Gestern, Mittwoch, wage ich dann mal eine kurze Expedition in den 9. Stock des Jockey Club Turms der University of Hong Kong: hier residieren die Soziologie, das Centre for Criminology und das Department of Politics and Public Administration. Im Department klopfe ich an die Tür von Dr. Uwe Steinhoff, Autor des großartigen Buches über „Moralisch korrektes Töten. Zur Ethik des Krieges und des Terrorismus“ (leider „on leave“ 2014-15), durch die Fenster sehe ich gepackte Kisten; vielleicht freut er sich über eine kleine Notiz, die ich im Sekretariat hinterlasse. Im Centre for Criminology hängt noch ein Poster: den Gastvortrag von Phil Carney aus Kent über Green Criminology habe ich wohl verpasst (schade!). Eine Bürotür geht auf: das ist Dr. Travis Kong, Kapazität der Queer-Forschung („Fading Queer Heterotopia: Hong Kong Older Gay Men’s Queer Use of Spaces in Pre- and Post-Colonial Hong Kong“). Hier ist viel los: Vorträge über Sexarbeit und Drogengebrauch, über Strafvollzugsreform und über das zentale Thema der letzten Wochen – Polizei und Demonstrationen in autoritären Systemen. Im AStA-Gebäude machen mich die Vortragsankündigungen, die Wandzeitungen und die vielen Spenden für die Occupy-Studierenden neugierig auf die wirkliche Wirklichkeit: ob es die Bewegung, die so viele Schlagzeilen gemacht hatte, vielleicht doch noch gibt (und ich meine jetzt nicht Mong Kok, sondern Admiralty und den Regierungsdistrikt, da, wo ich im Vorbeifahren noch ein paar Zelte gesehen zu haben glaubte)?

Heute dann durch endlose Marmor-Malls und Flagship-Stores von Cartier, Armani, Gucci, Ermenegildo Zegna doch irgendwie wieder auf die Straße, wo tatsächlich nicht nur noch ein paar Zelte stehen, sondern hunderte von leichten Zelten auf dem Beton der gesperrten Expressways auf ihre Bewohner warten, die mit der Organisation dieses ungewöhnlichen Dorfes beschäftigt sind. Kleine Ansprachen werden gehalten; kleine Stauden in den Beton der Straßen gepflanzt, Zettel an den John Lennon Wall geheftet und mit leichter Plastikfolie vor tropischen Regengüssen wie dem von gestern Nacht geschützt; man braucht Essen und Trinken, einige studieren in einem abgegrenzten Areal auf der besetzten Stadtautobahn. Leere Zelte drohen wegzuwehen; dabei lerne ich zufällig jemand kennen, der ein Zelt festhält. Herr Cheuk Ting Lam gibt mir seine Karte: er ist Chief Executive der Democratic Party und verweist stolz auf die Ausdehnung der Zeltstadt nach rechts und links und auf die gute Stimmung und die kreativen Aktivitäten der Bewohner. Solidaritätsadressen in Dutzenden von Sprachen – natürlich auch auf Deutsch – sind offenbar wichtig; auch auf Beteiligung auf Facebook wird Wert gelegt; aber am wichtigsten für den weiteren Erfolg der Bewegung wäre die Solidarität eines nennenswerten Teils der Bevölkerung und zumindest einer kleinen Riege der alles beherrschenden Superreichen. Die üben sich allerdings in extremely low profile.

Immerhin treffe ich noch Herrn Chan, einen ehemaligen trader, der seit Wochen erst bei der Verpflegung geholfen hat (während er Handy-Bilder zeigt, erläutert er die Rezepte und die Arbeitsschritte für die Versorgung von vielen Menschen), und der jetzt in der open air Schreinerei Unterricht in der Herstellung kleiner Sitzmöbel für den study room und für den allgemeinen Gebrauch in der Zeltstadt erteilt. In der sozialen Kälte der Finanzmetropole und in der Stadt mit dieser schmerzhaft aufgerissenen Kluft zwischen Superarm und Superreich und einem dazwischen irgendwie eingeklemmten Mittelstand, der nicht so recht ein noch aus zu wissen scheint, waren die vor Freude blitzenden Augen des Herrn Chan ein Sonnenstrahl, der uns auf der Rückreise sicher noch bis zum Zwischenstopp in Helsinki angenehm wärmen wird.
