In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Bücher aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
Weitere Rezensionen finden sich hier.
Titel: | The Wire. Netzwerke der Gewalt | |
Autor: | Martin Urschel | |
Jahr: | 2013 | |
Reihe: | Filmstudien | 67 | |
Verlag: | Nomos Verlagsgesellschaft | |
ISBN: | 978-3-8487-0993-9 |
Einleitung
Die US-amerikanische Fernsehserie „The Wire„, die vom Pay-TV-Sender HBO produziert und in fünf Staffeln zwischen 2002 und 2008 ausgestrahlt wurde, verlangt dem Zuschauer einiges ab. In insgesamt 60 Stunden wird am Beispiel der Stadt Baltimore ein zeitgenössisches Bild der postindustriellen US-amerikanischen Großstadt gezeichnet, die von Armut, Drogenkriminalität und städtischem Zerfall geprägt ist. Vordergründige Handlung ist „The Game“ – also der Drogenhandel und der „War on Drugs“. Die beiden Handlungsebenen werden parallel montiert und am Beispiel verschiedener involvierter Akteursgruppen und Institutionen thematisiert. In der ersten Staffel wird der Zuschauer mit der Arbeit einer Anti-Drogen Einheit der Polizei und ihrem hoffnungslosen Kampf gegen die Drogendealer konfrontiert. In den folgenden Staffeln zieht The Wire größere gesellschaftliche Kreise und rückt die Korruption der Institutionen (Gewerkschaften, Politik, Bildungssystem und Presse) in den Fokus des Zuschauers. Wer über alle fünf Staffeln das komplexe Beziehungsgeflecht der Charaktere zu entwirren versucht, den vielen, ineinander verwobenen Handlungs- und Erzählsträngen folgt und sich der, auch für geübte Englischsprecher, nur schwer zu verstehenden Sprache stellt, wird mit der vermutlich authentischsten Polizei-/ Kriminalserie belohnt, die bislang produziert wurde.
The Wire, Trailer zur DVD-Veröffentlichung der ersten Staffel
Auch wenn The Wire (anders als die ebenfalls von HBO produzierten Serien Six Feet Under und The Sopranos) die Ehrung durch die Verleihung eines Emmys verwehrt blieb, sind die Kritiken der Fernsehserie durchweg positiv1. Auch in akademischen Kreisen wurde die Show überaus positiv aufgenommen und war (vornehmlich im angelsächsischen Sprachraum) Gegenstand zahlreicher Seminare, Tagungen und wissenschaftlicher Publikationen (siehe unten „weiterführende Quellen“)2.
The Wire verbindet wie kaum ein anderes Crime Drama die Themenbereiche (Drogen-)Kriminalität und Überwachung3 Eine Rezension auf Criminologia und dem Surveillance-Studies-Blog ist daher naheliegend. Weshalb das von Martin Urschel vorgelegte Buch „The Wire. Netzwerke der Gewalt“ den Leserinnen und Lesern der beiden Blogs dennoch nur bedingt empfohlen werden kann, soll im Nachfolgenden dargelegt werden.
Inhalt
Martin Urschel, seines Zeichens Medien- und Filmwissenschaftler und Linguist, hat mit seinem Buch „The Wire. Netzwerke der Gewalt“ eines von wenigen deutschsprachigen Büchern verfasst, die sich mit der Fernsehserie auseinandersetzen. Das etwas über 100 Seiten starke Buch ist in der Reihe Filmstudien (Band 67) erschienen und untergliedert sich in die drei größeren Abschnitte „Ästhetik: Objektive Kamera, subjektiver Blick“ (S. 14-47), „Dramaturgie: Regeln des Spiels und Regelbrüche“ (S. 48-80) und „Deutungsansätze: Aus dem Blick“ (S. 81-100).
Wie die Kapitelüberschriften vermuten lassen, liegt der Schwerpunkt der Ausführungen auf der stilistischen Ausführung der Fernsehserie. Im ersten Kapitel elaboriert der Autor ausführlich die Ästhetik der Serie beginnend mit einer detaillierten Analyse der Eingangssequenz der ersten Folge von The Wire, die als Prolog der gesamten Serie die „ästhetische Grundierung legt: Gewalt, Großstadt, Polizeiarbeit“ (S. 19)4. Nachfolgend geht der Autor auf die serienspezifische Narrationsmuster ein, die deutlich mit gängigen Erzählweisen in Fernsehserien brechen. Urschel macht dies an einer „Strategie der ‚produktiven Verwirrung'“ (S. 20), der Figurengestaltung (S. 23 ff.), parallelen Handlungspfäden, Multiperspektivität (S. 26 ff.) und schließlich der subtilen Dramaturgie und Metaphorik (S. 34 ff.) fest.
Urschel arbeitet die große Nähe von The Wire zum dokumentarischen Erzählen heraus, die in der Äesthetik der Serie Widerhall findet (S. 37). Dies lässt sich auf den Umstand zurückführen, dass Serienschöpfer David Simon über eine Dekade als Polizeireporter bei der Baltimore Sun gearbeitet hat. Der dokumentarische Stil wird vor allem geprägt durch einen weitestgehenden Verzicht auf Filmmusik, subkultureller Slang und die fragmentierte Erzählabschnitte, die parallel zu anderen Erzählsträngen montiert sind und nicht immer zeitnah aufeinander Bezug nehmen.5
Als eine ästhetische Besonderheit weist Urschel auf den gezielten Einsatz von Distanz und Nähe der Erzählung zum des Zuschauer hin. Besonders erwähnenswert ist hierbei der Einsatz des Blickwinkels von Überwachungskameras, die das Gezeigte „objektiv abbilden“, aber natürlich auch dem Zuschauer die Überwachungs(-technik) als ein zentrales Thema der Erzälung in Erinnerung rufen (vgl. S. 46).
Der zweite Abschnitt des Buches zur Dramaturgie der Serie weiß weniger zu überzeugen als der vorangegangene Abschnitt. In dem Versuch, Handlungsstränge von The Wire zu paraphrasieren und sie mit klassischen dramaturgischen Strukturen, ökonomischen und soziologischen Ansätzen sowie größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen in Bezug zu setzen (vgl. S. 48), verheddert sich der Autor in der „überwältigenden Komplexität“ (S. 99 ff.) der Serie. Trotz zahlreicher Redundanzen bleiben Ausführungen zur „iterabilisierenden Performativität“ (S. 55 ff.), zum „Structure-Agency-Problem“ (S. 58 ff.), zur Netzwerktheorie (S. 66 ff.) und Makroökonomie (S. 69 ff.) schemenhaft.
Im letzten Abschnitt des Buches entfernt sich der Autor wieder weiter von der Fernsehsendung und liefert eine schön zu lesende generische Bestimmung von The Wire, um abschließend auf eine von Slavof Žižek getroffene Analogie zwischen The Wire und der griechischen Tragödie einzugehen.
Fazit
Das Buch „The Wire. Netzwerke der Gewalt.“ von Martin Urschel hält, was es verspricht: es liefert eine Filmstudie, die detailliert die Ästhetik der Serie und die eingesetzten filmischen Stilmittel analysiert und plausibel mit dem Inhalt der Fernseherzählung in Beziehung setzt. Diese Ausführungen sind gut geschrieben und lesen sich – nicht nur für Medienwissenschaftler – interessant. Hierbei ist eine gute Kenntnis der Serie unbedingt erforderlich. Wer sich indes eine inhaltliche Einführung in die Serie oder aber detaillierte Erläuterungen zu den zahlreich in der Serie angelegten sozialen Konflikt- und Problemfeldern erhofft, wird mit Urschels Ausführungen vermutlich nicht zufrieden sein. Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen werden vermutlich an einer der zahlreichen englischsprachigen Publikationen oder dem deutschsprachigen Sammelband von Ahrens et al., 20146 mehr Gefallen finden. Diese Kritik bezieht sich weniger auf den Autor, sondern vielmehr auf die Kürze der Ausführungen. Einhundert Seiten (von denen nur gut 30 Seiten der Dramaturgie und der Herstellung von Bezügen zur sozialwissenschaftlichen Theorie gewidmet sind) reichen schlichtweg nicht aus, um der komplexen und vielschichtigen 60-stündigen Serie gerecht zu werden.
Style in The Wire (Erlend Lavik, 2012)
Weiterführende Quellen
- Interview mit Martin Urschel über sein Buch “The Wire – Netzwerke der Gewalt” (real virtuality, 06.02.2014)
- Why We’re Teaching ‚The Wire‘ at Harvard (Harvard Kennedy School, 12.09.2010)
- This Will Be on the Midterm. You Feel Me? Why so many colleges are teaching The Wire. (Slate, 24.03.2010)
- The Wire goes to College (Contexts, Sommer 2011)
- The Wire: A comprehensive list of resources | PDF (Centre for Urban Research, University of York)
Bei The Internet Movie Database ist die Serie aktuell von über 135.000 Nutzern mit einer Durchschnittsbewertung von 9,4 (von 10 möglichen Punkten) bewertet worden. ↩
Google Scholar weist aktuell bei der Suche nach „‚The Wire‘ + HBO“ über 3.000 Suchergebnisse aus. ↩
Bereits der Titel „The Wire“ (engl. Wanze, Abhörtechnik) verweist auf die Thematisierung von Überwachungspraktiken. ↩
Der Autor verweist auf den Video-Essay „Style of the Wire“ von Erlend Lavik, der unten verlinkt ist. ↩
Ahrens, Jörn; Cuntz, Michael; Koch, Lars; Krause, Marcus; Schulte, Philipp (2014): The Wire. Analysen zur Kulturdiagnostik populärer Medien. Wiesbaden; Springer Fachmedien Wiesbaden (Kulturelle Figurationen). ↩