„Gerade keine Zeit“ ist eine schlechte Ausrede, trotzdem möchte ich mich auf letztere berufen, um die Kürze und den Flugblatt-Charakter meines Beitrags zu rechtfertigen.
Mich erstaunt, verwundert und ärgert, dass auf Criminologia NIEMAND etwas zu Japan posted.
Als wenn nichts passiert wäre, bleiben wir alle auf unseren kriminologischen Steckenpferdchen hocken. Und ignorieren allem Anschein nach, dass wir kriminelles Verhaltens beobachten, deren Folgen noch niemand benennen kann.
Wir werden Zeuge einer mehr als fragwürdigen Informationspolitik.
Sehen Pressesprecher in merkwürdigen Uniformen.
Wir hören von Verwirrten, die ohne jegliche Kontrolle mit ihrem Pkw über das Katastrophengelände brettern.
Nachrichten über die Rekrutierung so genannter „freiwillige“ Helfer.
Gefälschte Daten bzgl. der Strahlenbelastung. Und so weiter und so fort.
Bin ich alleine mit meiner Haltung, dass wir als kritische Kriminologen nicht nur die Aufgabe haben zu fordern, dass es marginal deviantes Verhalten zu entkriminalisieren gilt, aber eben auch Mut zur Subsumtion gewagt werden muss?
Christian Wickert schreibt
Das ist ein sehr guter Punkt, Ilsabe.
Als Administrator von Criminologia und Autor, der bislang viele Beiträge hier verfasst hat, fühle ich mich durch Deine Beschwerde und Deinen Appell angesprochen.
Tatsächlich würde es mir leicht fallen, mich jetzt auf das „Keine-Zeit-Argument“ zu berufen: Ich könnte dann die drei Bücher auflisten, die auf meinem Schreibtisch liegen und rezensiert werden wollen, ich könnte auch auf die fünf bereits angefangenen Beiträge verweisen, die im Backend gespeichert sind und auf ihre Vollendung warten, schließlich ließe sich auch noch auf die vielen neuen potentiellen Themen hinweisen, auf die ich täglich bei Sichtung des Feed-Readers und Blick in den Twitter-Account stoße. Aber alle diese Argumente sind, wie Du selber nahelegst, Ausflüchte.
Ich glaube nicht, dass (bei mir aber ebenso bei anderen Autoren) mangelnde Empathie oder fehlendes Interesse für das von Dir angesprochene Versäumnis verantwortlich sind.
Die fehlende (redaktionelle) Beachtung hängt meines Erachtens vielmehr mit den Eigenarten des Ereignisses selbst zusammen.
Nicht nur die derzeitige Lage in Japan, sondern beispielsweise ebenso die Jasmin-Revolution, die Finanzkrise und noch weitere Themen wurden in den letzten Monaten hier im Blog sträflich vernachlässigt. Allen diesen Themen ist gemein, dass es sich um schwer zu überschauende Ereignisse handelt, hinter denen sich zumeist komplexe gesellschaftspolitische Entwicklungen verbergen.
Betrachtet man im Gegensatz hierzu die Themen, die in den letzten Monaten durch Beiträge abgedeckt wurden, so lässt sich feststellen, dass alle jene Ereignissen sich durch einen klar zu identifizierenden emotionalen Aufhänger auszeichnen: ein unehrlicher Verteidigungsminister, eine zunächst engagierte – später aber zunehmend desillusionierte und depressive – Jugendrichterin, ein rüstiger pensionierter Lehrer und brutale jugendliche Schläger, mehrere unschuldige und prominente Opfer eines unter Drogeneinflusses stehenden Autofahrers etc. – alle diese Personen bieten eine Projektionsfläche für Emotionen. Ihre Geschichten sind begreifbar, ihre Lebenslagen aufgrund eigener Erfahrungen nachvollziehbar.
Erst die Vertrautheit der hier geschilderten Lebenslagen und Lebensentwürfe bietet eine „Normalitätsfolie“, vor deren Hintergrund die Außergewöhnlichkeit, Grausamkeit und Ironie der jeweiligen Ereignisse für den Leser – aber auch für den Textproduzenten im Moment des Schreibens – erfahrbar werden. Erst der fokussierte Blick auf das Einzelschicksal gibt den komplexen gesellschaftlichen Problemen, die den Ereignissen ursächlich zugrunde liegen, Kontur und machen sie produzierbar aber vor allem auch konsumierbar.
Der Katastrophe in Japan fehlt dieses Gesicht bzw. es sind zu viele Gesichter. Die Zahl der Toten und Vermissten ist nicht begreifbar; die Gefahr, die von einer atomaren Verseuchung ausgeht, nicht spürbar, nicht zu sehen, zu riechen oder zu schmecken.
Die Skandalisierung möglicher Versäumnisse bei der Wartung von Atomkraftwerken oder eines unprofessionellen Krisenmanagements erscheint angesichts des Elends von unbegreifbar vielen Opfern und Angehörigen banal.
Aber ich glaube, es wäre ein Trugschluss, nicht-geschriebene Beiträge zur aktuellen Lage in Japan auf eine gleichgültige, apathische Haltung zurückzuführen.
Grace schreibt
Während ich Christian’s Erklärungen durchaus zustimme und auch finde das nicht nur auf diesem Blog, sondern in der (Hamburger) Kriminologie allgemein wichtige Themen vernachlässigt werden, muss ich sagen dass mich dieser Blog Eintrag etwas verwundert.
Ich finde es gerechtfertigt auf dieses Themen-Vakuum hinzuweisen und sich über die Gründe dafür Gedanken zu machen. Diese Empörung, und vor allem den Ton, finde ich hingegen unkonstruktiv. Was sollen wir machen, verschämt auf den Boden gucken und mit den Füßen scharren?
Mir ist die Abwesenheit des Themas ‚Japan‘ auf diesem Blog auch schon aufgefallen. Die Tatsache, dass ich selber nichts dazu geschrieben habe liegt and den auch von Christian genannten Gründen. Ich durchblicke das Thema nicht gut genug um konstruktiv etwas zu dem Thema beitragen zu können und ‚ich finde das schlimm, was da passiert‘ ist nicht genug Inhalt um einen Beitrag zu rechtfertigen.
Wer eine Diskussion zum Thema Japan anregen möchte, der/die sollte diese selber beginnen. Sich darüber zu empören darüber, dass das noch nicht jemand ander gemacht hat ohne selber irgendeinen Inhalt zu liefern bringt niemanden wirklich weiter.
Andreas P. schreibt
Ich glaube, dass es inkonsequent ist, hier entkriminalisieren und dort kriminalisieren zu wollen. Die Kriminologie hat wohl ein Problem damit, dass sie immer Gefahr läuft, mit ihrem Gegenstand sich selbst aufzulösen. Aber die bloße Verschiebung des Fokus gleicht einem Bäumchen-wechsel-dich-Spiel. Wenn man aber die kritische Kriminologie konsequent zu Ende denkt, dann läuft das auf die Auflösung ihres Gegenstands hinaus oder jedenfalls auf dessen Vieldeutigkeit. Das impliziert die Aufgabe des binären Denkens, wie es sich im Schuldprinzip offenbart. Am Ende bleibt nur Tragik. Und die Erkenntnis, dass sich das Richtige nicht ausrechnen lässt.