Vom Regel-machen und dem Sport als vermeintlich moralischer Gesellschaftsgröße.
Doping als kriminologisches Problem
Nils Zurawski
Sehr denkwürdige olympische Spiele von Tokyo 2020/21 sind gerade erst vorbei, die nächsten stehen in Peking kurz bevor. Wurde in Tokio noch viel über die Pandemie gesprochen, die Verschiebung und die Gesundheit der Athlet:innen, so stehen in Peking die Menschenrechte auf dem Plan, zumindest zeitweise. Es wird diplomatisch boykottiert, was immer es bringen mag. Der Sportzirkus zieht ein Land weiter, die Themen wechseln, manche bleiben allerdings, oder bekommen hauptsächlich dann eine gesteigerte Aufmerksamkeit wie etwa das Doping.
Über Doping wurde während der Tokyo-Spiele auch gesprochen, vor allem angesichts einiger Rekorde und Bestleistungen, die zumindest berechtigte Fragen aufwerfen angesichts so einiger Ereignisse in den letzten 10, 20 Jahren. Dass das Thema Doping nach wie vor ein schwieriger Begleiter des Sports ist und so richtig keine Sportler:in, schon gar nicht die vielen Funktionäre (und auch so mancher Journalisten und das auch das Publikum) sich damit die Laune verderben lassen wollen, zeigt nicht nur die wellenhafte Berichterstattung darüber – also immer wenn was anfällt, wobei es hier wenige journalistische Ausnahmen gibt – sondern auch der Umgang und die Einstellung so mancher Funktionäre im Sport, auch abseits der großen Bühnen.
Um das zu verstehen, ein kleiner anekdotischer Rückgriff. Auf einer Tagung eines Deutschen Sport-Spitzenverbandes im Herbst 2019 hielt ich einen Vortrag zur Kritik des Anti-Doping-Systems. In der anschließenden Diskussion hielt einer der Teilnehmer, allesamt Trainer und Betreuer, den Vortrag unpassend für einen Anti-Doping-Tag und verwies, um seine Kritik zu untermauern, auf eine meiner Folien. Auf dieser hatte ich ein Ergebnis unserer Untersuchung[1] mit einem Auszug aus dem statistischen Material wiedergegeben. Die Frage dort war, ob die Interviewten ihre Angaben im ADAMS fälschen würden, um ihre Privatsphäre zu schützen. Insgesamt konnten sich das unseren Angaben zufolge zumindest rund 10% vorstellen. Der Kritiker verwies darauf, dass diese 10% wohl diejenigen seien, die auch im Verdacht stehen zu dopen. Kritik am Doping-Kontroll-System, welches aus der Aussage durchaus herausgelesen werden kann, war für ihn gleichbedeutend mit dem Willen illegale leistungssteigernde Mittel zu nehmen. Der Schluss ist zwar absolut unbegründet und aus dem empirischen Material nicht herauszulesen, verweist aber auf ein grundsätzliches Problem im Umgang mit Doping im Sport: Kritik an den Kontrollen wird häufig gleichbedeutend mit einer Akzeptanz von Doping gesehen. Der Grund liegt m.E. auch daran, dass Sport an sich grundsätzlich als gut und positiv bewertet wird, als Wert an sich, der durch den Regelverstoß des Dopings auf jeden Fall verletzt würde.
Zum Sport gehören bestimmte, aber in der Regel nicht näher bestimmte oder definierte Werte, deren Verletzung grundsätzlich moralisch verwerflich sei, so der sport-interne Diskurs, der auch in Regelwerken oder dem WADA Anti-Doping-Code zu finden ist. Eine Kritik an den Kontrollen sei deshalb abzulehnen, weil sie diese Werte und die positiven Aspekte des Sports in Frage stellen würde. Eine kritische, wissenschaftliche Beschäftigung mit Doping als Phänomen im Sport, insbesondere mit den Kontrollmechanismen, ist unter diesen Bedingungen kaum möglich oder wird als Verletzung der Werte des Sports als solcher angesehen – wie das Beispiel oben zeigt. Diese Setzung ist falsch und problematisch. Wissenschaftlich ist sie nicht haltbar und für den Sport ist es eine Sackgasse, wenn in der beschriebenen Weise oder auch subtiler auf Kritik reagiert wird.
Da es beim Phänomen Doping insgesamt und recht nüchtern betrachtet zunächst um Regeln und ihre Nicht-Beachtung handelt, scheint es mir hilfreich hier einmal aus einer kriminologischen Perspektive drauf zu schauen, denn aus dieser stehen sowohl der Regelbruch, aber eben auch die Regel sowie ihre Entstehung im Zentrum des Interesses und weniger der Sport als ein Wert an und für sich. Warum eine kriminologische Befassung mit dem Phänomen Doping im Sport auf jeden Fall wichtig ist und insbesondere dem Sport selbst neue Erkenntnisse liefern kann, möchte ich im folgenden ausführen. Dabei geht es vor allem um Widersprüche und den Vorschlag für eine andere Sichtweise auf Doping, die dem Sport mehr Möglichkeiten für Reflexionen über sich selbst ermöglichen könnte.
Doping als normatives Phänomen
Doping ist ein Phänomen des Sports, das unter bestimmten Bedingungen zu einem seiner wesentlichen Probleme werden kann, wenn nicht in einigen Bereichen schon geworden ist. Wissenschaftlich wird es vor allem in den Sportwissenschaften sowie ihr nahestehenden Disziplinen behandelt – der Psychologie wenn es um die Beweggründe für Doping geht, der Pädagogik, schwerpunktmäßig hinsichtlich der Möglichkeiten für Prävention, mitunter den Rechtswissenschaften, was die Doping-Kontrollen angeht. Die Naturwissenschaften kümmern sich um die Nachweisverfahren und um die Wirkungsweisen von Medikamenten und Arzneien in den Körpern der Athlet:innen. Wenn diese als Drogen bezeichnet werden, befinden sich die Diskussion eigentlich schon auf soziologischem und sozialpädagogischem Gebiet, denn der Begriff verweist auf soziale Konstruktionen abweichenden Verhaltens, die mit dem Gebrauch bestimmter Substanzen verbunden sind.
Sucht man nach einer Gemeinsamkeit vieler öffentlicher Debatten, aber auch wissenschaftlicher Diskurse und der Beschäftigung mit dem Thema, dann ist es ihr häufig normativer Charakter bezüglich der Einordnung des Untersuchungsgegenstandes. Doping sei falsch, heißt es da, ein Problem, es zerstöre die Integrität des Sportes, sei gegen seinen “Geist“, ohne dass diese Attribute weiter ausgeführt würden. Dem gegenüber wird der Kampf gegen das Doping, auch bezeichnet als Anti-Doping, grundsätzlich positiv gesehen. Diskutiert wird über unterschiedliche Wege, über die richtigen Präventionsmaßnahmen, Messmethoden für Prävalenzen, weniger häufig, ja fast nie, darüber, ob diese Annahmen stimmen und tatsächlich einen derart normativen Charakter haben können oder sollten.
Die Idee, dass Doping ein grundsätzlich kriminologisches Problem ist, kommt in der Diskussion kaum vor. Das hängt mit den maßgeblichen Akteuren der Diskurse zusammen und der Verortung des Phänomens Doping im Sport, welcher mit den Sportwissenschaften eine eigene akademische (Querschnitts-)Disziplin besitzt, in welcher das „abweichende Verhalten“ nur als negatives, zu sanktionierendes Vorkommnis behandelt wird. Was könnte also eine kriminologische Sichtweise auf das Problem selbst beitragen und wie könnte es die bestehenden Diskussionen bereichern?
Betrachtet man Doping als eine besondere Form des Drogendiskurses, dann ließe sich darüber recht einfach eine kriminologische Beschäftigung mit dem Thema rechtfertigen. Jedoch auch als eigenes für sich stehendes Problem, eingebettet in einen weiterreichenden Sportdiskurs, bietet sich eine genuin kriminologische Betrachtung gerade zu an, denn Kriminologie bedeutet die Wissenschaft vom law making (Gesetze machen), law breaking (Gesetze brechen) und den reactions to law breaking (Reaktionen auf den Gesetzesbruch), eine Definition die auf den Kriminologen Edwin Sutherland zurückgeht. All diese Aspekte sind auch im Phänomen Doping virulent, denn auch jede Diskussion über Doping beschäftigt sich mit einem dieser Aspekte, wenn nicht allen gleichzeitig: law making: die aufgestellten Dopingregeln; law breaking: Doping selbst; sowie den reactions to law breaking: die Dopingkontrollen und die mögliche Sanktionierung von Verfehlungen[2].
Diese Perspektive erlaubt es, nicht länger allein auf die Ursachen und Häufigkeiten von Doping zu schauen, über die richtigen oder weniger Erfolg-versprechenden Präventionsmaßnahmen zu spekulieren oder über die rechtlich adäquate Maßnahme zu beraten. Vielmehr geht es jetzt um die Hintergründe der Regeln, die Bedingungen ihrer Entstehung, ihre Geschichte und auch die damit verbundenen sozialen Konstruktionen. Das gleiche gilt für das als abweichendes Verhalten bezeichnete Doping, also die Einnahme von durch Regeln verbotenen Substanzen und der Anwendung ebensolcher Methoden. Die zentralen Fragen hier lauten dann, was ist Doping? Wie wird es von wem definiert? Und wie von den Athlet:innen selbst erlebt? Und schließlich geraten mit dieser Sichtweise auch die Maßnahmen des Anti-Doping in den Blick und können einer kritischen Analyse unterzogen werden. Sind die Strafen eigentlich der richtige Weg Doping zu verhindern, sind sie angemessen, ist der Kontrollaufwand verhältnismäßig oder werden möglicherweise AthletInnen mit einem Aufwand kontrolliert, der auf Kosten von anderen Rechten und Freiheiten geht? Wie sieht eine solche Perspektive in der wissenschaftlichen Praxis aus und welche Erkenntnisse kann sie liefern?
Anhand der drei Kategorien – Regeln machen, Regeln brechen, Reaktionen auf den Regelbruch –, die eine knappe, aber sehr griffige Definition von dem bieten, womit sich Kriminologie, zumal eine kritische, beschäftigt, will ich das mit ein paar Beispielen ausführen. Meine Hoffnung ist, dass damit den Diskussionen über Doping eine zusätzliche Dimension hinzugefügt werden kann. Damit soll, um das einmal hier vorweg zu nehmen, weder ein Plädoyer für eine Freigabe des Doping geführt werden, noch will ich eine Pauschalkritik an den bisherigen Forschungen zum Thema üben. Vielmehr halte ich diese Perspektive für dringend nötig, um Ansätze für einen reflektierten Umgang mit dem Thema innerhalb des organisierten Sportes, in den ihn begleitenden Medien sowie in der für den Sport zuständigen Politik zu schaffen. Dieser fehlt nämlich bisher fast vollständig.
Es existiert das Paradox, dass sich einerseits kritische Journalisten wie Hajo Seppelt oder Ralf Meutgens den Unmut ihrer Kollegen, des Sportjournalismus generell, der Verbände und der Politik zuziehen, wenn sie aussprechen, was dringend notwendig erscheint. Auf der anderen Seite wird eine Kritik am Anti-Doping-System oft gleichgesetzt mit einer Befürwortung des Doping selbst (hier verstanden im traditionellen Sinn). Beides ist absurd, aber die übliche Abwehr gegen jede Kritik an den normativen Auffassungen von Doping und seiner Kontrolle.
Law making – Regeln machen
Ein viel benutztes Argument in der Doping-Debatte ist das der Regeln. Und es ist kaum bestreitbar, dass Sport Regeln braucht, um als das, was als fairer Wettbewerb zu bezeichnen ist, anerkannt zu werden. Ein Doping-Verbot ist demnach nichts weiter als ein Satz Regeln, der über Disziplinen und Sportarten-spezifische Regeln hinweg für alle Athlet:innen gelten soll. Dem kann ich zustimmen. Nicht zustimmen kann ich dem Umstand, dass mit dieser Argumentation der Kritik an der Willkürlichkeit der Regeln, ihrem konstruierten Charakter und den darin befindlichen Widersprüchen begegnet werden soll. Dass es Regeln gegen den Gebrauch von (vermeintlich oder tatsächlich) leistungssteigernden Mitteln gibt, ist weder aus sich selbst heraus erklärbar, noch selbstverständlich. Diskussionen über die Freigabe von Doping (was dann per Definition keines mehr wäre) werden abgewiesen mit dem Argument, dass man die Regeln nicht einfach aufheben kann, als wären diese Naturgesetzen ähnlich und hätten nicht eine historische Entwicklung durchlaufen, beeinflusst von Zeitgeist, gesellschaftlichen Strömungen und medizinischen Erkenntnissen, die sich nach und nach ergeben haben[3]. Einmal da, so scheint es, verbietet sich jede Debatte über die Sinnhaftigkeit dieser Regeln. Angeführt werden dabei auch die Werte des Sportes – auch sie in der Verwendung scheinbar entwicklungslos und schon immer da. Dabei werden sie nicht weiter definiert. Ob und in welchem Umfang eine Integrität des Sports, Ehrlichkeit, Fairplay und Respekt[4] in gleichem Maße zu jedem Zeitpunkt und überall gegolten haben, ist dabei vollkommen unklar. Es lassen sich Hinweise dafür finden, dass dies eher nicht der Fall war und der organisierte Sport, wie wir ihn heute kennen, sich erst zu dem entwickeln musste, was er heute ist, damit derartige Ansprüche an ihn gestellt werden können[5]. Die Verschleierung seiner eigenen, wohl eher weniger edlen Wurzeln und Entwicklungsstufen ist dabei ein Teil der eigenen Geschichte und seines heutigen Selbstverständnisses.
Grundlage für die heute geltenden Regeln ist der sogenannte World Anti-Doping-Code (WADC), in der neben einigen grundsätzlichen Bestimmungen und Begründungen vor allem die Liste der verbotenen Substanzen und Methoden eine essentielle Rolle spielt, und welche maßgeblich zu beachten ist, wenn man als Athlet:in Medikamente zu sich nimmt. Da dass auch Sportler:innen regelhaft tun, ohne sich dabei immer eine Leistungssteigerung (im Sinne eines Zaubermittels) davon zu versprechen, müssen sie insbesondere darauf achten, nicht „aus Versehen“ das falsche zu sich zu nehmen. Als Untersuchungsobjekt bietet sich hier zum eine diese Liste selbst an, insbesondere wie sie zustande kommt, wie sie sich verändert und welche Diskurse um die Aufnahme (oder gelegentliche Streichung) von Wirkstoffen bestehen. So war zum Beispiel Koffein einmal Teil der Liste, ist es längst aber nicht mehr. Cannabis ist es immer noch. Probleme können sich hier ergeben, wenn dieses als Freizeit-Droge genommen wird, insbesondere in Ländern, wo dieses erlaubt oder geduldet ist. Cannabis ist lange nachweisbar, was problematisch bei Kontrollen sein könnte. Kriminologisch interessant sind also die Regeln selbst, welches legale, und damit soziale Konstrukte sind, die eben nicht vermeintlich natürlichen Vorgaben folgen oder sich einfach logisch aus ihrem Gegenstand ergeben. Und bereits an dieser Stelle bedeutet es keine Duldung des Doping, wenn man sich mit den Regeln beschäftigt, denen sich Sportler fügen müssen, ohne dass sie ein Mitspracherecht bei deren Ausgestaltung haben. Das aber wäre wichtig, da die Kontrollmaßnahmen durchaus tiefgreifende Eingriffe in ihre Grundrechte darstellen können (siehe weiter unten). Die maßgeblichen Fragen sind hier also:
Wie kommen die Regeln zustande? Wessen Interessen werden hier abgebildet und auf welcher diskursiver Grundlage werden die entsprechenden Entscheidungen getroffen? Die Beantwortung dieser Fragen soll allerdings nicht Teil meiner Erörterungen hier sein.
Law breaking – Regeln brechen
Wo Regeln existieren, können diese gebrochen werden. Deshalb gibt es bei vielen Sportdisziplinen Schieds- oder Wertungsrichter:innen, die über eine Einhaltung wachen. Wenn es also Regeln über die Einnahme von bestimmten Medikamenten oder pharmazeutischen Wirkstoffen gibt, dann, siehe oben, gibt es diese aus bestimmten Gründen. Einige dieser Gründe liegen in den Werten „Fairness“ und „Chancengleichheit“ einerseits, sowie andererseits in einer Art „Natürlichkeitsfiktion“ körperlichen Leistungsvermögens, welches nicht durch „Mittel von außen“ beeinflusst werden soll. Denn dann wäre ja eine Fairness nicht mehr gegeben und die Chancengleichheit aufgehoben. Aus kriminologischer Sicht handelt es sich hierbei um abweichendes Verhalten, um einen strafbewährten Regelbruch mit zum Teil drastischen Strafen für die betroffenen Sportler:innen. Abgesehen davon, dass diese von verschiedenen Seiten und in der öffentlichen Wahrnehmung als „Betrüger:innen“ (o.ä.) markiert werden, werden sie innerhalb einer Sportgerichtsbarkeit mit Sperren belegt, und dank des Anti-Doping-Gesetzes von 2015 auch mit Geld- und/oder Gefängnisstrafen durch die ordentliche Gerichtsbarkeit. Alle drei Bereiche – öffentliche Beurteilung, Sportgerichtsbarkeit, ordentliche Gerichtsbarkeit – sind Grund genug sich mit dem besonderen Regelbruch im Sport zu beschäftigen, der in der Einnahme von nicht erlaubten Substanzen besteht. Es gibt durchaus auch andere Regelbrüche im Sport, die entweder von Schiedsrichtern als Teil des Wettkampfes sofort geahndet werden, oder andere Aspekte betreffen, z.B. Wettverbote oder Richtlinien der Materialbeschaffenheit in bestimmten Sportarten.
Das Wieviel und Warum des Doping sind deshalb auch der Fokus vielfacher Forschung in diesem Bereich. Grundsätzlich begleitet wird diese Art der Forschung von der Schwierigkeit hier valide Daten zu bekommen. Allein auf die Zahl der entdeckten Fälle und überführten Sportler:innen zu schauen, würde dem auf keinen Fall gerecht werden, dazu sind die Kontrollen zu gering, die Aufdeckungsrate zu klein. Doping ist wesentlich verbreiteter als es die positiven Kontrollen vermuten lassen. Vielfach handelt es sich hierbei also um so genannte Dunkelfeldstudien – das gilt für die quantitative Erfassung als noch mehr für die Gründe, die hinter der Einnahme von bestimmten Mitteln stehen. Diesbezüglich reden tun meistens nur überführte und ausreichend reuige Sportler:innen – und selbst letztere stellen nur eine kleine Gruppe der Überführten da. Und während die Zahlen noch grundsätzlich wichtig sind und eine mehr oder weniger sportbegeisterte Öffentlichkeit daran Interesse zeigt, dürfte das für die Gründe des Dopings so nicht mehr zutreffen. Wobei festzustellen ist, dass der Sport eine sehr eigenartige Anziehungskraft besitzt, welche dabei hilft, das Thema Doping vor allem als skandalösen Regelbruch wahrzunehmen, aber darüber hinaus das Thema weder zeitlich, noch inhaltlich, von maßgeblichem Interesse ist. Das gilt für das Publikum bis zu einem gewissen Grad, für den Sport selbst fast vollständig. Auch wenn Urteile über die „Doper“ häufig sehr hart ausfallen, scheinen nur solche Athlet:innen langfristige Konsequenzen zu fürchten haben, die über die sportimmanenten Strukturen Auskunft geben, oder das System Sport als solches kritisieren und angreifen. In eher seltenen Fällen sind dabei auch solche, die es über die Maßen übertreiben, wie etwa Lance Armstrong. Wenn es also um die Gründe geht, dann sind solche, die ein individuelles „Versagen“ oder „Fehlen“ in den Vordergrund stellen, weitaus verzeihbarer – wenn man das so ausdrücken möchte – insbesondere wenn es sich dabei um Sportler:innen mit vielen Erfolgen handelt. Neben der quantitativen Verbreitung von Doping in den Disziplinen sind aber die Gründe – individuelle als auch systematische von hohem Interesse, eine solche Forschung also im Kern kriminologisch, nicht zuletzt weil es gerade zur Erklärung abweichenden Verhaltens eine ganze Palette kriminologischer Theorien gibt, die man hier zur Analyse beisteuern könnte. Dazu muss dann folgerichtig aber auch gehören, sich weiterhin mit dem „Wie“ des Dopens, und im besonderen auch mit dem Erleben des Regelbruches selbst auseinanderzusetzen. Nur den Regelbruch als die Verletzung einer Norm zu werten und sich nicht mit diesem selbst zu beschäftigen, mit seinen Bedingungen, dem Erleben und Kontext, würde zu wenig mehr führen, als einer Aufzählung und möglicherweise der Psychologisierung sowie der vorschnellen Kriminalisierung der Täter:innen. Man könnte in der Tat auch darüber streiten ob es sich bei Regelverletzungen im Sport überhaupt um „kriminelles Verhalten“ handelt und warum dieses unter bestimmten Bedingungen so gerahmt wird.
Und wenn man davon ausgehen kann, dass bereits die Regeln, die aus der Einnahme von Medikamenten unter bestimmten Voraussetzungen eine zu sanktionierende Tatsache machen, sozio-legale Konstruktionen sind, dann gehört bei der Analyse der Regelbrüche auf jeden Fall auch das Umwelt des Regelbruches mit in die Forschung. Das betrifft in diesem Fall den Sport selbst und das Phänomen der permanenten Leistungssteigerung, welches ab einem bestimmten Punkt dann eben doch nicht mehr überschritten werden darf. Weiterhin wäre es Teil einer kriminologischen Betrachtung von Doping zu analysieren, wer die Regelbrüche begeht und ob sich hier Muster erkennen ließen, die u.U. auch für eine Prävention nutzbar wären. Kriminologisch gesehen bedeutet die Betrachtung des Regelbruchs zusammenfasst mehr als nur seine Häufigkeit festzustellen. Vielmehr gerät der Akt und seine Bedingungen in den Blick, jenseits jeder moralischen Betrachtung oder rechtlichen Bewertung. Letztere beiden würden sich dann eher in der Beschäftigung mit den Reaktionen auf den Regelbruch wiederfinden.
Reactions to law breaking – Reaktionen auf den Regelbruch
Es klang in den beiden vorherigen Abschnitten schon an: wo es Regeln gibt und Regelbrüche beobachtet werden können, gibt es auch Reaktionen darauf. Diese Reaktionen umfassen sowohl direkte Äußerungen, die als moralische Wertungen direkt Bezug nehmen; sie umfassen aber auch institutionelle Reaktionen und für diese geschaffene Institutionen der Überwachung, Kontrolle und Sanktionieren der Brüche und Abweichungen. Typische Institutionen zur Überwachung, Kontrolle und Sanktionieren von Regelabweichungen und Normenbrüchen sind die Polizei, die Strafverfolgungsbehörden und eine Gerichtsbarkeit. Diese sind mit besonderen Rechten ausgestattet, die es ihnen erlauben auch gegen den erklärten Willen von Personen, diese Kontrollen durchzuführen, Gewalt anzuwenden, mithin staatliche Macht auszuüben. Das betrifft hier vor allem den Bereich des Strafrechts im weitesten Sinn. Innerhalb des Sports gibt es keine ähnliche Institution, die über eine solche Macht verfügt, außer eben diesen staatlichen Stellen. Und auch wenn der Sport immer wieder auf seine Unabhängigkeit verweist, so steht er nicht außerhalb des Rechts der ihn umgebenden Gesellschaft – wobei der Umgang mit abweichendem Verhalten z.B. bei sexualisiertem Missbrauch einen anderen Anschein erweckt. Dort möchte der Sport am liebsten alles immer selbst aufklären und sträubt sich vehement gegen Kontrollen von „Außen“. Das gilt in ähnlichem Maße auch für das Doping. Das wäre ein Grund, das Anti-Doping-Gesetz von 2015 als einen wichtigen Schritt zur Normalisierung von Kontrolle im Sport anzusehen. Dass es so einfach nicht ist, habe ich an anderer Stelle dargelegt (Scharf & Zurawski 2015).
Eine wichtige Reaktion gegen die Einnahme unerlaubter Mittel im Sport sind die Urin- und Blutkontrollen in Training und Wettkampfsituationen. Diese existieren bereits relativ lange, haben aber erst mit der Einführung eines digitalen Systems eine strukturierte Form angenommen, die weit über die eigentlichen Kontrollen von Substanzen im Körper hinausgehen. Mit dem ADAMS, dem Anti-Doping Administration and Management System, einem so genannten Whereabout-System, werden die Kontrollen an den Sportler:innen (in Deutschland[6]) gemanagt. U.a. ist es dazu nötig, dass die Athlet:innen ihre Aufenthalte eintragen, eingenommene Medikamente, mögliche Krankheiten, die zu Ausnahmen bei der Wirkstoffeinnahme führen könnten und einiges mehr. Wie genau und in welchem Zeitraum diese Daten angegeben werden müssen, richtet sich nach der Sportdisziplin. Diese sind in Kategorien eingeordnet, die etwas über die Anfälligkeit für Doping aussagen. Athlet:innen werden also entsprechend dieser Kategorien behandelt und kontrolliert. Für eine kriminologische Betrachtung sind diese und ähnliche System, zudem das Anti-Doping-Gesetz von ebenso großem Interesse wie der Regelbruch selbst. Auch wenn die Kontrollen als logische Folge des ursprünglichen Regelbruchs und dem vorhergehenden Einverständnis mit einer solchen Norm gesehen werden können, so sind sie weder alternativlos noch das zwingende Resultat der Entwicklung. Zu erforschen wäre wie über solche Institutionen und Systeme Kontrolle ausgeübt wird und ob es sich dabei um verhältnismäßige Maßnahmen handelt. Warum sind diese sozio-technischen System so ausgestaltet wie sie es sind, wie werden sie legitimiert, wie wird mit Ihnen gearbeitet? Insbesondere von Interesse ist, ob die den Regeln zugrunde liegenden Werte des Sport, so ungenau und unscharf diese auch sind, in irgendeiner Weise mit den Kontrollsystemen geschützt werden – oder ob sich hier neue Dilemmata ergeben, die nun z.B. Athlet:innen ungleich behandeln oder andere ebenfalls schützenswerte Rechte einschränken oder verletzen. Es bedarf einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen Reaktionen auf den Regelbruch der Einnahme unerlaubter leistungssteigernder Mittel, nicht zuletzt um zu verstehen, wie die Regeln mithilfe sozio-technischer Systeme zu etwas gemacht werden, das nicht mehr hinterfragt werden kann oder darf. Gerade da es beim Doping um einen hoch moralisches Phänomen geht, in dem sportliche Fairness, ein Wert, der über den Sport selbst hinaus wirkt, zur Disposition steht, ist es wichtig, dass die Dynamik einer solchen Konstruktion verstanden wird. Kontrollsysteme sind nie die logische Folge aus sich selbst ergebenden Normen und moralisch unzweifelhaften Annahmen, sie können sowohl missbraucht werden, also auch in sich selbst unfair sein – z.B. durch Ineffizienz, Unverhältnismäßigkeit oder willkürliche Anwendung.
Doping in allen seinen Facetten zu betrachten – von den Regeln, dem Regelbruch und der Regel- bzw. der Abweichungskontrolle – ist wichtig, um ein reflektiertes und umfassendes Verständnis von dem Phänomen zu bekommen. Doping zu skandalisieren, Doper:innen an den Pranger zu stellen und eine Diskussion über mögliche Probleme und Ungerechtigkeiten der Kontrollen mit dem Verweis auf das Gute im Sport und das per se Schlechte des Dopings abzuwehren, kann kein guter Umgang mit dem sozialen Phänomen sein. Damit wird weder dem Sport noch seine Protagonist:innen geholfen. Und aus diesem Grund gehört ein kritischer Vortrag über das Kontrollsystem auch zu einem Anti-Doping-Tag eines Sportverbandes und eine kritische Betrachtung von Sport und Leistungssteigerung und ihrer institutionellen Bedingungen zwingend als deren Begleiter dazu. Die Kriminologie kann diese umfassende Analyse mit dem Blick auf alle wichtigen Bereiche bieten.
[1] Mehr Infos hier: https://www.surveillance-studies.org/zurawski/?page_id=876 oder in Zurawski & Scharf: Kritik des Anti-Doping, 2019 Bielefeld: transcript.
[2] vgl.Marvin E. Wolfgang, Criminology and the Criminologist, 54 J. Crim. L. Criminology & Police Sci. 155 (1963), im Anschluss an die von Sutherland und Cressey in Principles of Criminology (1960), gemachte Definition, die so oder ähnlich seither verwendet wird.
[3] Vgl. z.B. Marcel Reinhold: Doping als Konstruktion. Eine Kulturgeschichte der Anti-Doping-Politik. 2016 Bielefeld: transcript.
[4] Diese Aufzählung ist so dem Leitbild des DOSB zu entnehmen, siehe: https://www.dosb.de/ueber-uns/leitbild-strategie-arbeitsprogramm/leitbild; Die WADA formuliert ähnliche Werte und stützt das auf einen „Spirit of Sport“, der einfach so für sich steht: https://www.wada-ama.org/sites/default/files/resources/files/wada_ethicspanel_setofnorms_oct2017_en.pdf
[5] Hierzu auch: Wolfgang Behringer. Kulturgeschichte des Sport. Vom antiken Olympia bis ins 21.Jahrhundert. 2012 Mu?nchen: CH Beck.
[6] ADAMS wird global genutzt, dennoch haben einige Länder auch andere, eigene System, das ist hier aber nicht weiter von Bedeutung, da alle ungefähr die gleiche Logik der Kontrolle von Aufenthalt sowie Körper- und Medizindaten haben.