In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Büchern aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie. Weitere Rezensionen finden sich hier.
Titel: | Surveillance Capitalism in America | |
Herausgeber: | Josh Lauer und Kenneth Lipartito | |
Jahr: | 2021 | |
Verlag: | University of Pennsylvania Press | |
ISBN: | 9780812253351 |
Shoshana Zuboffs Zeitdiagnose “The Age of Surveillance Capitalism” prägt seit ihrer Veröffentlichung 2019 unseren Blick auf die großen Plattformunternehmen wie Google, Facebook, Microsoft u. a. Im Wesentlichen kostenlos, erzielen diese Unternehmen ihren Gewinn mit Vorhersageprodukten, die sie aus der Auswertung und Manipulation unseres Verhaltens im Netz gewinnen und auf sogenannten behavioral futuremarkets feilbieten. Für diese Logik des Wirtschaftens etablierte Zuboff den Begriff des Überwachungskapitalismus. Das Thema des Sammelbands “Surveillance Capitalism in America” (2021) ist damit nicht neu. Warum die beiden Herausgeber Josh Lauer und Kenneth Lipartito trotzdem auf 200 Seiten zur vertieften Beschäftigung mit ihm anregen, formulieren sie folgendermaßen in der Einleitung: “Eine Besessenheit von der Gegenwart, die in einer Politik der Angst verankert ist und sich einem vereinfachenden technologischen Determinismus hingibt, wird der tiefen historischen Beziehung zwischen Überwachung und Kapitalismus nicht gerecht.” (S. 2) Geschichtsvergessenheit, so lautet kurzgefasst der Vorwurf der Autoren an die Adresse der Surveillance Studies im Allgemeinen und Shoshana Zuboff im Besonderen, habe den Blick auf die digitale Ökonomie verzerrt. Ihren Sammelband begreifen sie folglich als eine “historische Intervention”, welche kapitalistische Überwachung historisiert und aufzeigt, dass diese in gesellschaftlichen Prozessen der Rationalisierung, Bürokratisierung und sozialen Kontrolle gründet, die bereits bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreichen. Dabei werde vor allem sichtbar, dass das Geschäftsmodell der großen Plattformunternehmen nur eine Verfeinerung früherer Praktiken der Monetarisierung von Überwachung darstelle.
Für die Intervention schlagen die Autoren folgende Arbeitsdefinition des Überwachungskapitalismus vor: eine “breite Palette von Strategien und Techniken, sowohl formell als auch informell, die von Wirtschaftsakteuren eingesetzt werden, um menschliches Verhalten und menschliche Beziehungen zu beobachten, vorherzusagen und zu kontrollieren.” (S. 5) Damit finden sie eine Arbeitsdefinition, die flexibel genug ist, um Überwachungspraktiken über die Zeit hinweg nachzuspüren. In ihrer Einleitung setzen sie weitere wichtige Akzente für ihren Band im Speziellen, aber auch für die Überwachungsforschung im Allgemeinen. So befürworten sie eine Konzeption des Überwachungskapitalismus, das an die Zusammenhänge von Profitabilität und Überwachung anknüpft, die Marx im Kapital festgestellt hatte. Des Weiteren wollen sie einen Fokus auf Infrastrukturen der Überwachung legen, statt auf deren individuelle Instanzen, um das häufig unsichtbare Ineinandergreifen von veralteten Versatzstücken, Strukturen, Akteuren und Kategorien aufzudecken. Schließlich heben sie die Wechselwirkungen von technologischer Innovation und kommerzieller Überwachung hervor, angefangen bei der bürokratischen Akte bis hin zu den sogenannten data doubles heutiger Big-Data-Anwendungen. Überwachungskapitalismus müsse vor diesem Hintergrund als ein Hybrid aus ökonomischen Systemen, Technologien, Praktiken, Akteuren und Interessen begriffen, die Erzählung einer “einzelnen, alles umfassenden Form” (S. 16) hingegen fallengelassen werden. Damit tauchten überall auch Widerstandspotenziale, Lücken und Alternativen in der Überwachungsarchitektur auf, während Erscheinungen von Reibungslosigkeit als eine hausgemachte Illusion entlarvt werden können.
Das Buch besteht aus neun historischen Studien, die kapitalistischen Überwachungspraktiken vom späten 18. bis ins späte 20. Jahrhundert nachspüren, sowie einem Nachwort von Sarah Igo und der umfangreichen Einführung der beiden Herausgeber. Den Einstieg macht die Studie “Enslaved Watchmen: Surveillance and Sousveillance in Jamaica and the British Atlantic World”. Eine offene Frage in Bezug auf die Geschichte des atlantischen Sklavensystems ist, wie eine weiße Minderheit ihre Herrschaft gegenüber einer großen Mehrheit afrikanischer Sklav:innen absichern konnte. Die Autor:innen des ersten Kapitels, Caitlin Rosenthal und Cameron Black, führen als Antwort komplexe Informationssysteme an, die maßgeblich auf den Schultern von ausgewählten Wächtern aus den Reihen der Sklav:innen selbst ruhten. Diese waren häufig durch Alter und körperliche Konstitution nicht mehr in der Lage, die grausame Arbeit auf den Feldern zu erledigen und wurden deshalb für die oft ebenso grausame Arbeit der Aufsicht über die Plantagen und Sklav:innen eingesetzt. Durch ihre Zwischenstellung hatten sie jedoch die Möglichkeit, zugunsten der Versklavten auch die Gegenseite zu überwachen sowie Entflohene zu unterstützen.
Die darauffolgenden Studien beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit Überwachung am Arbeitsplatz, der Kontrolle von deviantem Verhalten und Konsum. Zwei Kapitel im Besonderen zeigen die zunehmende Invasivität körperlicher und seelischer Überwachung von Arbeiter:innen unter den Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftens. Daniel Roberts Kapitel “Mystery Shoppers and Self-Monitors: Managing Emotional Labor to Improve the Corporate Image” hebt auf die Versuche von öffentlichen Dienstleistungsunternehmen ab, das Stigma kapitalistischer Monopolisierung abzumildern. Ihr Ziel war es, Vergesellschaftung und stärkerer Regulierung vorzubeugen. Im Zuge dieser Kampagne wurde das Auftreten von Angestellten gegenüber Kund:innen mithilfe von Abhörsystemen und sogenannten “mystery shoppers” überwacht – Angestellte, die verdeckt ihre Kolleg:innen prüfen. Dabei wurde nicht allein die Performance getrimmt, sondern auch Emotionen, Benehmen und Manieren der Angestellten. In “High Priority: Business’s War on Drugs and the Expansion of Surveillance in the United States” untersucht Jeremy Milloy das buchstäbliche Eindringen von Überwachungspraktiken in die Körper der Arbeitenden. Im Zuge des Drug-Free Workplace Acts brachte die Reagan Regierung Unternehmen dazu, obligatorische Drogentests an ihren Angestellten durchzuführen. Die Langzeitfolgen der Normalisierung von biometrischer Überwachung trügen bis heute.
Schon immer beansprucht die Vorbeugung von Kriminalität, äußere Merkmale von Devianz bestimmen zu können und den sich verändernden Bedingungen Rechnung zu tragen. Vorurteile werden dabei fast notwendig hervorgebracht und reproduziert. In ihrem Beitrag “The Watchful Gaze Behind the Welcoming Smile”, untersucht Megan Elias wie die Hotelindustrie der USA in den 20er und 30er-Jahren auf die Effekte massiven Wachstums reagierte. Fortschritte in der Bautechnik ermöglichten Hotels neuer Größenordnung, die mit einer Demokratisierung ihrer Dienstleistungen und Anonymisierung ihrer Gäste einherging. Hoteliers sahen sich in der Folge durch Betrug, Diebstahl und Prostitution in ihrer gängigen Einstellung von “der Kunde hat immer recht” herausgefordert. Sie knüpften deshalb Informationsnetze zwischen den Hotels und hielten Hotelangestellte dazu an, unliebsame Gäste ausfindig zu machen. Doch wie sollten diese Betrüger erkennen? Beinahe notwendig reproduzierten sie bestehende Vorurteile gegenüber vulnerablen Gruppen. In “Seeing Straight: Policing Sexualities in 1930s Manhattan Nightclubs” widmet sich Jennifer Le Zotte staatlichen Überwachungsmaßnahmen zur Einhegung von Gang-Kriminalität in Nachtclubs. Die Maßnahmen richteten sich jedoch effektiv gegen die LGBTQ-Community und zielten auf deren Isolierung, Stigmatisierung und Kontrolle. Ähnlich wie die Hotelangestellten wurden Bars und Cabarets dazu aufgefordert, Personen mit abweichendem Aussehen zu überwachen und von ihren Etablissements auszuschließen. Ihnen drohte ansonsten der Verlust ihrer Ausschanklizenz. Die Stadt New York entwickelte explizite Regelwerke, in denen Codes für anständige Kleidung und “straighte” Erscheinung festgelegt wurden. Im Endeffekt zeigte sich jedoch, dass die staatlichen Maßnahmen nicht nur ihr vermeintliches Ziel verfehlten, sie führten sogar zu einer Verstärkung organisierter Kriminalität.
Ein dritter Schwerpunkt des Bands widmet sich der Überwachung von Konsument:innen. In “The Information Bazaar: Mail-Order Magazines and the Gilded age Trade in consumer Data” zeichnet Richard Popp Vorformen dessen nach, was Zuboff als Vorhersageprodukte in den Überwachungsdiskurs eingeführt hat. Weitgespannte Informationsnetze versorgten den Versandhandel mit Informationen über Kund:innen, Listen von kaufwilligen Kontakten enthielten bis zu hunderttausende Namen. Data Broker entwickelten elaborierte Strategien, um die Informationen zu klassifizieren und solche Gruppen ausfindig zu machen, die besonders gut auf ausbeuterische Marketingstrategien anspringen. Das Kapitel “Why Did Uptown Go Down in Flames? Uptown Cigarettes and the Targeted Marketing Crisis” untersucht Widerstände gegen derlei Praktiken in den USA der 1990er. Die Tabakfirma Uptwon Cigarettes versuchte durch gezieltes Marketing junge schwarze Amerikaner:innen zu loyalen Konsument:innen d. h. Abhängigen zu machen. Ihr Versuch stieß auf heftigen Widerstand in der schwarzen Zivilbevölkerung und ging schließlich fehl. Eine breite Debatte über gezieltes Marketing an vulnerable Gruppen wurde in der Folge angestoßen.
Der Band schließt mit einem Nachwort von Sarah Igo, die darin das Projekt der Herausgeber noch einen Schritt weiter denkt. Grundsätzlich stimmt sie mit Lauer und Lipartito darin überein, dass “einer der größten Fehler in der zeitgenössischen Berichterstattung, […] darin besteht, unseren gegenwärtigen, datengesättigten Moment als ohne Parallele – ja ohne Geschichte – zu behandeln.” (S. 205) Können die Praktiken des Überwachungskapitalismus auf zahlreiche Vorgänger in der Geschichte zurückblicken, sei es stattdessen vielleicht die öffentliche Aufmerksamkeit für diese Themen, die neu sei. Von Überwachungskapitalismus zu sprechen wäre dann womöglich redundant. Laut Igo stehe die Untersuchung gegenwärtiger kommerzieller Überwachungssysteme dennoch erst am Anfang. Ein stärkerer Fokus müsse jedoch darauf gelegt werden, wie Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit hergestellt werden und Unternehmen ihre Überwachungsinfrastrukturen weitestgehend unbeachtet auf früheren Technologien, Gesetzen und Normen errichtet haben.
In vielen Aspekten stimme ich mit Sarah Igos Forderungen überein und auch das meiste von dem, was die Herausgeber in der Einleitung hervorheben, halte ich für wichtig. Das Panorama der vielgestaltigen Geschichte unternehmerischer Überwachung bereichert den Blick auf gegenwärtige Formen der Überwachung und geht über Zuboffs Analyse, die bis zum Kalten Krieg zurückreicht, hinaus – eine neue theoretische Perspektive bietet der Band jedoch nicht. In ihren konzeptuellen Innovationen ist Zuboff deutlich ergiebiger, wenn es darum geht, die Invasivität und Ubiquität zeitgenössischer Überwachungslogik sichtbar zu machen und zu kritisieren. Auch für die Frage Igos, wie Unternehmen ihre Überwachungssysteme so lange vor öffentlicher Einsicht verbergen und dabei in bestehende Infrastrukturen hineinweben konnten, liefert Zuboff eine ganze Bandbreite an Argumenten. Sie zeigt detailliert auf, wie Unternehmen durch verborgene Grenzübertritte und deren anschließender Normalisierung, Einflussnahmen auf wissenschaftliche Untersuchungen und Interessenskongruenzen mit der US-Regierung nach den Anschlägen vom 11. September ihre Überwachung in die Tiefenstrukturen von Internet, Politik und Alltag treiben konnten.
Und schließlich kommt Zuboffs Analyse der Arbeitsdefinition der beiden Herausgeber näher als womöglich angenommen. Auch sie ist nicht an einzelnen Technologien interessiert, sondern an einer spezifischen Logik, die sich in verschiedene Strategien und Taktiken gliedert. Deren extreme Realisierung in den Geschäftspraktiken von solchen Größen wie Google und Facebook ist es, die Zuboff fragen lässt, ob der Überwachungskapitalismus zur dominanten Logik unserer Zeit werden könnte. Dennoch ist es kein neuer und auch kein unbegründeter Vorwurf an Zuboff, wenn die Autoren ihr einen Hang zur Panikmache vorwerfen. Wenig Spielraum lässt die Ökonomin der Agency von Nutzer:innen, die im Zugriff der Plattformen zu bloßen Ressourcen verkommen. Ihr darüber hinaus technologischen Determinismus vorzuwerfen, grenzt jedoch an schlichte Unkenntnis. Eine ihrer wichtigsten Diagnosen ist es schließlich, diesen als weitere Verdunkelungsstrategie von Plattformunternehmen zu entlarven. Der vermeintlichen Alternativlosigkeit der Technik setzt Zuboff konsequente politische Regulierung des Geschäftsmodells entgegen. Darin steckt ein Aufruf zum kollektiven Widerstand, der sie weit über das Projekt von Lipartito und Lauer hinausträgt. Von ihnen lässt sich aber lernen, dass es nie eine überwachungsfreie Form des Kapitalismus gegeben hat, der Widerstand sich folglich gegen den überwachenden Kapitalismus als solchen richten muss, anstatt wie es Zuboff nahelegt, gegen seine jüngste Gestalt.