In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Bücher aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
Weitere Rezensionen finden sich hier.
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Titel: | Kriminologische Grundlagentexte |
Herausgeber: | Daniela Klimke & Aldo Legnaro | |
Jahr: | 2016 | |
Verlag: | Springer VS | |
ISBN: | 978-3-658-06504-1 |
Bei manchen neu erscheinenden Büchern drängt sich die Frage auf, weshalb sie nicht bereits vor Jahren herausgebracht wurden – so offensichtlich erscheint ihr Nutzen; so auch bei dem hier vorliegenden Sammelband „Kriminologische Grundlagentexte“. Während im englischen Sprachraum Reader sehr gebräuchlich sind, stellen deutschsprachige Textzusammenstellungen in der Wissenschaftsliteratur allerdings eine Seltenheit dar. Die von Daniela Klimke und Aldo Legnaro herausgegebene Textsammlung wird vom Verlag daher konsequenterweise als „erste historisch und systematisch umfassende Sammlung kriminalsoziologischer Grundlagentexte seit der ‚Kriminalsoziologie‘ von Fritz Sack und René König (1968)1“ beworben.
Die im Sammelband vereinten Texte spannen sowohl historisch als auch inhaltlich einen weiten Bogen. Sie reichen von Theorien des ausgehenden 19. Jahrhundert bis hin zu poststrukturalistischen Denkansätzen der Jetztzeit und umfassen eine große Themenvielfalt, die von devianzsoziologischen Grundlagen über Strafpraxen und gesellschaftliche Exklusionsprozesse bis hin zu Phänomenbereichen wie der Moralpanik oder White-Collar-Crime reicht.
Jede getroffene Auswahl an Texten bedeutet gleichsam einen Ausschluss an Ideen und Konzepten, die unerwähnt bleiben und sich somit als Ansatzpunkt für Kritik anbieten. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis (s.u.) offenbart durchaus einige ‚Lücken‘, die mit den vorliegenden ‚Kriminologischen Grundlagentexten‘ nicht geschlossen werden.
Jedoch werden die Herausgeber mit der getroffenen Textauswahl ihrem Anspruch einer zeitgemäßen Fortschreibung von Sacks und Königs „Kriminalsoziologie“ durchaus gerecht. Bereits der dem Sammelband vorangestellte Artikel „Auf wessen Seite stehen wir?“ von Howard S. Becker (1967), der hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt, zeugt von dieser Perspektive, die fernab politisch-administrativen Verwertungsinteressen einer ‚Mainstream-Kriminologie‘ liegt. Einen Schwerpunkt des Sammelbandes stellen einerseits die Etikettierungstheorien und andererseits Texte/ Ideen zur Praxis des gesellschaftlichen Ausschlusses und der gesellschaftlichen Kontrolle dar. Diesen Texten ist konsequenterweise das 1968 veröffentlichte Schlusswort der „Kriminalsoziologie“ (Sack: „Neue Perspektiven in der Kriminologie“) vorangestellt. Die im Sammelband vereinten zahlreichen aktuelleren Aufsätze (z.B. Steinert, 2008; Wacquant, 2004/2009; Garland, 2001/ 2008) zeugen von den vielfältigen Weiterentwicklungen einer herrschaftskritischen devianz- und kriminalsoziologischen Perspektive – wobei auch eine Vielzahl der klassischen Texte zum Gegenstandsbereich Eingang in den Sammelband gefunden haben (u.a. Durkheim, 1895/ 1968; Popitz, 1968; Lemert, 1967/ 1975; Goffman, 1963/ 2010; Merton, 1957/ 1968).
Somit bietet der Sammelband „Kriminologische Grundlagentexte“ (alleine oder auch in Ergänzung des über das moderne Antiquariat noch zu beziehenden Buchs „Kriminalsoziologie“) einen hervorragenden Überblick über die theoretischen Grundlagen einer kritischen Kriminologie, die sich sowohl als hilfreiches Nachschlagewerk für ‚gestandene‘ Sozialwissenschaftler als auch als einführende Lektüre für Studierende der Kriminologie oder Soziologie sozialer Probleme sicherlich einer großen Beliebtheit erfreuen wird.
Inhaltsverzeichnis: „Kriminologische Grundlagentexte“
Zur Einführung
Howard S. Becker (1967): Auf wessen Seite stehen wir?Die sozialen Funktionen der Kriminalität
Émile Durkheim (1895/1968): Kriminalität als normales Phänomen
Heinrich Popitz (1968): Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe
Nils Christie (2004/2005): Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft? Die gesellschaftliche Herstellung sozialer Probleme
Joseph R. Gusfield (1967 – 1968): Moralische Passage. Der symbolische Prozess der öffentlichen Kennzeichnung von Devianz
Stanley Cohen (1972): Zur Soziologie von MoralpanikenDie Etikettierung zum Abweichler
Fritz Sack (1968): Neue Perspektiven in der Kriminologie
Edwin Lemert (1967/1975): Der Begriff der sekundären Devianz
Harold Garfinkel (1956/1974): Bedingungen für den Erfolg von Degradierungszeremonien
Erving Goffman (1963/2010): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter IdentitätÖkonomie von Kriminalität und Strafe
Georg Rusche (1933/1980): Arbeitsmarkt und Strafvollzug. Gedanken zur Soziologie der Strafjustiz
Robert Reiner (2010): Politische Ökonomie, Kriminalität und Strafrechtspflege: ein Plädoyer für eine sozialdemokratische Perspektive
Heinz Steinert (2008): ‚Soziale Ausschließung‘: Produktionsweisen und Begriffs-Konjunkturen
Loïc Wacquant (2004/2009): Bestrafen der ArmenSozialstruktur und Kriminalität
Robert K. Merton (1957/1968): Sozialstruktur und Anomie
Albert K. Cohen (1957): Kriminelle Subkulturen
William F. Whyte (1943/1981): Die Street Corner Society. Die Sozialstruktur eines ItalienerviertelsErweiterte Verbrechensdimensionen
Edwin Sutherland (1940/1968): White-collar Kriminalität
Herbert Jäger (1989): MakrokriminalitätVon der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft
Michel Foucault (1975/1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses
Gilles Deleuze (1990/1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften
David Garland (2001/2008): Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart
Das Inhaltsverzeichnis sowie eine Leseprobe sind auf der Verlagsseite als kostenloser Download verfügbar.
Fritz Sack & René König (Hrsg.) (1968) Kriminalsoziologie. Frankfurt a.M.: Akademische Verlagsgesellschaft. ↩
Ein offenbar hochinteressantes, wichtiges Buch. Aber: was soll es denn kosten?
Laut Verlagsseite kostet das Buch knapp 40 Euro (http://www.springer.com/de/book/9783658065034).