In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Büchern aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
Weitere Rezensionen finden sich hier.
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Titel: |
Non-Penal Real Utopias. |
HerausgeberInnen: | Emma Bell und David Scott | |
Jahr: | 2016 | |
Verlag: | EG Press | |
ISBN: | 978-1911439028 |
Emma Bell und David Scott (Hrsg.) Non-Penal Real Utopias. Justice. Foundation Issue of Power and Resistance: The Journal of the European Group for the Study of Deviance and Social Control. EG Press: London September 2016. 253 Seiten, € 24,61. (Eine elektronische Version soll ab 1.3. 2017 von der EG Press ins Netz gestellt werden.
Die European Group existiert seit 44 Jahren. Ich kenne sie seit ihrer zweiten Konferenz an der University of Exeter. Sie war damals eine einmalige Möglichkeit, Kollegen und Kolleginnen aus anderen europäischen Ländern kennen zu lernen und mit ihnen eine „kritische Kriminologie“ zu entwickeln. Die Treffen waren immer eine Herausforderung für die non-native speakers und zugleich stets spannend und nachhaltig. Die Ergebnisse der Treffen wurden zwar zumeist als „Working Papers in European Criminology“ veröffentlicht, es gab aber keinen ernsthaften Vertrieb außerhalb der Gruppe und die Bücher landeten nur ausnahmsweise in Bibliotheken. Das Englisch der Beiträge war häufig zweifelhaft und regte nicht dazu an, sie zu zitieren.
Dies alles scheint sich jetzt zu ändern, nachdem man sich entschlossen hat, eine internationale Zeitschrift („peer-reviewed“) zu gründen. Sie soll Originalaufsätze, Buchbesprechungen und „creative narratives” publizieren, aber auch eine Plattform für die Stimmen von Aktivisten bieten, sowie von “people embroiled within state institutions” (wie es elegant vieldeutig auf dem Rückumschlag heißt)
Die Gründungsausgabe der Zeitschrift ist eindrucksvoll. Sie enthält, neben einem Editorial zur European Group, zwölf höchst interessante Essays. Die zumeist jüngeren Autoren sind, wie die Herausgeber, fast durchwegs englische Muttersprachler aus dem Vereinigten Königreich. Allerdings sind auch zwei Altvordere aus Norwegen vertreten, die den Kontakt über Jahrzehnte gehalten haben und deren Beiträge zu einer kritischen Kriminologie sich bis heute als besonders einflussreich erweisen haben: Thomas Mathiesen und Nils Christie (der ja leider 2016 verstorben ist). Ein weiteres immer wieder zitiertes Vorbild ist der ebenfalls bereits (2013) verstorbene Stan Cohen.
Die Beiträge kreisen um das Thema Utopie im Zusammenhang mit Sozialer Kontrolle. Die Herausgeber beschreiben den gemeinsamen Nenner der Beiträge als Versuch, „practical alternatives to dystopian penal futures“ (15) zu entwickeln. Es soll also um „reale Utopien“ gehen, wie es schon im Titel des Bandes heißt, um einen „pragmatischen Utopismus“, den schon Stan Cohen gefordert hat (97), um „konkrete Utopien“ im Sinne von Ernst Bloch, der immerhin in einem der Essays erwähnt wird (101).
In den Worten von Bell & Scott soll es dabei um eine radikale „utopian imagination“ (11) gehen, die aber stets auf der „gelebten Erfahrung“ beruhen, in der täglichen Praxis „tief verwurzelt“ sein soll (27). Für Eric Olin Wright finden sich reale Utopien, wo immer „emanzipatorische Ideale in vorhandenen Institutionen, Praktiken und Vorschlägen“ enthalten sind (43), „Enklaven der Inspiration innerhalb des Justizsystems“ (164). Zugleich sollen die neuen Lösungen „transformativ“ sein, d.h. über die Grenzen des Systems der Strafjustiz hinausweisen (115) bzw. sich dessen Anforderungen verweigern. Damit erinnern sie an ältere Konzepte wie das der „nicht-reformistischen Reformen“ von André Gorz 42) bzw. Thomas Mathiesens „negative Reformen“ (116).
Was das genau bedeuten soll, wird in verschiedenen Essays exemplarisch umschrieben. Während Wright seine Beispiele für reale Utopien außerhalb der Strafjustiz findet (öffentliche Bibliotheken; Arbeiterkooperative) konzentrieren sich andere auf ein „abolitionist real utopia“ (Scott 2013, zitiert von Lynne Copson, 83), ohne freilich eine komplette Abschaffung der Knäste zu fordern. Warnend wird auf die Gefahr der Kooptation hingewiesen, die bei unkritischem Umgang mit Begriffen wie „community alternatives“, „therapeutic communities“ oder auch „restorative justice“ besteht (85). Lynn Copland weist auf die Notwendigkeit eines Diskurswechsels hin: „so long as we continue to talk in the language of ‚crime‘ and criminal justice, we cannot escape the perspective of ‚truth‘ such language both requires and perpetuates“ (87). Im deutschen Sprachraum ist ein solcher Diskurswechsel in radikaler Form vor allem von Heinz Steinert und seinen Mitarbeitern angestellt worden (Ärgernisse und Lebenskatastrophen. Über den alltäglichen Umgang mit Kriminalität. AJZ-Verlag, Bielefeld 1989). Paddy Hillyard hatte schon vorgeschlagen, den verbrechens-zentrierten Diskurs der Kriminologie durch einen „zemiologischen“ abzulösen, eine „social harm perspective“ (86).
Die Stärken des Buches bestehen in diesen, äußerst anregenden, theoretischen Überlegungen. Konkrete Beispiele für nicht-pönologische reale Utopien finden sich eher selten:
J.M. Moore und Rebecca Roberts diskutieren zwei Beispiele „transformativer Alternativen“ durch einen „social justice approach“:
- Schadensreduktion als Ziel der Drogenpolitik (123 ff); das kennen wir aus dem erfolgreichen Wirken von Heino Stöver (Frankfurt)
- entsprechende Ansätze im Zusammenhang mit „gendered violence“ werden angedeutet(126), nicht erwähnt werden aber die Vorarbeiten der großen Abolitionistin Faye Honey Knopp.
Margret S. Malloch knüpft an die Vorschläge von Pat Carlen (1990) zur Abschaffung von Frauengefängnissen an (151 ff) und stellt diese in einen weiteren Kontext sozialpolitischer Forderungen. Dem kann man nur herzlich zustimmen. Für die meisten Frauen ist der Knast noch weniger nötig als für die meisten Männer.
Steve Tombs beschäftigt sich mit „harmful corporations“und wie man dagegen auf andere Weise als mit weitgehend ineffektiven Geldstrafen vorgehen könnte. Sein Ansatz ist ein“ thinking beyond the archetypal capitalist corporation“ (207 ff). Sein real existierendes Modell sind dabei die kooperativen Industrien im baskischen Mondragon, die fürwahr ein Wunder an industrieller Mitbestimmung inmitten des Kapitalismus darstellen. Ohne die Subventionen der baskischen Regierung wären sie allerdings nicht überlebensfähig.
Vielleicht noch radikaler sind die Vorschläge von Nils Christie, der sich für die Abschaffung von modernen „Apartheid-Regimen“ ausspricht. Sein wichtigstes Beispiel sind unsere Schulen, d.h. Institutionen in denen junge Menschen gezwungen werden, sich über viele Jahre aufzuhalten. Man kann sich fragen, ob dies nicht bereits den Rahmen „realer“ Utopien sprengt. Allerdings ist Christie selbst realistisch genug, als erster Schritt die Reduktion der Schulpflicht auf sieben oder acht Jahre zu fordern (243).
Dem neuen Journal ist alles Gute zu wünschen. Wenn die Herausgeber in dieser Konsistenz und Konsequenz weitermachen, werden sie ein Leuchtturm in der kriminologischen Landschaft sein. Konsequent wäre es, in Zukunft mehr Autoren außerhalb des anglo-amerikanischen Sprachraumes einzubeziehen. Das mag zu Lasten der sprachlichen Qualität und Konsistenz gehen. Es wäre aber nur konsequent.
Die nächste Konferenz der European Group wird übrigens vom 31.August bis zum 3.September 2017 in Mytilene auf Lesbos (Griechenland) stattfinden.
Johannes Feest, Bremen