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Wenn das Problem nicht erkannt wird, kann man es nicht angehen. Die luzide Aussage des Aktivisten „Chris“ sticht in dem Artikel der taz „Sie wollen nur reden“ von Robert Matthies in einem ansonsten in mehrfacher Hinsicht fragwürdigen Beitrag heraus. Hier eine Replik:
Als kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept eines demnächst stattfindenden Bürgerdialogs mit der Polizei in Hamburg St. Pauli angekündigt, wird schon im Aufmacher (S. 45): „Die Polizei zieht Samthandschuhe an“ und in der Überschrift (S. 49) „Sie wollen nur reden“ der Tenor gesetzt, die Polizei wolle plumpe mit manipulativen Taktiken ergänzen. Ausschließlich aus der argwöhnenden Perspektive der zu Wort kommenden Aktivisten wird ein „weiterer Schritt in der Verpolizeilichung des Konflikts“ vermutet. Tatsache ist: Polizist:innen sind Teilnehmer in einem von der unabhängigen Forschungsstelle FOSPOL finanzierten Austausch, in dem die vielfältigen Probleme des Quartiers mit der Polizei aus Bürgersicht an die Polizei adressiert werden.
Insgesamt hat der Text kein Thema und verfehlt es trotzdem: Matthies beginnt seinen Artikel mit einer romantisierenden Lagebeschreibung; danach kommen Aktivisten zu Wort, durch deren Aussagen die Konflikte mit der Polizei auf einen einzigen reduziert werden, nämlich Racial Profiling in Gestalt einer von der Polizei eingesetzten „Task Force BtM“. Matthies vermutet: Seit 2018 „scheint auch die Polizei an der Akzeptanz der Maßnahmen zu zweifeln“. Meint er wirklich, dass es der Polizei darum zu tun ist, ihre Maßnahmen von Jeder und Jedem gutgeheißen zu wissen? Ein interessanter Gedanke.
Laut Matthies waren es Selbstzweifel in der Polizei; in Wirklichkeit jedoch die Initiative unabhängiger Wissenschaftler:innen, die die Situation um die Balduintreppe verstehen wollten. Eine im letzten Jahr von mir durchgeführte Studie, die FOSPOL beauftragt hatte, analysiert die Konfliktlinien und -dynamiken im Sozialraum St. Pauli-Süd. Der Studie wirft der taz-Artikel nun vor, Rassismus und Racial Profiling in der Polizei von „vornherein auszuklammern“ und diesem Thema nur einen Absatz zu widmen. „Das Problem“ würde verkannt. Überlesen wurde: „Da in der Wahrnehmung vieler Interviewpartner die Konfliktursachen gesamtgesellschaftlich ungelöste Problematiken sind, muss im Sinne der Auftragsbeschreibung abgegrenzt werden, welche Themen die vorliegende Konfliktanalyse nicht bearbeitet“. Zu Strukturellem Rassismus in der Polizei steht dort: „Grundsätzlich ist der Vorwurf des Rassismus gegen eine Behörde ein schwerwiegender und muss dringend ernst genommen werden.“ Dies könne aber im Rahmen dieser Studie „nicht mit der gebotenen Begriffsschärfe und Forschungstiefe diskutiert und bewertet werden.“ (S.4)
In einem Satz: Der Autorin einer 55-seitigen akteurzentrierten Analyse der Konflikte in einem urbanen Sozialraum wird vorgehalten, sie sei auf dem rechten Auge blind, weil die Studie keine Rassismusstudie ist.
Mit den Aktivist:innen im Artikel bin ich der Auffassung, dass das Kontrollieren von Personen nach Hautfarbe zutiefst beschämend für unsere Gesellschaft ist. Um aber das Problem präzise zu erfassen, bedarf es mehr, als die Faktizität von Racial Profiling in der Strafverfolgung dunkelhäutiger Drogenhändler bewiesen zu sehen: Um herauszufinden, wo und wie genau Rassismus in der Polizei zutage tritt, und wann er wirkmächtig wird, bedarf es eines Forschungsdesigns, das zunächst einen operationalisierbaren Strukturbegriff festlegt – ist Struktur Kontingenz begrenzende Ursache sich wiederholender Handlungsmuster? Ist sie Voraussetzung für oder Folge von rassismusfördernden Machtverhältnissen? Oder einfach eine Art Big Data-Umschreibung für zu mannigfaltige Interaktionen? Damit wäre es noch lange nicht getan: Ist es wirklich „die Institution“? Oder sind es „nur“ soziale Zirkel und Netzwerke in der Polizei? Was an zweifelhaften Verhaltensweisen geht auf Einstellungen und Haltungen zurück, und welche Rolle spielen Affekte oder Situationsdynamiken? Und wie bedingen diese Ebenen einander?
Nur mit einer unvoreingenommenen Herangehensweise, die Kultur, Wissensbestände und Organisation genau anschaut, kann qualifizierte Forschung entstehen und nur so können der Polizei die Baustellen und Stellschrauben aufgezeigt werden, an denen sie arbeiten muss.
Doch für Wissenschaft hat Matthies nicht viel übrig. Lieber lässt er einen GWA-Mitarbeiter unverdrossen neunmalschlau „Probleme mit strukturellem Rassismus in Institutionen“ (S.49) behaupten. Das trägt nichts, aber auch wirklich gar nichts zur Verbesserung dringend verbesserungsbedürftiger Zustände bei. Nicht allein mit dem zu wacklig konstruierten Vorwurf der totalen Verkennung „des Problems“ – und dieser geschah bewusst und absichtlich – irritiert Matthies. Zu zwei weiteren mindestens so zentralen Themen wird er sich hoffentlich äußern:
Erstens verliert er keine Silbe darüber, dass sich vor allem Frauen (aber nicht nur) durch die Dealer belästigt und gestört fühlen. Nicht nur kommen bei den Sprechern (!) im Artikel weibliche, migrantische, (schul-) kindliche und Minderheitenperspektiven auf den Konflikt schlicht nicht vor. Unangenehm sexistisch wird der Autor noch auf einer anderen Ebene: Die Urheberin und Organisatorin, die das Dialogformat zwischen Polizei und Bürger:innen im Stadtteil empfohlen und entwickelt hat, beschreibt Matthies als Sozialanthropologin auf Raumsuche für einen umstrittenen Workshop, für die „gar nicht geklärt sei, worum es ginge.“ Dagegen attestiert er seinem Gesprächspartner, dem Sozialarbeiter Manwire, „der sich seit Jahren mit dem Thema Rassismus auseinandersetzt und Vorträge zum Thema hält“ eine Kompetenz, die er einer Wissenschaftlerin mit internationaler Forschungserfahrung, unter anderem mit bewaffneten Gruppen und auch mit Polizeireformen, nicht zutraut. Strukturelle Misogynie?
Zweitens ignoriert Matthies vollständig, dass der Handel mit Drogen eine Straftat ist. Im demokratisch verfassten Rechtsstaat obliegt der Polizei der Strafverfolgungszwang. Und das ist im Grundsatz richtig. Was linksidentitäre Aktivist:innen und der von ihnen undistanzierte Autor hier fordern, ist Selbstjustiz und die Souveränität, selbst zu entscheiden, was Straftaten sind: „Absprachen mit den Dealern funktionierten bis heute: keine Deals vormittags und vor der Schule“ (S.49). Lächerlich! Ein Mindset, für das sonst nur Reichsbürger bekannt sind. Würde Matthies auch für jene eine Lanze brechen?
Nur nebenbei bemerkt: Viele Anwohner beklagen, dass sich die Dealer nicht an Absprachen halten.
Erklärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang auch die Gleichsetzung von Aktivist:innen (die sich offenbar schwertun, die Verfassung anzuerkennen) und Anwohner:innen: „Die Polizei versuche Vertrauen zu gewinnen, auch um an Informationen zu kommen, die, so die Sorge der Aktivist:innen, nicht zuletzt den Verfassungsschutz interessieren“, erfährt man (S.49). Weshalb sollte die Teilnahme von Anwohnern an einem Bürgerdialog mit der Polizei für den Verfassungsschutz von Interesse sein? Wenn Matthies‘ Gesprächspartner das für sich befürchten, mag das begründet sein oder nicht – das wissen nur sie selbst. Aber als Journalist die Anwohnerschaft eines Wohnviertels in die Nähe kollektiver Verfassungsfeindlichkeit zu schreiben? Puh.
Schließlich wird aus dem Konzept für den Bürgerdialog zitiert: „Anwohnende sollen sensibilisiert werden, eine ‚Ownership für Konflikte‘ übernehmen und ‚Verantwortung für eine gelingende Nachbarschaft.‘“ Da auch dies „umstritten“ ist, aber nicht auf seinen Inhalt befragt wird, gebe ich dem taz-Autor gern ein Beispiel, was mit Ownership gemeint ist: Er könnte lernen zu verstehen, dass auch er mit seiner Beschreibung die Marktförmigkeit des Drogenhandels befeuert und zur Situation vor Ort seinen Beitrag leistet: Touristen aus der ganzen Republik lotst er mit präziser Wegbeschreibung samt Öffnungszeiten zu den Dealern: „Cannabis, aber auch Kokain bekommt man, kurzer Blickkontakt und Nicken reichen“, um dann den anliegenden Park zum Konsum zu empfehlen: „(den) Kunstprojektpark Park Fiction, über dem an Sommerabenden immer Grasgeruch liegt.“ Den Anwohner:innen, die derzeit im Zwist darüber sind, wie sie mit Lärm, Müll, lauter Musik und Drogengebrauch im Park umgehen können, hilft er damit nicht. Und leider auch nicht den Menschen, die von Racial Profiling wirklich betroffen sind.