In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Büchern aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie. Weitere Rezensionen finden sich hier.
Titel: | Abolitionismus. Ein Reader. | |
HerausgeberInnen: | Daniel Loick & Vanessa E. Thompson | |
Jahr: | 2022 | |
Verlag: | Suhrkamp | |
ISBN: | 9783518299647 |
Dieses Buch enthält schockierende Berichte über Angehörige vulnerabler Gruppen in der US-Gesellschaft, die von der Polizei, die sie in einer Notsituation gerufen hatten, vergewaltigt und umgebracht wurden. Es berichtet auch über Initiativen, die aus der Erkenntnis entstanden, dass weder Polizei noch Richter oder gar der Strafvollzug für Sicherheit (insbesondere unterdrückter und marginalisierter Bevölkerungskreise) sorgen können – und die daher über die Black Lives Matter (BLM) Bewegung nicht nur zu einer allgemeineren Staatskritik oder über (queer-) feministische Perspektiven zur selbstreflexiven Kritik des unglückseligen carceral feminism (hier übersetzt als Strafrechtsfeminismus) fanden, sondern auch zu radikalen Forderungen wie Defund the Police, bzw. zu einer autonomen Praxis von restorative oder besser noch transformative justice, also zu Lehren und Bestrebungen, die allesamt einen gewissen Bezug aufweisen zum Begriff und zur Geschichte des Abolitionismus.
Ob der Abolitionismus allerdings dadurch aus seinem Dornröschenschlaf aufgeweckt und „zum Leitbegriff einer Pluralität von Kämpfen“ werden kann, ohne dabei „sein Profil als spezifischer Ansatz radikaler Theorie und Praxis zu verlieren“, ist, wie die Herausgeber zugeben, eine durchaus offene Frage.
Der Wert des Readers liegt wohl vor allem darin, einem deutschsprachigen Publikum einen authentischen Einblick in die Praxis eher staatskritischer, auf Autonomie bedachter und insofern „abolitionistischer“ Initiativen zu bieten (Stichworte: Mothers ROC, INCITE!, Critical Resistance, Story Telling & Organizing Project, Creative Interventions). Trotz der gelegentlich erfreulich ungeschminkten Selbstzeugnisse irritiert mich dabei allerdings die große Bereitschaft der Herausgeber zur Unterwerfung unter die Anforderungen dieser oder jener „Korrektheit“.
Wie kann man denn aus historischen Dokumenten auf eine Weise zitieren, die kaum noch erkennen lässt, welche Worte dort einmal benutzt worden waren? Wie kann man einem Beschluss aus dem Jahre 1818 (aus den Südstaaten der USA) so viel Gewalt antun, dass man „zitiert“, dass die Einrichtung von Patrouillen beschlossen wurde, um „ungesetzlichen Versammlungen von N* und anderen Sklav:innen“ vorzubeugen? Jedem Abolitionisten und jeder Abolitionistin muss auch auffallen, dass als „Themen und Motive“ des heutigen Abolitionismus zwar Gefängnis, Polizei, Militär, Todesstrafe, Grenzen und Lager, Eigentum und Kapitalismus, Ökologische Zerstörung sowie last not least das sympathische „Abolish Everything“ von Ruth Wilson Gilmore Erwähnung finden, nicht aber das politisch besonders umstrittene Thema der Apartheid. Allerdings verwundert bei soviel falscher Rücksichtnahme auch nicht, dass dann auch die Geschichtsschreibung selbst nicht ungeschoren davonkommen kann. Die Hinweise der Herausgeber auf die bekannten Revolten auf Sklavenschiffen oder auf Haiti in allen Ehren, aber die große Tragik liegt nun einmal gerade darin, dass die Sklaven selbst nicht in der Lage waren, die Abschaffung der rechtlichen Zulässigkeit der Sklaverei als solcher zu bewirken, sondern dass dies die Aufgabe und das historische Verdienst derjenigen war, die sich vor allem seit 1775 in den vielfältigen Abolitionsgesellschaften engagiert und dafür oftmals ihr Leben riskiert oder gelassen hatten. Wie Friedrich Nietzsche so hellsichtig sagte: die Gefahr der engagiert kritischen Geschichtsschreibung liegt darin, Geschehnisse der Vergangenheit aus Übereifer nicht mehr so darzustellen, wie sie sich zugetragen hatten, sondern so, wie man sie gerne gehabt hätte und sich damit „gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt.“