze versandet dann bis zur nächsten Tat. Wie in dem Artikel zu lesen, habe sich derselbe Sheriff, der nun so betroffen ist und den Namen des Täters nicht nennen wollte, zuvor gegen die Verschärfung der Waffengesetze ausgesprochen und in dasselbe populistische Horn stößt auch der republikanische Präsidentschaftskandidat Trump. Werden wir vielleicht in Zukunft das Western-Genre nicht mehr als Reminiszenz an frühere Zeiten goutieren, sondern als lediglich technisch veraltete Darstellung des aktuellen realen Lebens? Werden dann vielleicht sich nicht normgerecht verhaltende oder aussehende Menschen vorsorglich erschossen nach dem Motte: man kann ja nie wissen? Wer zuerst zieht, mahlt zuerst.
Wenn man nun andererseits nach mehr psychologisch-psychiatrischer Behandlung verlangt, dann frage ich mich andererseits, ob hier eine Art Wunderglaube am Werk ist. Auf diesem Gebiet geht es ja augenscheinlich nur um immer mehr (scheinbare) Effizienz, um kurzen Prozess mit wenig finanziellem Aufwand. Dass die Aussicht, psychiatrisiert zu werden, eine solche Tat nicht unbedingt unwahrscheinlicher machen, dürfte auch einleuchten – es gibt einschlägige Fälle -, zumal die Ergebnisse entsprechender Internetrecherche seitens der Betroffenen häufig vernichtend ausfallen dürfte. Nach dem Flugzeug-Massaker im Frühjahr fand man als Nachschrift diverser Berichte im Internet regelmäßig eine Art eingeschaltete Werbeannouce der Therapieindustrie in kognitiv-behavioristischer Manier: sehr schulmeisterlich und rationalistisch (und offenbar verständnislos). Das kann einen gegenteiligen Effekt evozieren.
Hellhörig machen mich dagegen die Angaben zu einem merkwürdig engen Mutter-Sohn-Verhältnis. http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/oregon-nachbarn-beschreiben-amoklaeufer-als-schuechtern-und-fragil-13836130.html Die fortdauernde Konjunktur der Naturalismus lässt die Beziehungsstrukturen ignorieren zugunsten eines atomistischen Menschenbildes. Das Labeling mit diversen reifizierten Krankheitsnamen bei Kindern wird sich wohl nach der Neuauflage des DSM in der fünften Version noch einmal verstärken, was natürlich sehr bequem für Mütter und Psychiater ist – schon der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott hat seinerzeit die Psychiatrie dafür kritisiert, dass sie bereitwillig qua Labeling des Kindes jenen Müttern sekundieren, die ihr „krankes“ Kind als psychische Stütze instrumentalisieren. Dass in einer solchen „Beziehung“ die Paranoia zuhause ist, muss nicht weiter verwundern.
Clemens schreibt
Ein schon faschistoider gesellschaftlicher Druck, sich „normal” und somit unauffällig / unsichtbar zu verhalten und bei Auffälligkeiten sogleich mit sozialer Ausgrenzung und rigiden Strafen bis hin zur Kriminalisierung oder Psychiatrisierung zu antworten, das ist meiner Ansicht nach typisch für die geradezu reflexartig automatisch anmutenden Reaktionen der Ordnungskräfte.
Wir werden die Wiederkehr des Gleichen ständig aufs Neue erleben, weil die Frage nach den Ursachen nicht gestellt wird und daher die eigentlichen Ursachen nicht behoben werden! — Und warum ist das so? Ich habe aufgrund meiner Erfahrung in beratung und Psychotherapie sowie aufgrund eigener Lebenserfahrung feststellen müssen, dass jeder, der konsequent bis zu den Ursachen hin denkt, zwangsläufig das bestehende Macht- und Gesellschaftssystem in Frage stellen muss, welches diese Misstände hervorbringt! Und natürlich ist die Systemfrage bei den Herrschenden und ihren Organen unerwünscht und darf ganz besonders nicht öffentlich diskutiert werden. Jede derartige Diskussion wird dann abgetan, indem der Urheber solcher Diskussion mit Etiketten diskreditiert wird wie Kommunist, Klassenkämpfer, Verschwörer, Rechter / Linker Spinner usw.
Betreffend der Problematik der Kinder, die unter den machenschaften dieses Systems leiden und manchmal in Form von Amokläufen durchdrehen, weil es für sie nicht länger auszuhalten war, hatte ich bereits einen Kommentar im Deutschen Ärzteblatt hinterlassen, den ich hier, einfach weil es so gut passt, hinein kopiere. Im Ärzteblatt erschien ein Beitrag, in dem die Möglichkeit psychischer Störungen als Ursache für das Schulschwänzen ernsthaft in Erwägung gezogen wurde! Auch dort das Prinzip, nicht nach den wirklichen Ursachen für Probleme zu schauen und am System etwas zu verändern, sondern die Symptome zu unterdrücken! Hier der Link zu dem beitrag: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/64274/Schulschwaenzer-und-fruehe-Verhaltensprobleme-im-Kindergarten
Und hier mein Kommentar, der auch zum hier bei Criminologia-Beitrag passt:
Wie immer: Die Frage nach den wahren Ursachen werden nicht gestellt…
…denn das würde unvermeidbar zur Systemfrage führen! Die wahren Ursachen für Schulverweigerung, für psychische Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen sind doch seit vielen Jahren bekannt und sind seitdem immer offensichtlicher geworden: Gerald Hüther hat dann die Dinge beim Namen genannt. …und ist prompt deshalb in Ungnade gefallen, wurde öffentlich verleumdet und diffamiert.
Die Misere zeigt sich auch in meiner alltäglichen therapeutischen Praxis. Und auch aus eigenen biografischen Erfahrungen habe ich die Richtigkeit von Gerald Hüthers Ansichten bestätigt gefunden. In Kürze zusammengefasst:
1.) Eltern stehen zunehmend unter dem Leistungsdruck der Arbeitswelt und haben immer weniger Kraftreserven und Zeit für ihre Kinder. Immer öfter müssen Eltern mit einem zweiten Job die Familie wirtschaftlich über Wasser halten. Da ziehen zunehmend amerikanische Verhältnisse ein! Und die sind dem Kapitalismus geschuldet und seiner pervertiertesten, die Würde des Menschen am aggressivsten angreifenden Form, dem Neoliberalismus!
2.) Eltern haben in ihrer Kindheit und Jugend sowie in ihrer Schul- und Studienzeit kein Fach gehabt, in dem sie erlernen konnten, welche menschlichen Grundbedürfnisse erfüllt sein müssen, damit die Würde ihrer Kinder bewahrt bleibt und die Kinder ihre Potenziale entfalten können – emotional, sozial und intellektuell!
Es müsste ein Schulfach geben, in dem Kinder die Gestaltung sozialer Beziehungen erlernen, und dass ein freundschaftlich-kooperatives Verhalten zur Erfüllung der Grundbedürfnisse beiträgt, ein konkurrenz-orientiertes Verhalten dagegen zwangsläufig zur Zerstörung führen muss: Zerstörung der menschlichen Beziehungen, Zerstörung der Ressourcen der Welt usw.
Es müsste ein Schulfach geben, in dem Kinder ihre emotionale, lustorientierte Seite entwickeln und fördern können, damit sie ihre Persönlichkeit ausgewogen entwickeln können und nicht einseitig wissens- und leistungsorientiert.
Es müsste ein Schulfach geben, in dem Jugendliche lernen, welche Aufgaben man als Elternteil hat und wie man die elterlichen Aufgaben erfüllt.
Es müsste ein Schulfach geben, in dem Kinder und Jugendliche lernen, dass sie ihr Leben bewusst planen und gestalten können und sollen. Und wie sie mit der Ambivalenz und Frustration der lustvollen Bedürfniserfüllung einerseits, der Verantwortung und Pflichterfüllung andererseits sowie den unvermeidlichen Frustrationen des Lebens am besten umgehen können.
Und vor allem müsste der unerbittliche Leistungs- und Zeitdruck aus dem Bildungssystem genommen werden, um die allgegenwärtigen Angst vor Versagen auszulöschen! Lustvolles, spielerisches Lernen und viel mehr Zeit für Spaß und Spiel ist erforderlich!
3.) Eltern können die unter 2 genannten Werte zunehmend nicht an ihre Kinder vermitteln, weil sie für ihre Kinder zu wenig Zeit haben und weil sie selbst die in Punkt 2 geforderte Ausbildung nicht erhalten haben. Auf diese Weise wird das Unglück von Generation zu Generation weiter gegeben.
4.) Kindergarten und Schule in der heutigen Form ist industriegerecht, entspricht aber nicht den menschlichen Grundbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen und tritt deren Würde mit Füßen. Es beginnt bereits damit, dass Kinder viel zu früh aufstehen müssen für den Schulbeginn. Die Unterrichtszeiten sind viel zu lang und das natürliche und spielerisch-lustvolle Bewegungsbedürfnis der Kinder und Jugendlichen wird missachtet.
5.) Leider ist eine Kindheit und Jugend, wie unter 2.) gefordert, mit dem kapitalistischen System unvereinbar. Denn es geht ausschließlich darum, profitable und gehorsame Mitarbeiter zu züchten, die sich mit großer Zuverlässigkeit systemkonform verhalten werden.
Die Zustände in einem korrupten, menschenunwürdigen System, das zwangsläufig die Erfüllung der Grundbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ignoriert, müssen zu psychischen Problemen bei den Haupt-Leidtragenden führen. Denn kein Mensch kann unter solchen Verhältnissen wirklich gesund bleiben – schon gar nicht besonders verletzliche junge Menschen!
Nur deshalb nimmt die Zahl „auffälliger” Kinder und Jugendlicher zu, deshalb haben wir immer mehr Jugendliche, die den Suizid als Ausweg wählen, deshalb entsteht bei manchen Kindern und Jugendliche eine Symptomatik, die als AD(H)S etikettiert wird und an der sich wunderbar Geld verdienen lässt, zu Lasten der Betroffenen!
Und daher ist es kein Wunder, dass die in dem Artikel beschriebenen „Interventionen” von Seiten der Kinder- und Jugendlichen-Psychiater oder von Seiten von Verhaltenstherapeuten keine Wirkung hatten: Solange die Ursachen nicht behoben werden, bleiben alle anderen Maßnahmen nur Pfusch an den Symptomen!
Anmerkung:
Die Notwendigkeit zur Erfüllung der Grundbedürfnisse beruht auf Erkenntnissen der Schematherapie. Und ich folgere: Ein Gesellschaftssystem muss sich qualitativ daran messen lassen, ob es die Würde des Menschen wirklich respektiert und den Menschen einen Rahmen bietet, in dem jeder die Chance hat, seine Potenziale zur Entfaltung zur bringen. Und dazu müssen auch die Grundbedürfnisse bestmöglich erfüllt werden!
Unser jetziges System versagt bei allen dieser Anforderungen zu Gunsten des Profits und zu Gunsten der Macht einiger weniger. Es wird höchste Zeit, dass Psychotherapeuten klar und offen Partei für ihre Klienten ergreifen und auch in der Therapie klar Stellung beziehen gegen die Machenschaften unseres Systems.
Ich habe es als Patient bei meinem damaligen Aufenthalt in einer psychosomatischen Klink erlebt, wie die Therapeuten unglaubwürdig wurden, wenn sie keine Partei ergriffen. Klienten warfen ihnen vor, realitätsfern in einem therapeutischen Elfenbeinturm zu agieren. Und dass bei Rückkehr in die gleichen, kaum veränderbaren „Sachzwänge des Alltags” (=des Systems) trotz Therapie bald doch wieder alles beim Alten sein würde. Daher sei die Therapie nicht alltagstauglich und gar nicht ernst zu nehmen.
Clemens M. Hürten – Heilpraktiker der Psychotherapie – Lebenslust jetzt!
Andreas Prokop schreibt
Nun ist bekannt geworden, dass die Mutter selbst eine Waffenfetischistin ist und mit ihrem Sohn regelmäßig auf Schießständen anzutreffen war. Das ist natürlich eine besondere Art der Symbiose…
Ich glaube, man braucht kein Schulfach, nur weniger (körperbezogene) Entfremdung. (wie hat nur die Menschheit über all die Jahrtausende ohne Selbsthilfebücher – Ja, Du kannst es…- überleben können?) Was mich ärgert, ist die Ignoranz des hegemonialen naturalistischen Diskurses und seines kognitiv-behavioristischen Anhängsels gegenüber frühkindlichen Traumatisierungen. Da beginnt doch die Entfremdung vom eigenen Körper, die absurde Ideen gebiert, das kulturell affirmierte Selbstmissverständnis.
sebastian scheerer schreibt
Das Thema ist von immenser Bedeutung. Werden eines fernen Tages – oder vielleicht irgendwo heute schon – Menschen vorsorglich erschossen? Oder ohne Gerichtsverfahren nachträglich erschossen? Beides wären Themen zu einer noch zu schaffenden Rubrik „Niedergang des Rechtsstaats?“