Der Artikel ist auch bei telepolis erschienen, unter dem Titel: „Im Verhältnis zur Politik ist die Polizei auch Akteurin“ (Teil 1), und „Der Polizei ist es sehr wichtig, die Definitionshoheit zu behalten“ (Teil 2).
Gespräch mit dem Juristen und Polizeiforscher Benjamin Derin über die Rolle der Polizei in der Gesellschaft. Gemeinsam mit Tobias Singelnstein zeigt er in der Monographie „Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt“, erschienen im Econ Verlag, strukturelle Probleme der Polizei auf.
Das Interview führte Dr. Nadja Maurer.
Dr. Nadja Maurer is a Hamburg based social anthropologist and researcher. Her research interests include peace processes and post-war orders, statehood, violence, conflict resolution, policing and security.
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NM: Die Institution Polizei ist ein relativ modernes Konzept. Das gab es lange Zeit in der Form nicht. Es ist historisch und global sogar eher die Ausnahme. Das heißt, dass es die Polizei mit den heutigen Aufgaben und Befugnissen nicht zwingend immer geben muss. Tatsache ist, die Polizei ist die Institution im Staat, die das Gewaltmonopol innehat. Angesichts der Machtposition der Polizei über Mitglieder der Gesellschaft geht sie uns alle zumindest potenziell an. Verwunderlich ist deshalb, dass nur höchst selten Bücher über „die Polizei“ erscheinen. Eines ist „Der Apparat“ von 1982, das ebenfalls die Institution beleuchtet, aber kritischer, schärfer, radikaler gegen die Polizei ist als euer Buch. Wie erklärst du dir das? Ist die Polizei besser geworden in den letzten 40 Jahren? Oder ist die Polizeiforschung versöhnlicher geworden?
BD: Im Verhältnis zwischen Polizei und Gesellschaft muss sich letztere immer bewusst machen: es ist ja ihre Polizei. Die Frage ist dann zunächst, wie kann sich eine Gesellschaft die Polizei wieder aneignen, wenn das verbreitete Gefühl da ist, da ist etwas außer Kontrolle geraten. Man kann eine sehr problemzentrierte Kritik machen und sagen, was alles im Argen liegt. Diese Problemanalysen sind natürlich auch zutreffend: Wenn man zum Beispiel sagt, hier kommt es zu unrechtmäßiger Polizeigewalt, oder hier gibt es Racial Profiling. Unsere Idee war nun, dass all diese Probleme ursächlich tiefer liegen. Das hat viel mit der Funktion und mit der Rolle der Polizei in der Gesellschaft zu tun. Und deshalb muss man sich die Polizei als Institution angucken und gucken, wie funktioniert die, wer ist da drin, was passiert da, was stimmt nicht im Verhältnis von Polizei und Gesellschaft. Die Kritik ist also eigentlich viel grundlegender.
NM: Es ist in einer demokratischen Grundordnung unsere Pflicht als Bürgerinnen, die Polizei zu kontrollieren…
BD: Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Und es gibt natürlich auch viele Menschen in der Polizei, die ein Interesse daran haben, dass das Verhältnis zu den Bürger:innen gut funktioniert.
NM: Die Polizei setzt ja nicht nur Recht mittels Strafverfolgung durch, sondern vor allem auch Ordnung, genauer Ordnungsvorstellungen. Das Kerngeschäft, die Bekämpfung von Kriminalität, nimmt fast einen kleineren Teil ein, wenn man mal alle polizeilichen Aufgaben zusammennimmt. Das bedeutet auch, dass ungerechte Ordnungen durch die Polizei reproduziert werden. Was bräuchte denn jeder Beamte an Rüstzeug oder an Ausbildung an die Hand, um für die sehr ambivalente Rolle, Schutzmann- oder frau mit Gewaltlizenz, sensibilisiert zu werden?
BD: Trainings sind wichtig, aber allein auf dieser Ebene kommt man nicht weiter. Der Polizei bleibt gar nicht soviel anderes übrig, als die bestehende Ordnung mit all ihren Ungerechtigkeiten und Problemen durchzusetzen, was eben sehr problematisch ist. Wichtig zu verstehen ist, dass scheinbar neutrale Begriffe wie Verdacht, Gefahr oder öffentliche Sicherheit aufgeladen sind mit gesellschaftlichen Wertungen, mit Machtverhältnissen und Kämpfen. Im Idealfall würde jede:r Polizist:in reflektieren: Wie gewinne ich Kriterien von Verdacht, Gefahr. Das beeinflusst auch, wie Polizist:innen in eine Situation hineingehen. Denke ich, ich habe es wieder einmal mit einer „arabischstämmigen Familie“ zu tun und ich weiß vermeintlich aus meinem polizeilichen Erfahrungswissen, da mangele es häufig an Respekt vor der deutschen Polizei – ein häufiges Vorurteil –, dann ist man besonders darauf bedacht, die eigene Autorität durchzusetzen und sich Respekt zu verschaffen. Das ist eine gefährliche Herangehensweise. Das fördert das Konfliktpotenzial und die Eskalationsgefahr. Man muss als Polizist:in wissen, ich bin hier als Repräsentant:in einer bestimmten Ordnung, der Ordnung der Mehrheitsgesellschaft und die setze ich letztlich durch.
NM: Wie siehst du das Verhältnis von Politik und Polizei? Wenn beispielsweise die Politik von der Polizei fordert, gegen Straßenhandel mit Drogen vorzugehen?
BD: Im Verhältnis zur Politik ist die Polizei auch nicht nur reine Befehlsempfängerin. Sie ist Akteurin in all diesen diskursiven und politischen Prozessen und hat ein wechselseitiges Verhältnis mit der Politik. Nicht nur, dass sie einen großen Spielraum darin hat, wie sie ihre Aufgaben ausführt und wahrnimmt, sondern dass sie selbst auch Antworten liefert oder an der Produktion von Ordnungsvorstellungen mitwirkt, dass sie mitdefiniert, dass sie teilweise selbst die Vorgaben macht. Wir haben also dieses und jenes Lagebild, wir identifizieren diese und jene Probleme und gewichten sie. Das wirkt auch in die Politik herein. Gleich, welches soziale Phänomen man aufgreift.
NM: Meistens betrifft dies Menschen, die an den Rändern der Gesellschaft leben. Und die Polizei definiert auch selbst mit, wo beginnt dieser Rand. Bei der Definition von Randständigkeit spielt die Polizei durchaus eine tragende Rolle.
Dazu möchte ich dich etwas fragen: Ihr schreibt in eurem Buch, „Ungleichheit hat System“ Als Beispiele zieht Polizeigewalt gegen schwarze US-Bürger heran, dann die nordirische Royal Ulster Constabulary während der bürgerkriegsähnlichen bewaffneten Auseinandersetzungen, die sich klar auf eine Seite im Konflikt gestellt hatte und die andere schikaniert hat. Als drittes Beispiel nennt ihr unnötige Gewalt gegen jemanden, der am Rande einer Corona-Demo von Rad getreten wurde. Legt ihr einen bestimmten System- oder Strukturbegriff zugrunde? Weil man die Beispiele kaum vergleichen kann. Denn in den USA wurde durch Rassengesetze wurde Polizeigewalt gesetzlich abgestützt. In Nordirland hingegen war die Polizei eine Nachfolgeorganisation der Royal Irish Constabulary (RIC), eine Kolonialpolizei. Dort wurden Polizeien für das gesamte Empire, für Ceylon, Kenia, oder Rhodesien, ausgebildet. Deren Aufgabe bestand ausschließlich darin, Aufstände niederzuschlagen. In Deutschland hat die Polizei zwar auch keine rühmliche Geschichte, auch hier wurde wenig aufgearbeitet, Stichwort Polizeibatallion 101. Würde zu der These, mit wachsender sozialer Ungleichheit stiege auch die Gewalt bzw. Gegnerschaft der Polizei gegen gesellschaftliche Gruppierungen an, nicht auch Beispiele wie Norwegen oder Irland gehören? In Norwegen wird die Polizei als Dienstleister wahrgenommen, weil sie aus Steuermitteln finanziert wird. In Irland heißt die An Garda Siochana übersetzt „Bewahrer des Friedens“ und ist eine unbewaffnete Kraft. Es gibt auch positive Beispiele.
BD: Genau darum geht es. Unsere Beispiele zeigen, dass Polizei immer von dem gesellschaftlichen Hintergrund abhängt. Und je nachdem, wie stark die Ungleichheit, die Fragmentierung oder die Spaltung in einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung angelegt ist, wirkt sich das auch auf die Polizei aus. Wenn in anderen Gesellschaften das Verhältnis zur Polizei besser ist, ist genau das interessant: Warum hat die Polizei in Deutschland einen relativ großen, wenn auch inzwischen leicht sinkenden, Rückhalt in der Gesellschaft? Warum ist sie in manchen Gesellschaften mit einem sehr guten Verhältnis zu einem breiten Spektrum der Gesellschaft ausgestattet und in anderen nicht? Oder hat nur zu einer kleinen, privilegierten Minderheit ein gutes Verhältnis? Warum ist das so und worauf müssen wir achten, wenn wir nicht wollen, dass das so wird?
NM: Teile der Bevölkerung haben auch hierzulande kein Vertrauen in die Polizei haben oder haben sogar Angst vor ihr. Nach meinem Eindruck ist der Umgang mit den Adressaten polizeilicher Maßnahmen, je nach Raum, sehr unterschiedlich. Zum Beispiel ist dieselbe Polizei nördlich der Hamburger Reeperbahn mit Elendskonsumenten und anderen randständigen Menschen eher sozialarbeiterisch tätig, während sie südlich der Reeperbahn, wo ihr Kritik entgegenhagelt von linken Initiativen, die sich im räumlichen, nicht unbedingt ideologischen Umfeld der Hausbesetzerszene in der Hafenstraße gebildet haben. Dort tritt die Polizei, sogar dieselben Beamten, ganz anders auf, viel mehr wie ein Fremdkörper. Es ist erstaunlich, wie kleinräumig sich das ausspielen kann.
BD: Stimmt. Die ganzen Bilder, oder auch Feindbilder, die ein Polizist oder eine Polizistin in sich trägt, sind stark verräumlicht: „Die Leute hier sind so, die Leute da sind anders“. Da weiß der einzelne Mensch vielleicht gar nicht, in welcher Kategorie er da gelandet ist bei der Polizei.
NM: Ihr entwerft Denkansätze zu einer Polizei, die die Gesellschaft wirklich brauchen kann. Unter anderem besprecht ihr, neben Defund- und Abolish-Ansätzen, und der Entkriminalisierung von all dem Kleinkram, der die Justiz be- und überlastet, alternative Formen der Konflikteinhegung vor. Zum Beispiel Restorative Justice. Kann wiedergutmachende Gerechtigkeit funktionieren in einer Gesellschaft, in der Schuld und Strafe als kulturelle Konzepte eine überragende Rolle spielen, wenn es um Konflikt geht? In Nordirland gab es den Versuch, in lokalen Gemeinschaften Restorative Justice zu etablieren. Nur gab es immer ein Gewalt-BackUp. Das wurde zwar Stück für Stück von der IRA an die Polizei übergeben. Was ist dein Eindruck hinsichtlich der Tragfähigkeit alternativer Konzepte, zum Beispiel indigener Traditionen der Konflikteinhegung? Kann das funktionieren, wenn Strafe so tief verankert ist als Konzept für den Umgang mit Delinquenz?
BD: Es ist ein großes Problem, wie unsere Gesellschaft mit ihren Konflikten umgeht. Du hast schon viele Aspekte zusammengefasst. Die Debatte, die wir anstoßen wollen, ist, wie eine Polizei aussehen kann, die anders funktioniert oder besser mit allen Teilen der Bevölkerung klarkommt. Aber die Polizei, ihre Probleme und ihre Bearbeitung von sozialen Problemen sind fundamental und tiefgreifend mit der Gesellschaft verknüpft. Erforderlich ist auch ein ganz anderes Nachdenken über das, was die Polizei tut. Sie erledigt viele der ihr aufgebürdeten Aufgaben mehr schlecht als recht, die vielleicht andere viel besser bearbeiten könnten. Würde man heute die Polizei neu gründen, käme niemand auf die Idee, dass eine einzige Organisation sich um so unterschiedliche Themen wie Geschwindigkeitsmessung, straffällige Jugendliche und Nachbarschaftsstreitigkeiten kümmert. Das macht gar keinen Sinn, das gehört nicht zusammen. Derzeit werden viele unserer gesellschaftlichen Probleme strafrechtlich oder aus einer Sicherheitsperspektive gedacht. Wäre es eine Gefahr für die Sicherheit, kann man das bekämpfen? Wer wird eine Straftat begehen und wer nicht? Und dann sind das unsere „Lösungen“, auch für Themen wie Wohnungslosigkeit, Drogenabhängigkeit und Armut. Ganz abgesehen davon bleiben die meisten Straftaten in allen Deliktsbereichen im Dunkelfeld, sind also schon keiner polizeilichen Bearbeitung zugänglich. Und wir wissen, dass Strafverfolgung wenig bis gar nichts zur Lösung konkreter sozialer Probleme beiträgt.
NM: Das nicht. Aber es ist schon eine Normenverdeutlichung. Es ist auch eine symbolische Botschaft an den Rest der Gesellschaft, es gibt Grenzen und da geht man besser nicht drüber. Du hast aber völlig recht, es geht auch polizeiloser, wenn es darum geht, Normen zu verdeutlichen.
BD: Im Prinzip ist ja Strafrecht nur ein Teil, vielleicht gar nicht der größte, der polizeilichen Arbeit. Sondern Gefahrenabwehr und Sicherheitsaufgaben. Und für beides muss man gucken, was für Lösungen gibt es und kann es geben. Wenn zum Beispiel jemand in einer psychischen Ausnahmesituation ist und in seiner Wohnung randaliert. Da kommt man weder aus der Perspektive der Strafbarkeit noch aus der Perspektive der Gefahrenabwehr weiter. Die Polizei kommt da überhaupt nicht weiter, aber häufig ist niemand anderes da.
NM: Das ist ja mit ganz ganz vielen Themen so. Die Polizei hat mehr Themen, die eigentlich nicht polizeiliche Kernaufgabe sind als die, die es sind. Damit läuft man bei Polizeiführungen offene Türen ein. Die beklagen auch, dass andere Behörden Zuständigkeiten an die Polizei delegieren. Zum Beispiel die Eindämmungsverordnung zur Pandemiebekämpfung ist eigentlich ein Thema für die Gesundheitsämter, nicht der Polizei. Polizei ist halt der 24/7-Dienst für jeden Mist. Wann immer andere Behörden Feierabend machen oder sagen, sie hätten keine Ressourcen, soll die Polizei übernehmen. Dieser Konnex ist vielen Bürger:innen wahrscheinlich nicht so bewusst.
BD: Deshalb ist es eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, diese Dinge zu entscheiden. Diese Aufgaben kann und darf die Polizei ja gar nicht selbst entscheiden und abgeben.
Titel: | Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Institution. | |
Autoren: | Benjamin Derin, Tobias Singelnstein | |
Jahr: | 2022 | |
Verlag: | Econ | |
ISBN: | 9783843727181 |
NM: Eine häufig geäußerte Kritik aus Teilen der Gesellschaft ist spätestens seit George Floyd, dass die Polizei rassistisch sei. Ihr schreibt, dass Rassismus auch in die Polizei hineingetragen wird. Und polizeilicherseits die Entgegnung, das stimmt nicht, es sind immer nur Einzelfälle. Das führt natürlich nicht weiter. Ist der Begriff Rassismus für Lösungsansätze so sinnvoll? Bekommt man das Phänomen Diskriminierung möglicherweise mit dem Begriff Bias besser zu fassen?
BD: Wann nennt man etwas Diskriminierung oder Rassismus? Ich bin nicht dagegen, rassistische Phänomene so zu benennen, das Problem mit dem Begriff ist eher, dass es so eine Intention und Böswilligkeit vermittelt und suggeriert, die nicht das Hauptproblem ist. Was passiert ist, dass Menschen von der Polizei rassistisch diskriminiert werden. Das heißt, sie werden diskriminiert aufgrund von rassifizierten Merkmalen. Und das ist ein großflächiges Problem. Und es wäre absurd, wenn es anders wäre. Wie ich anfangs sagte, weil unsere gesellschaftliche Ordnung schon eine ist, die auf solchen Kriterien und Merkmalen aufbaut. Das betrifft auch strukturelle Fragen wie wer lebt wo, wer ist wie einkommens- und sozialstark usw. Aber auch Dinge wie polizeilicher Verdacht und Gefahrenbegriffe sind eng mit solchen Merkmalen verwoben. Dazu tritt dann das Phänomen, dass es tatsächlich bewusste rassistische Einstellungen bei Polizisten und Polizistinnen gibt. Das reicht von geschlossenen rechtsextremen Weltbildern über Versatzstücke rassistischer Ideologien, die auch in der Bevölkerung ganz viel vorkommen. Und es gibt diese unbewusste oder unbeabsichtigte strukturelle Diskriminierung. Beides kommt vor. Das kann nur auf einer grundsätzlichen Ebene angegangen werden. Was erschwerend hinzu kommt: Wenn im Gesetz steht, dass die Polizei an Bahnhöfen verdachtsunabhängige Kontrollen auf illegale Einreise durchführen soll, dann ist das eine Befugnis, die sich kaum anders als diskriminierend anwenden lässt.
NM: Es ist schwer, da nicht als diskriminierend und als rassistisch wahrgenommen zu werden.
BD: Genau. Und da macht es weder Sinn, das stets auf rassistische Einstellungen einzelner Beamt:innen zurückzuführen, noch macht es Sinn zu sagen, macht nichts, ist ja nicht so gemeint.
NM: In der Polizei gibt es zwischen Akademie und Vollzug ein Transferproblem, in etwa wie eine Blut-Hirnschranke. Soziologische Inhalte, die durchaus theoretisch vermittelt werden in der Ausbildung verpuffen in der Praxis schnell. Zielführender, um Diskriminierung entgegenzuwirken, ist doch ein praxisnaher Ansatz. Etwa, dass jeder Mensch unterschiedliche Bias hat, die aber im Job keine Rolle spielen dürfen.
BD: Das ist eine wichtige Aussage, dass Bias keine Rolle spielen darf. Tut er in der Praxis aber.
NM: Das Selbstverständnis in der Polizei ist ein weiterer Faktor. Dass jedem in der Polizei vor jeder Schicht bewusst ist, dass es seine oder ihre Aufgabe ist, jedem Menschen zu dienen, bzw. die Rechte eines jeden, dem man gegenübertritt zu schützen. Das erfordert viel Demut. Es ist eine Frage des grundsätzlichen Mindsets.
BD: So ist es. Die Polizei kann sich als dienende Bürgerpolizei verstehen, die mit gleichberechtigten Leuten umgeht, oder sie kann verstanden werden als Kraft zur Durchsetzung einer bestimmten Ordnung gegen die Feinde dieser Ordnung, nach dem Konzept „Wir gegen Die“. Und dieses Mindset ist nicht zu unterschätzen. Der Begriff der „Thin Blue Line“, der aus den USA kommt, der beschreibt ja ein Selbstverständnis der Polizei als dünne trennende Linie zwischen dem Guten, dem zu Schützenden in der Gesellschaft und den Gegnern und Feinden außerhalb. Wenn man bereit ist, die Leute, mit denen man als Polizist:in zu tun hat, so einzuteilen, dann ist das äußerst gefährlich und problematisch. Das berührt auch die Frage, wie wird das politisch dargestellt. Wenn in der Politik gesagt wird, die Polizei müsse „gewaltfähiger“ und robuster werden, wenn Innenminister sich vor gepanzerten Fahrzeugen und hochgerüsteten, mit Sturmgewehren bewaffneten Polizeieinheiten ablichten lassen, was vermittelt das nach innen und nach außen, was die Rolle der Polizei ist und was ihr Verhältnis zur Bevölkerung ist.
NM: Ich glaube, genau das führt auch vielfach zu Polizeigewalt. Polizist:innen nehmen vielfach die Welt als lebensgefährlich wahr. Eine:r sagte mal zu mir, „Ich bin doch nicht lebensmüde und gehe ohne Waffe aus der Wache.“ Und, „In Geflüchtetenunterkünfte gehen wir mit mindestens 10 Leuten rein, da liegen lauter Waffen rum.“ Gemeint waren Küchenmesser, die es aber in jedem Haushalt gibt. Ich kann verstehen, dass es Unsicherheitsgefühle hervorrufen kann, wenn sich viele Menschen in einer Sprache unterhalten, die man nicht versteht. Vor allem ist aber die Angst vor Kontrollverlust immens.
BD: Das war ja ein Riesenthema bei den „Querdenker“-Demonstrationen. Dass die Polizei am Anfang gesagt hat, „das sind ja ganz normale Leute“. Da hat die Polizei ein ganz bestimmtes Bild davon, was ist eine bürgerliche Demonstration und was nicht. Das zeigt aber auch, dass die Polizei denkt, dass sie in bestimmten Teilen der Bevölkerung nicht so den Rückhalt hat. Oft stimmt das Bild aber nicht in der Weise, wie gedacht wird. Zum Beispiel ist das Verhältnis zu dem, was als linke Szene wahrgenommen wird, seitens der Polizei oft total altmodisch. Das ist geprägt von Vorstellungen von RAF, von ganz krassen Kämpfen, die schon seit Jahrzehnten gar nicht mehr aktuell sind. Dabei droht die eigentliche Gefahr für die Polizei von rechts. Die ist zumindest statistisch gesehen weitaus größer. Bis sich solche Bilder in der polizeiinternen Kultur anpassen, das sind ganz langsame kulturelle Umwälzungen.
NM: Wobei Links tatsächlich auch immer mehr mit Polizei kommuniziert. Mit Plakaten, Sprechchören gegen die Polizei. Das machen die Rechten nicht.
BD: Die rechtsradikale Szene hat Polizei inzwischen als großes Feindbild ausgemacht. Die werden als Handlanger des Systems abgestempelt. Und da gibt es extreme Aufrufe zu Gewalt und Bewaffnung gegen die Polizei.
NM: Mich interessiert noch ein anderer Punkt: Das institutionelle Selbstwissen der Polizei ist sehr begrenzt. Nämlich darauf, was die Organisation selbst an Daten erhebt, etwa polizeiliche Kriminalstatistik oder eigene Lagebilder. Letztendlich wird die Polizeiarbeit nur an Zahlen gemessen. Es gibt nur Rückfragen, wenn die Zahlen nicht stimmen. Zum Beispiel werden Personenkontrollen überhaupt nicht erhoben. Interaktionen zwischen Polizei und Bürgerinnen, die polizeilich folgenlos bleiben, dringen gar nicht ins (Problem-)Bewusstsein von Beamten. Während Bürger oft ein nachhaltig negatives Bild von der Polizei haben nach einer Kontrolle, dass gesagt wird, „schon wieder wurde ich diskriminierend kontrolliert“, ist die Situation für die Polizei sofort vom Radar. Es könnte schon helfen, wenn Polizei mehr Daten erhebt darüber, zu wem sie Kontakt sucht und guckt, wer wird kontrolliert: Alter, Geschlecht, Örtlichkeit. Dann wird man vermutlich schnell sehen, dass es junge Männer migrantischer Herkunft in bestimmten Stadtteilen prozentual weitaus häufiger trifft. Könnte so etwas der Polizei helfen, besser bzw. fairer zu werden?
BD: Sehr komplexe Frage. Polizeiliche Wissensbestände sind nicht nur quantifizierbar und auf Zahlen gestützt. Auch qualitative Fragen, also die Art der Reflexion und Auseinandersetzung spielen eine Rolle. Das ist auch abhängig von Dienststelle und Organisationsstruktur. Es gibt zaghafte Entwicklungen, wie zum Beispiel Supervisionen, bessere psychologische Betreuung, mehr Nachbereitung. Die Frage, wie Polizei lernt, hat ja ganz viel damit zu tun, wie und was intern vermittelt wird. Zwei große Bereiche sind damit angesprochen: einmal Fehlerkultur, welche Bereitschaft gibt es überhaupt, Fehler einzugestehen. Und zweitens, was wird extern damit gemacht. Wir fordern die Einführung von Kontrollquittungen, die ja jetzt in einigen Bundesländern eingeführt werden. Aus genau diesen Gründen. Es muss aber noch viel mehr dazukommen, damit das wirken kann.
NM: A propos Fehlerkultur. Das Einräumen von Fehlern fällt der Polizei nicht gerade leicht – ganz zu schweigen von Entschuldigungen.
BD: Der Polizei ist es sehr wichtig, die Definitionshoheit über Geschehnisse zu behalten. Die wird auch im Nachhinein, in der öffentlichen und juristischen Aufarbeitung, fortgesetzt. Auch wenn ein Gericht sagt, die Räumung oder die Kontrolle war rechtswidrig, dann bleibt die Polizei mitunter bei ihrer Position. Gegenüber dieser anderen Gewalt, der Justiz, die auch dazu da ist, die Polizei als Teil der Exekutive zu kontrollieren und einzuhegen. Es ist genau wie du sagst, es gibt die große Angst davor innerhalb der Polizei und auch bei der politischen Führung, die Definitionshoheit zu verlieren, aber auch davor, dass Fehler sichtbar werden, selbst haftbar gemacht zu werden und vielleicht das Vertrauen in der Bevölkerung zu verlieren. Reflexhaftes Abwehren hat sich eingeschliffen und lässt sich bei vielen Polizeibehörden weltweit beobachten. Und das ist viel gefährlicher und schädlicher für das Verhältnis zur Gesellschaft und das Vertrauen in die Polizei. Fehler eingestehen ist in jeder Organisation schwierig und mit Risiken verbunden, hat im Zweifel auch persönliche Konsequenzen. Aber würde man einen offenen Umgang und Transparenz pflegen, würde man enorm viel zurückgewinnen. Abgesehen von der Frage, dass natürlich eine demokratische Gesellschaft und ein Rechtsstaat einen Anspruch darauf haben, diese Dinge zu wissen, aufzuklären und zu kontrollieren.
NM: Es gibt immanente Widersprüche zwischen Demokratie und Polizei, nämlich die Einschränkung der Grundrechte auf Freiheit und Gleichheit. Nun ist Demokratie überdies auch stets und permanent ein Aushandlungs- und Beteiligungsprozess, der nur durch eine gewisse Unterbestimmtheit von Rechtsgütern möglich ist. In dem Moment, in dem sich die Polizei nicht ihrerseits auch als Teil dessen begreift, kapselt sie sich automatisch aus dem gesellschaftlichen Diskurs ab.
BD: Genau. Sie zieht sich dann vor Kritik zurück, die sie oftmals als ungerechtfertigt empfindet, igelt sich ein. Das ist der Wagenburg-Effekt. Sie verselbständigt sich gegenüber der Gesellschaft. Das ist eines der drängendsten Probleme derzeit. Denn die Polizei muss lernen, in diesen Diskurs wieder reinzugehen.