In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Bücher aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
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Titel: | Experiencing Imprisonment. Research on the experience of living and working in carceral institutions | |
Herausgeberin: | Carla Reeves | |
Jahr: | 2016 | |
Verlag: | Routledge | |
ISBN: | 978-1-138-79046-9 |
Lange Zeit lag die Gefängnis-Ethnographie darnieder. Wer jenseits der Strafvollzugsstatistiken und Rückfallquoten wissen wollte, was Inhaftierung für das Leben der Gefangenen selbst bedeutet und wie sie mit den Bedrohungen ihrer Identität, mit den pains of imprisonment (Gresham Sykes) und mit den Grenzen der totalen und hybriden Institutionen umgehen, kam in der Kriminologie meist nicht zu tieferen Erkenntnissen. In diesem Sammelband mit einem eher europäischen als us-amerikanischen Fokus (die Fallstudien kommen u.a. aus Großbritannien, Australien, Kanada, den USA, Serbien, Israel, Portugal, Finnland, Holland und Deutschland) werden aber sehr gute Leitfragen gestellt, nämlich: „what are the realities of life for people entering, in and leaving prison? What impacts, difficulties and challenges do they face? How do they manage and cope with these?“. Da nun freilich diesen Fragen nicht nur in diesen unterschiedlichen Ländern, sondern auch noch in Männer-, Frauen- und Jugendanstalten unter verschiedenen Gesichtspunkten nachgegangen wird, brummte mir zum Schluss dann doch der Schädel vor so viel streng methodischem Durcheinander.
Vielleicht sollte ich einfach sagen, was ich von der Lektüre mitnehme:
Erstens die Entdeckung einer mir bisher unbekannten Autorin. Amy B. Smoyer heißt sie und ist Assistenzprofessorin am Department of Social Work der Southern Connecticut State University in den USA. Ihre Erforschung der Lebensmittelwege in einer Frauenanstalt hat mir nicht nur Einblick in die Besonderheiten der Nahrungsmittelversorgung und -beschaffung im Polizeigewahrsam, bei Gerichtsterminen und im Alltag des Normalvollzugs (sowie in den Isolationszellen) sowie in Art und Bedeutung der Koch- und Tauschaktivitäten innerhalb und außerhalb intramuraler Legalität verschafft, sondern mir überhaupt erst klar gemacht, dass es eine offenbar recht lebendige Forschungsrichtung namens Prison Food gibt! Diese originelle, lebendige und aufklärende prison ethnography war für mich das stärkste Genussmittel im ganzen Buch.
Zweitens fiel mir auf, was fehlt. Es fehlt die lived experience of imprisonment in China, Sibirien und Uganda, in Guatemala und Indien sowie Sri Lanka und Zimbabwe, aber auch im Kongo und in Ruanda, von gefangenen Irakern, Iranern, Pakistani und Palästinensern ganz zu schweigen. Das ist kein Vorwurf, das ist eine Feststellung. Dass man etwas über Serbien erfährt, ist ja schon selten und verdienstvoll genug. Aber das ist es ja gerade: da merkte ich, dass ich über die Realität (die objektive und die subjektive) des Strafvollzugs in der Welt so gut wie gar nichts weiß. Na gut, es gibt das mehrbändige Werk über Crime and Punishment around the World, aber auch das sah sich nach eigenen Angaben mehr oder weniger auf das Betrachten der freigegebenen Oberfläche begrenzt. Es ist eben auch ein eine komische Bornierung der Kriminologie selbst, zu 99% immer nur auf Europa und Nordamerika zu starren. Wann und wie wir mal eine globale Perspektive erreichen könnten, das würde mich interessieren.
Drittens gefällt mir die vor allem in Westeuropa verbreitete Ansicht, „that the loss of liberty in itself is the punishment and any added hardship in prison may constitute a human rights violation“ (S. 137). Unter dem Gesichtspunkt wären Schikanierungen aller Art durch das Personal oder die Tolerierung von gewaltfördernden Haftumständen durch Politik und Verwaltung glatte Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention – und Kirstin Drenkhahn und Christine Morgenstern gehen in ihrem auf den umfangreichen internationalen Greifswalder Vergleichsstudien (Frieder Dünkel) beruhenden Beitrag über das Sicherheitsgefühl von Gefangenen genau davon aus. Irgendwo scheint mir da aber etwas ausgeblendet zu werden. Die Herausgeberin jedenfalls geht davon aus, dass die Verantwortlichen oftmals nur unter Informationsmängeln über die tatsächlichen Bedingungen leiden, die die Rechte und die Würde der Gefangenen beeinträchtigen – und damit natürlich auch die Resozialisierungschancen (S. 328). Mir fällt es schwer, diesen Glauben zu teilen. Eher schon denke ich, dass man gar nicht so genau wissen will, was hinter den Mauern geschieht. Das ist ja gerade die Funktion des Gefängnisses für die penal spectators (Michelle Brown): dass man ahnt und irgendwie gut findet, dass es den Gefangenen hinter den Mauern nicht so gut geht und dass sie da einiges einstecken müssen. Insofern verrichten die vielen Gefängnisbediensteten, die nicht im Traum daran glauben, dass der Freiheitsentzug für sich genommen die Strafe sei und dass ansonsten keine Schikanen erforderlich seien, nur das dirty work für die good people draußen und oben. Aber vielleicht ist das auch nur mein komischer Eindruck.
Viertens habe ich mich gefreut, wie Holger Schmidt (übrigens ein Hamburger IKS-Absolvent erster Güte) sich wohlinformiert der Tatsache angenommen hat, dass viele Gefangene das Gefühl entwickeln, im Strafvollzug ungerecht behandelt zu werden. Dieses verbreitete Gefühl ist ja geeignet, alles zu behindern oder zu verhindern, was man sich von der Sanktionierung eigentlich erhofft: dass der Täter die Tat durcharbeitet, dass er Gefühle für das Opfer entwickelt und ein Bewusstsein für allen Schaden, den er angerichtet hat (gut: nicht jeder Gefangene hat natürlich Schaden angerichtet und nicht jeder hat überhaupt etwas Strafbares getan, es gibt ja auch unschuldig Verurteilte und solche, deren Tun an sich straflos sein müsste, aufgrund der Gesetzgebung aber nun einmal strafbar ist). Jedenfalls sind Überlegungen dieser Art, gegründet in die Forschungen zu procedural justice, von höchster Wichtigkeit, wenn man herausfinden will, was eigentlich im Strafvollzug permanent falsch läuft. Da gibt es noch viel zu tun.
Fünftens sehe ich dann doch langsam einen gemeinsamen Nenner. Immer und immer wieder kommen die Analysen auf denselben Punkt zu sprechen, und das ist das Verhältnis zwischen Bediensteten und Gefangenen. Es scheint, als sei dies der Dreh- und Angelpunkt, der über Erfolg und Misserfolg, über positive und negative turning points in den Lebensläufen der Gefangenen entscheidet. Gut ist das Bediensteten-Gefangenen-Verhältnis immer dann, wenn die Bediensteten von den Gefangenen als faire und hilfsorientierte „echte Menschen“ wahrgenommen werden, die sich kümmern und die ihre Tätigkeit nicht als im Dienste der Strafe, sondern im Dienste der Unterstützung stehend verstehen. Es ist gut, dass die Autorinnen und Autoren offenbar jeweils ganz unabhängig voneinander auf diesen zentralen Punkt gestoßen sind – und dass die Herausgeberin den Punkt auch noch einmal unterstreicht. Das kann für die Zukunft wichtig sein. Besonders dann, wenn es stimmt, was Carla Reeves auf Seite 328 prognostiziert: „There is every reason to believe that imprisonmentwill remain a dominant punishment technique globally.“