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Das sogenannte Grundrecht auf Sicherheit existiert nur als Geisterfahrer. Zum Tod von Winfried Hassemer

Am 10. Januar 2014 gepostet von Sebastian

In der vergangenen Nacht starb nach langer schwerer Krankheit im Alter von 73 Jahren ein großer Kenner und Freund der sozialwissenschaftlichen Kriminologie: der Frankfurter Strafrechtsprofessor und ehemalige Bundesverfassungsrichter Winfried Hassemer.

Seine Habilitationsschrift (1972) über Theorie und Soziologie des Verbrechens gehörte zu den wichtigsten Brückenschlägen zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften in dieser vielleicht lebendigsten Zeit der damals neuen, undogmatischen und auf befreiende Weise herrschaftskritischen Kriminologie – und es folgten zahlreiche Kooperationen mit Soziologen bei Veröffentlichungen (z.B. Hassemer, Steinert, Treiber:
Soziale Reaktion auf Abweichung und Kriminalisierung durch den Gesetzgeber, 1978) und in der Lehre an der Frankfurter Universität, die bis in die 1990er andauerten, aber mit steigender Bedeutung Hassemers in der Judikative – er war 1996 als erster Strafrechtsprofessor zum Bundesverfassungsrichter gewählt worden und war von 2002 bis 2008 Vorsitzender des Zweiten Senats und Vizepräsident – naturgemäß abnehmen mussten. Dafür bezog er als Richter Position für ein Strafrecht, das die Rechte des Bürgers gegen Übergriffe des Staates schützen sollte – auch wenn er sich nicht immer mit seinen Ansichten durchsetzen konnte (Verfassungswidrigkeit der Inzest-Strafbarkeit). Er war ein Gegner der Kronzeugenregelung und des Großen Lauschangriffs: das angebliche Grundrecht auf Sicherheit existiere höchstens als Geisterfahrer, der immer in der falschen Richtung unterwegs sei.

Als hessischer Datenschützer argumentierte er gegen elektronische Mautsysteme auf Fernstraßen, insofern diese die Bewegungsprofile der Autos rekonstruierbar machen – und gegen den Übereifer des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz bei der Sicherheitsüberprüfung von Angehörigen des öffentlichen Dienstes,

Wie die Opferinteressen im Strafrecht gewürdigt werden könnten, versuchte er zusammen mit Jan Philipp Reemtsma und Carolin Emcke zu ergründen

Mit der Idee einer Gesellschaft ohne Strafe und Strafrecht freundete er sich nie an. In seinem Buch „Warum Strafe sein muss“ (2009) verteidigte er die Idee der Unverzichtbarkeit von Strafe und Strafrecht zwecks Verhinderung von Willkür und Grausamkeit. Die Restorative Justice, die Werke von John Braithwaite und die Diskussionen über eine Zivilisierung des Strafrechts durch das Setzen von Standards für eine im empathischen Sinne soziale Konfliktregelung ohne Strafe hatte er nach der Verlagerung seiner Tätigkeitsschwerpunkte nicht mehr zur Kenntnis genommen.

Hassemer war Vizepräsident und Vorsitzender des Zweiten Senats, als dieser wegen des übertriebenen Einsatzes von V-Leuten in der NPD das Verbotsverfahren stoppte. Die Vorstellung, dass der Staat auf geheimen Wegen eine Organisation infiltrieren, stärken und radikalisieren könnte, um sie dann als „suitable enemy“ (Nils Christie) zu bekämpfen, muss ihm unheimlich gewesen sein.

In den letzten Jahren beklagte er in der Rechtspolitik immer wieder den fehlenden „einen Sinn für Scham.“

Ihm war das Freiheitspathos nicht fremd, „das die hohe Rechtskultur begründet hat, von der wir alle in denjenigen Regionen der Welt zehren, in denen die Traditionen der Aufklärung noch lebendig sind. Der Datenschutz ist nichts anderes als diese Freiheit, gespiegelt an den Bedingungen der modernen Informationsgesellschaft. Sollten Tage kommen, da Europa sich nicht nur über Risikobeherrschung und Problemkontrolle definiert, sondern seine Traditionen der politischen Philosophie wiederentdeckt, so wird auch der Datenschutz Flügel bekommen.“

Im Mai 2008 kritisierte Hassemer auf dem Deutschen Anwaltstag in Berlin „mannigfaltige Verschärfungen der Polizei- und Strafgesetze“ seit dem 11. September 2001. Zu der Welle neuer Straftatbestände vom Typ abstrakter Gefährdungsdelikte mit oft vage definierten Rechtsgütern sei eine „exorbitante Zunahme heimlicher Ermittlungen“ auch bei Unverdächtigen gekommen, Datenaustausch zwischen verschiedenen Institutionen und eine „flächendeckende Beobachtung“. Die Bürger würden dem Staat freiwillig ihre Freiheit auf dem silbernen Tablett servieren, damit der Staat diese Freiheit in Sicherheit verwandle. Die Normerosion würde den Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Staat schwächen. Der Staat werde nicht mehr als Risiko, sondern als Partner im Kampf gegen Kriminalität gesehen.

Hassemer verkörperte die besten Seiten der Rechtskultur auf eine persönlich ebenso gewinnende wie beeindruckende und in jedem Sinne zivilisierte Art. Er wird uns fehlen, aber seine Schriften werden weiterhin diskutiert werden und sollten die Opposition gegen die Erosion des Rechtsstaats beflügeln.

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Kategorie: Allgemein Stichworte: Bundesverfassungsgericht, Nachruf, Strafrecht, Winfried Hassemer

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