Das sind jetzt nur ein paar ungeordnete Gedanken zur Krim-Besetzung und zum gegenwärtigen Bemühen des Westens, mit Verhaltenstherapie auf Russland einzuwirken. Man hört ja immer wieder, Putins Russland wäre nicht auf der Höhe der Zeit (wessen Zeit?), es würde unangemessener Weise mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert agieren. Dann war es also das 20. Jahrhundert und nicht die Deutschen, das Konzentrationslager eingerichtet und einen »totalen Krieg« geführt hat; dann war es das 20. Jahrhundert und nicht die US-Amerikaner, das etwa in Korea und Vietnam gewütet hat. Und die Zeit des Afghanistan- und des letzten Irak-Krieges war offenbar eine Zeiteinkapselung oder einer zeitlichen Unschärferelation geschuldet.
Was wäre der Westen (das ist natürlich auch eine) ohne seine Metonymien…
Wenn man bedenkt, dass die Industrialisierung in Russland, unter Stalin in äußerst brutaler Weise erzwungen, erst im 20. Jahrhundert stattgefunden hat, dann kann man nicht außer acht lassen, dass diese Industrialisierung im Mutterland des Kapitalismus bereits reichlich 200 Jahre früher erfolgt ist, und zwar in nicht weniger brutaler Weise. Polanyi beschreibt etwa die massenhafte Entwurzelung der ländlichen Bevölkerung; die Kommerzialisierung von Grund und Boden bezeichnet er als, »das vielleicht absurdeste Unterfangen unserer Vorfahren«. Das entwurzelte Individuum wurde aus der Gemeinschaft in die atomisierte Gesellschaft gezwungen, wo es nur noch als statistisches Ding zu existieren vermag. Dass Putin nun seinen Landsleuten das Land auf dem sie leben zu sichern sucht, kann so vielleicht auch mit einem stärker traditionellen Bezug zum Boden erklärt werden, wie er den westlichen Eliten völlig fremd geworden ist.
Der Westen verhält sich dabei im Übrigen wie ein Kleinbürger (Sombart und Scheeler halten den ängstlichen Kleinbürger für den Prototypen des westlichen Menschen), der seine Wurzeln durch Machtstreben ersetzt hat und dem für seinen eigenen Aufstieg jedes Mittel recht ist, während er diese Mittel sich beeilt zu verpönen, sobald er es geschafft hat und oben ist. Das ist meiner Meinung nach die Heuchelei und Scheinheiligkeit, die unserer Kultur anhaftet. Wir sind die Guten (schon immer gewesen) – die Psychoanalyse spricht hier nicht ohne Grund von Reaktionsbildung…
Das illustrierende Bild bezieht sich auf den Glauben an die Wirksamkeit von Strafe und ist eine Skizze des Milgram-Experiments, wo nicht erwartungsgemäß funktionierende „Schüler“ von nicht in das Experiment eingeweihten „Lehrern“ mit (fingierten) Elektroschocks bestraft wurden, wobei die Dosis bei Nicht-Complience immer weiter erhöht wurde. Warten wie mal das sich abzeichnende in-vivo-Experiment ab, vor allem: wer wird die Versuchsperson sein, wer der Versuchsleiter und was ist der experimentelle Hintergrund…