
Wie ich dazu kam, ausgebeutet zu werden
Nachdem ich 2011 meinen Master in Kriminologie abschloss, machte ich die (nicht unerwartete) Entdeckung, dass ‚Kriminologin‘ kein Beruf ist und es daher keine kriminologischen Stellen gibt. Ich fand außerdem heraus, dass es zwar viel Arbeit ist, sich um einen Promotionsplatz zu bewerben, aber nicht die Art von Arbeit, die bezahlt wird.
Also suchte ich einen Job in der ‚echten Welt‘. Ich fand schnell eine Stelle als Nachtbereitschaft in einer Wohngruppe für Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen. Mein Arbeitstag fing um 21.30 an. Um 10 oder 11 ging ich schlafen und um 5.15 ging es weiter mit einem Frühdienst bis 8.30. Ich weckte die BewohnerInnen, duschte sie, hob sie in und aus ihren Rollstühlen und bereitete sie auf den Tag vor. Es war harte Arbeit, die noch härter wurde, wenn ich nicht genug geschlafen hatte.
Ich arbeite mit Menschen mit geistiger Behinderung, weil es eine der erfüllendsten Tätigkeiten ist die ich mir vorstellen kann. Ich bezweifle, dass es eine andere Tätigkeit mit besserer Zeit/Umarmungen – Quote gibt, und es ist schön, wenn jemand vor Begeisterung kreischt, wenn er dich sieht. Ich wählte diesen Arbeitsbereich außerdem weil ich etwas machen wollte, was komplett anderes war als in mein ‚akademisches Leben‘. Dieser Plan ging nicht ganz auf.
In meinem ‚akademischen Leben‘ beschäftige ich mich mit der Verbindung von Neoliberalismus und Moralität. Um genau zu sein untersuche ich, woran Menschen glauben, die von sozialer Ungleichheit profitieren. Wenn man Marx folgt, beruhen kapitalistische Systeme grundsätzlich auf Ausbeutung. Ausbeutung entsteht, wenn jemand (z.B. ein Mitglied des Proletariat) keine angemessene Entlohnung für seine Arbeit erhält, weil jemand anderes (z.B. ein Mitglied der Bourgeoisie) den Mehrwert dieser Arbeit für sich beansprucht. Marx glaubte, dass sich die Unterdrückten irgendwann gegen ihre Unterdrücker auflehnen würden.
Marx hat den Einfluss von Ideologie unterschätzt. Theodor W. Adorno sah die Funktion von Ideologie darin, die Unterdrückten davon abzuhalten, sich aufzulehnen. Indem sie fest daran glauben, dass sie selbst einmal zu den Gewinnern zählen werden, wenn sie nur hart genug arbeiten, akzeptieren Menschen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse. Sie akzeptieren damit nicht nur die Ideologie der Herrschenden, sie werden zu den frommsten Verfechtern eines Systems, das sie ausbeutet.
Mein kleiner Ausflug in die Welt der Arbeit zeigte mir ein Bild von Ausbeutung, das sich von dem klassisch marxistischen unterschied. Sozialarbeit, Heilpädagogik und Tätigkeiten im sozialen Bereich sind bekannt für ihr hohes Arbeitspensum und ihre schlechte Bezahlung. Nun, in Zeiten von Finanzkrisen und Kürzungen werden diese Arbeitsbedingungen nur schlechter werden.
Wir als diese Berufstätigen sollten wirklich, wirklich sauer sein. Wir werden schlecht für Berufe bezahlt, an denen Menschenleben hängen. Unsere Berufe sind anstrengend, anspruchsvoll und manchmal gefährlich. Dafür erhalten wir wesentlich geringere Gehälter als Menschen mit vergleichbaren Abschlüssen.
Als ich meine Arbeit begann, erwartete ich, dass meine KollegInnen über diese Dinge reden würden. Ich erwartete, dass sie wütend über die sozioökonomischen Umstände sein würden, die ihre Arbeit erschweren. Stattdessen fand ich heraus, dass sie vor allem wütend auf einander waren.
Verbitterung und die Kultur der Selbstausbeutung
Ärger und Verbitterung durchzogen die Atmosphäre der Einrichtung. Wenn ich abends zur Arbeit kam, las ich im Übergabebuch regelmäßig eine lange Ansammlung von Beschwerden und Anschuldigungen, die oft an bestimmte Leute adressiert waren (Boss, kannst du X sagen, sie soll nicht immer auf unserem Parkplatz parken. Y, warum hast du gestern keine Milch gekauft?). Seite um Seite von Klagen und kleinen passiv – aggressiven Sticheleien. Die Nachtwachensitzungen wurden zu überlangen Standpauken, in denen wir inbrünstig angehalten wurden, die Zahnputzbecher besser zu säubern und das Bereitschaftszimmer ordentlich zu halten. Oft waren diese Reden mit herablassenden Appellen an unsere Vernunft verbunden (wir wollen doch alle, dass es hier nett ist, oder?)
Auch meine persönlichen Interaktionen mit KollegInnen waren von Verbitterung geprägt, ohne dass ich je direkt Streit mit jemandem gehabt hätte. Ständig musste ich mir lange und emotionale Beschwerden über Dritte (meist eine Aushilfe oder eine andere Nachtbereitschaft) anhören. Darüber, wie oft sie sich krank meldeten. Darüber, dass sie Wäsche nicht ordentlich einsortierten. Fehler zu machen war in dieser Arbeitsstelle auch besonders einfach, durch die kaum zu übertreffende Anzahl an Regeln die existierten. Für alle Dienste gab es detaillierte Ablaufpläne auf denen genau festgehalten wurde wer wann was durfte. In der Küche z.B. hingen Zettel an den Schränken die die Mahlzeiten regelten. Jeden Mittwoch gibt es für jeden Bewohner eine Scheibe Brot. Zum Frühstück gibt es für jeden zwei Scheiben. Am Nachmittag gibt es zum Kaffee-trinken für jeden genau ein Stück Obst. Warum würde eine Einrichtung die Menge von Obst begrenzen wollen, die ihre Betreuten zu sich nehmen.
Am meisten zu schaffen machte mir, dass ich selber anfing, mich zu verändern. Ich bekam schlechte Laune, sobald ich zur Arbeit kam. Ich suchte nach Fehlern bei Anderen. Ich dachte regelmäßig ‚das ist nicht meine Aufgabe‘, wenn jemand mich um etwas bat, egal wie klein die Aufgabe war.
Wie entsteht ein Arbeitsklima wie dieses? Warum fängt eine Gruppe von Menschen, an sich gegenseitig wie egoistische Teenager zu behandeln, die doch alle diesen Beruf gewählt haben, um anderen Menschen zu helfen?
Ich glaube, die Antwort auf diese Frage liegt in dem, was ich als ‚Kultur der Selbstausbeutung‘ bezeichne. Auf den ersten Blick sieht meine Erfahrung nicht aus, als hätte sie viel mit dem marxistischen Konzept von Ausbeutung zu tun. Meine Einrichtung ist nicht privatisiert. Niemand wird von unserer Arbeit reich. Die Kultur der Selbstausbeutung entsteht dadurch, dass Einrichtungen wie diese nicht funktionieren können, ohne dass ihre MitarbeiterInnen gewisse Opfer bringen. Diese Opfer werden einmal dadurch notwendig, dass wir nie schließen dürfen. Unsere BewohnerInnen brauchen rund um die Uhr Betreuung und so müssen wir 24 Stunden am Tag Betreuung garantieren. Dazu kommt, dass diese Einrichtungen oft unterbesetzt und unterfinanziert sind. Dadurch entsteht ein Arbeitsklima, in dem MitarbeiterInnen vermehrt krank werden oder schnell die Einrichtung wieder verlassen, was wiederum die Arbeitsbedingungen für alle anderen belastet.
Wenn dieses System perfekt eingesetzt wird, entsteht ein Zustand der ständigen Krise. Ich kann nicht mehr sagen, wie oft ich schon Anrufe bekommen habe, die den Satz ‚Du bist unsere letzte Hoffnung‘ beinhalteten. Die Stimmung wird auch dadurch nicht besser, dass die Leute, die bei der Arbeit sind, einen großen Teil ihrer Zeit damit verbringen müssen, Schichten neu zu besetzten. Leute, die sowieso schon überarbeitet sind davon zu überzeugen, noch mehr zu arbeiten, ist eine beschissene Aufgabe. Ständig Anrufe zu bekommen, dass man noch mehr Schichten übernehmen muss, weil jemand sich krank gemeldet hat, ist genauso beschissen.
Warum akzeptieren wir die Kultur der Selbstausbeutung?
Was mich an meiner Arbeitsstelle faszinierte war, dass meine Mitarbeiter nicht den schlechten Arbeitsbedingungen die Schuld für diese Probleme gaben, sondern einander. Schlechte Arbeitsbedingungen im sozialen Bereich sind nicht unumgänglich. Lösungen für diese Probleme erscheinen mir ziemlich offensichtlich. Wenn die MitarbeiterInnen besser bezahlt wären, wäre es vielleicht möglich, besser qualifizierte BewerberInnen zu finden. Bessere Arbeitsbedingungen würden außerdem dazu führen, dass weniger MitarbeiterInnen krank würden. Alternativ müssten Ausfälle besser mit eingerechnet werden und mehr Leute eingestellt werden, um den Dienstplan abzudecken. Aufgrund von schlechten Arbeitsbedingungen und geringer Bezahlung ist es jedoch allein schon schwierig, überhaupt BewerberInnen zu finden.
Auf einem kognitiven Level sind wir uns sicherlich alle einig, dass dies alles unfair ist. Es scheint allerdings wenig zu geben, was wir tun können, um unsere Situation zu verbessern. Darüber nachzudenken, dass sich unsere Arbeitsbedingungen nicht verbessern werden, ist unangenehm. Es ist unbequem und sorgt dafür, dass wir uns machtlos fühlen. Es ist dieses Gefühl der Machtlosigkeit, das dazu führt, dass wir unsere Frustration auf einander konzentrieren. Indem wir uns gegenseitig die Schuld geben, können wir weiter daran glauben, dass wir besser arbeiten könnten, wenn nur unsere KollegInnen nicht solche Idioten wären.
Ein anderer guter Grund, schlecht über unsere KollegInnen zu denken ist, dass wir uns selber dadurch besser fühlen können. Arbeit in den ‚helfenden Berufen‘ ist nicht nur unterbezahlt, sie wird auch nicht genug wertgeschätzt. Der mangelnde Respekt, den meine KollegInnen sich gegenseitig zeigen, spiegelt dies wieder. Wir wollen alle Wertschätzung für unsere Arbeit erfahren. Wir haben nicht das Gefühl, dass wir den Respekt kriegen, der uns gebührt. Warum sollten wir anderen geben, was wir selber nicht bekommen?
Selbstausbeutung als eine Technik der Disziplinierung
Selbstausbeutung hat auch ihre guten Seiten. Sie ist notwendig, um das System wie es ist am Laufen zu halten. So lange wir damit beschäftigt sind, uns gegenseitig vorzuwerfen, wir würden uns zu oft krank melden, denken wir nicht über andere Sachen nach. Zum Beispiel fragen wir uns nicht, warum wir nicht genug Personal haben können, um den Dienstplan regulär abzudecken, während unsere Stadt Milliarden in eine neue Philharmonie steckt. Die Kultur der Selbstausbeutung hält uns in unseren Grenzen und hält uns davon ab, über Dinge nachzudenken, die vielleicht zu politischem Engagement führen könnten.
Eine jede Gesellschaft muss ich um seine schwächsten und verwundbarsten Mitglieder kümmern. Eine Möglichkeit, diese Verantwortung los zu werden ist, soziale Einrichtungen zu privatisieren. Dies bringt seine eigenen, sehr dramatischen Probleme mit sich. Alternativ hat der Staat ein Interesse, die Kosten für diese Aufgabe so weit wie möglich zu drücken. Die Kultur der Selbstausbeutung ist ein wichtiges Werkzeug, um MitarbeiterInnen dazu zu bekommen, dies zu akzeptieren.
Als Akteure im sozialen Bereich ist es unsere Pflicht, unsere eigene Rolle kritisch zu reflektieren, wenn sie ein ungerechtes soziales System ermöglicht und unterhält. Es gibt keine einfachen Lösungen für die in diesem Artikel aufgezeigten Probleme. Wir können uns nicht einfach weigern, uns weiter ausbeuten zu lassen, da wir immer das Wohl unserer Betreuten im Blick haben müssen. Aber was wir tun können, ist der Realität ins Auge zu schauen und die Machtlosigkeit, die wir dadurch spüren, auszuhalten. Auf diese Weise ist es vielleicht möglich, wenigstens für uns selbst ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das von Solidarität geprägt ist und nicht von Verbitterung.
Vielen Dank für diesen Beitrag, der mir aus der Seele spricht.
Ein wirklich netter Beitrag! Dankeschön!