Themenschwerpunkt auf der Konferenz “Versprechungen des Rechts“, 9.-11. September 2015. Leitung: Andrea Kretschmann (Universität Bielefeld), Lars Ostermeier (VICESSE), Tobias Singelnstein (FU Berlin)
Was wir unter Sicherheit verstehen, befindet sich in einem kontinuierlichen Wandel. In der jüngeren Vergangenheit dominiert dabei der individuelle Schutz vor Bedrohungen wie Kriminalität und Terrorismus und anderen Gefahren, der durch Strafrecht und öffentliches Recht hergestellt werden soll – bis hin zu einem „Grundrecht auf Sicherheit“ (Isensee). Diese Entwicklung lässt sich als Kolonisierung des Rechts durch Sicherheit interpretieren. Das Recht wird weniger als Abwehrrecht der Bürger vor staatlichen Zugriffen verstanden, sondern als Ermächtigungsrecht für vermeintlich notwendige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Lebensbereiche. Hierzu wird in fünf Panels diskutiert werden.
Der Track beginnt mit zwei Panels zum Themengebiet des Versammlungsrechts, die von Hartmut Aden organisiert wurden:
Panel 1: Die Versprechungen der Versammlungsfreiheit, 10. September 2015, 11.30-13.00h
Die Versammlungsfreiheit hat sich international zu einem Grundrecht entwickelt, das im juristischen und politischen Diskurs einen hohen Stellenwert als Element demokratischer Systeme genießt. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht die hohe Gewichtung der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 GG in der Brokdorf-Entscheidung aus dem Jahr 1985 (BVerfGE 69, 315) und danach wiederholt explizit demokratietheoretisch begründet. Die Versammlungsfreiheit sei ein zentrales Funktionselement gerade einer repräsentativen Demokratie, da sie denjenigen Mitwirkungsmöglichkeiten eröffne, denen sonst nur periodisch Beteiligungsmöglichkeiten durch Wahlen gegeben seien. Im polizeilichen Diskurs wird dieses Versprechen seither regelmäßig dadurch aufgegriffen, dass das hohe Gewicht und die Schutzbedürftigkeit dieses Grundrechts betont werden. Allerdings ist das Spannungsfeld zwischen der Versammlungsfreiheit auf der einen und polizeilichen Sicherheits- und Kontrollbedürfnissen auf der anderen Seite damit nicht völlig überwunden. Das versammlungsrechtliche Instrumentarium (Bild- und Tonaufnahmen – dazu auch die folgende Session des Tracks -, Vermummungsverbot, präventive Verbote, beschränkende Verfügungen, Vorkontrollen etc.) spiegelt dieses Spannungsfeld ebenso wieder wie Schwierigkeiten von Versammlungsbehörden und Polizei, sich auf veränderte Protestformen (diffuse Protestbündnisse ohne personalisierbare Leitung, neue Ausdrucksformen etc.) einzustellen. In diesem und dem folgenden Panel sollen diese Entwicklungen unter der Leitfragestellung aufgearbeitet werden, inwieweit das Versprechen der Versammlungsfreiheit vor dem Hintergrund der genannten Spannungsfelder und Entwicklungen eingelöst wird. Vortragende in diesem Panel sind:
- 11.30 Peer Stolle „Die Versprechungen der Versammlungsfreiheit und ihre tatsächlichen Grenzen – Ein Erfahrungsüberblick aus anwaltlicher Sicht“
- 11:45 Martin Kutscha „Grundrechtsausübung als Wagnis – Inpflichtnahme von VersammlungsteilnehmerInnen für Ausschreitungen anderer?“
- 12:00 Hartmut Aden „Die Versprechungen der Versammlungsfreiheit“
Chair: Andrea Kretschmann
Panel 2: Versammlungsrecht und polizeiliche Überwachung, 10. September 2015, 14.30-16.00
Die Versprechungen der Versammlungsfreiheit stehen dort in besonderem Maße in Frage, wo Polizei und andere Sicherheitsbehörden die rasante Entwicklung der technischen Überwachungsmöglichkeiten nutzen. Denn Überwachungsmaßnahmen oder allein die Befürchtung von Teilnehmer/innen, dass solche Maßnahmen stattfinden, könnten auf manche Menschen einschüchternd oder gar abschreckend wirken. Die Beiträge dieser Session beleuchten am Beispiel von Bild- und Tonaufnahmen bei Versammlungen aus einer rechtlichen bzw. empirisch-soziologischen Perspektive, wie und inwieweit Überwachungsmaßnahmen die Versprechungen der Versammlungsfreiheit beeinträchtigen. Vortragende in diesem Panel sind:
- 14:30 Clemens Arzt „Polizeiliche Überwachung von Versammlungen – Nur ein gefühlter Grundrechtseingriff?“
- 14:45 Peter Ullrich „Die Kamera als Machtsymbol – empirische Befunde zur polizeilichen Videoüberwachung von Demonstrationen“
- 15:00 Moritz Assall: Kommentar
Chair: Michael Jasch
Der Tag wird mit einem von Bettina Paul und Lars Ostermeier organisierten Panel zu Technologien der Verdachtsgewinnung abgeschlossen.
Panel 3: Technologien der Verdachtsgewinnung, 10. September 2015, 16:30-18.00
Die Kritik an der Definition, des Beobachtens und des Aus- und Wegschlusses der ‚üblichen Verdächtigen’ durch das Kriminaljustizsystem gilt als ein identitätsstiftendes Merkmal kritischer Kriminologie. Dabei ist die Generierung von Verdacht als Schwelle für Interventionen nicht nur auf den Polizeiapparat und das Kriminaljustizsystem beschränkt. Ob im Gesundheitswesen, der Sozialarbeit oder am Arbeitsplatz: die Selektion von Personen und Personengruppen, die soziale unerwünschte Verhaltensweisen oder auffällige Charakteristika aufweisen, zieht sich durch alle gesellschaftlichen Institutionen. Die im Folge von Politiken der Prävention und der Preemption zunehmende Verbreitung von Verdachtsgewinnung durch Technologien der automatisierten Datenerfassung und -verarbeitung ist das Thema dieses Panels.
Niklas Creemers und Daniel Guagnin widmen sich in ihrem Beitrag der Rekonfiguration polizeilicher Praktiken der Verdachtsgewinnung vor dem Hintergrund einer Fallstudie zur Rolle von automatisierter Datenverarbeitung in der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Kern ihrer Analyse ist die Abstraktion und Entindividualisierung des Verdachts im Kontext der Digitalisierung des Sozialen. Den Zusammenhang zwischen der Neutralitätszuschreibung und der Versprechenszuschreibung über das erwünschte Potential einer Technologie zeigen Bettina Paul und Simon Egbert an der Praxis der Lügendetektion auf. Sie erfährt durch den Diskurs neuer Verfahren wie des Neuroimaging in Koppelung mit der Hoffnung, sie könnten im Anti-Terror-Kampf Entscheidendes bewirken, einen immensen Auftrieb und eine grundsätzlich neue Akzeptanz. Sabrina Ellebrecht analysiert die Praktiken der Lagebilderstellung und Verdachtsgewinnung im Europäischen Grenzüberwachungssystem EUROSUR. Dabei arbeitet sie heraus wie sich die Praxis der Verdachtsgewinnung und -visualisierung vollzieht und welche Konsequenzen daraus hervorgehen. Mit einem Kommentar von Eric Töpfer.
Chair: Lars Ostermeier
Der Track wird am folgenden Tag mit zwei Panels fortgesetzt. Der Tag beginnt mit Beiträgen, die in historischer, soziologischer bzw. rechtssoziologischer Perspektive Praxen des Rechts angesichts der Anforderungen von Sicherheit analysieren. Anhand von politischer Überwachung in den USA, Drogentests am Arbeitsplatz und der Belehrungspflichten im Strafprozess wird nachgezeichnet, wie sich diese Anforderungen in der Praxis durchsetzen.
Panel 4: Praxis des Rechts – Anforderungen der Sicherheit, 11. September 2015, 9:30-11:00
- 9:30 Nadja Capus & Stefan Studer „Die Rechtsbelehrung als (leeres) Versprechen“
Mit der Belehrung der beschuldigten Person über das ihr zu stehende Schweigerecht ist das Versprechen verbunden, dass zu keinem Zeitpunkt im Verfahren auf die Aussage gepocht wird. Es gibt keine Aussagepflicht des Beschuldigten und versprochen wird, dass daraus keine Nachteile entstehen – ansonsten keine freie Entscheidung für die Inanspruchnahme mehr möglich ist. Versprochen wird mit der belehrenden Kundgebung zugleich, dass keine physischen oder psychischen Druck- oder Täuschungsmittel angewendet werden, um den Bruch des Schweigens herbeizuführen. Um die Einhaltung der Belehrung und des damit einhergehenden Versprechens überprüfbar zu machen, unterliegen die Behörden der Protokollierungspflicht. Diese Vernehmungsprotokolle dienen der vorliegenden Untersuchung als empirische Grundlage. Zudem wird anhand bisheriger kriminologischer Forschung zum Schweigerecht untersucht, ob und inwiefern es sich bei diesem Versprechen um ein leeres Versprechen handelt. In methodologischer Hinsicht wird die besondere Problematik reflektiert, die mit dem Beizug von Strafakten und insbesondere von Vernehmungsprotokollen als Grundlage kriminologischer Forschung einhergeht.
- 9:45 Simon Egbert „Von der Kolonisierung des Rechts durch Sicherheit zu einer Kolonisierung des Alltags durch versicherheitlichtes Recht – das Beispiel Drogentests am Arbeitsplatz“
Am Beispiel von Drogentestpraktiken am Arbeitsplatz soll – empirisch unterfüttert – dargelegt werden, wie die Kolonisierung des Rechts durch Sicherheit, durch auf Gefahrenabwehr fokussierte Denk- und Handlungsweisen auch im gesellschaftlichen Alltag zur Entfaltung kommt und welche Effekte dieser Prozess besitzt. Dabei wird sich einerseits auf Gerichtsurteile gestützt, die die Anwendung von Drogentests am Arbeitsplatz als Maßnahmen der Arbeitssicherheit legitimieren, andererseits auf Interviews zurückgegriffen, die mit Testerinnen und Testern aus dem Arbeitsplatzbereich geführt wurden. Darzustellen ist im Zuge dessen, wie zunächst Drogenkonsum als Risiko am Arbeitsplatz konstruiert, daran anschließend der Ruf nach entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen laut und schließlich präventive Kontrollmaßnahmen, die die wahrgenommenen Gefahren abwehren sollen, implementiert werden und mit welchen diskursiven Wissensbeständen dabei operiert wird. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die jeweiligen Vorstellungen von Sicherheit zu richten: was wird von den betei-ligten Akteur_innen unter Sicherheit verstanden, welche Maßnahmen werden damit verbunden und welche Ambivalenzen sind darin zu erkennen? Es ist im Anschluss daran zu diskutieren, welche Parallelen zwischen den Argumentationsstrategien im vorliegenden Fall und jenen aus dem Diskurs zur Inneren Sicherheit zu identifizieren sind und wie sich dieser Befund zu der kriminologischen Zeitdiagnose der Sicherheitsgesellschaft verhält, ob z.B. letztere durch die hier vorgenommene ‚Veralltäglichung‘ von Praktiken der Versicherheitlichung modifizie-rende Eingriffe benötigt und welche Rolle dabei die genutzten technischen Kontrollartefakte spielen.
- 10:00 Benedikt Neuroth „Politische Überwachung in den USA. Der Fall Laird v. Tatum 1972“
Im Januar 1970 deckte ein ehemaliger Armeeangehöriger in einem Magazinartikel ein Programm der US-Armee auf, die seit Ende der 1960er Jahre verstärkt zivile politische Gruppen überwacht hatte, auch wenn diese sich gesetzestreu verhielten und nicht als gewalttätig auffielen. Daraufhin befasste sich ein Komitee im Senat mit dem Fall und mit Datenbanken, die offenbar über Protestgruppen geführt wurden. Die Armee begründete die Überwachung mit Unruhen, wie sie sich etwa 1967 in Detroit entzündet hatten. Dagegen vertrat die American Civil Liberties Union politische Gruppierungen, die sich eingeschüchtert fühlten und in ihren Rechten verletzt sahen, und brachte den Fall vor Gericht. Auch Kongressmitglieder engagierten sich in dem Rechtsstreit, der damit zu einem Politikum wurde. Das Oberste Bundesgericht erklärte die Praktiken der Armee allerdings für rechtmäßig, mit der Stimme von Richter Rehnquist, dem die unterlegene Seite wegen früherer Äußerungen als stellvertretender Generalbundesanwalt Befangenheit vorwarf. Der Fall verdeutlicht einen gesellschaftlichen Konflikt zwischen der Sorge vor sozialen Unruhen auf der einen und dem Schutz der Meinungsfreiheit und der Privatsphäre auf der anderen Seite. Anhand des Falls soll der Wandel des Rechts im Zeichen der Sicherheit aus historischer Perspektive analysiert werden. Denn Anfang der 1970er Jahre kamen in den Vereinigten Staaten von Amerika mehrere Fälle politischer Überwachung an die Öffentlichkeit. So hatte die Bundespolizeibehörde jahrelang politische Gruppierungen, zu denen auch Bürgerrechtler gehörten, infiltriert und zu stören versucht. Nachdem die Watergate-Affäre die Öffentlichkeit erschüttert hatte, wurde die Tätigkeit der Geheimdienste untersucht.
Chair: Aldo Legnaro
Der Track wird durch ein von Tobias Singelnstein organisiertes Panel zum Thema Geheimdienste und Recht abgeschlossen.
Panel 5: Geheimdienste und Recht – Szenen eines schwierigen Verhältnisses, 11. September 2015, 11:30-13:00
Rechtlich besehen sind Geheimdienste wie jede andere staatliche Institution an Recht und Gesetz gebunden. Rechtstatsächlich steht wohl bei keiner anderen Behörde diese Bindung in einem derart starken Spannungsverhältnis zur Praxis wie bei den Geheimdiensten. Wie dieses Spannungsverhältnis und seine Kontrolle ausgestaltet sind, lässt sich derzeit ein wenig anhand der parlamentarischen Untersuchung der Überwachungstätigkeiten von NSA und BND beobachten. Das Panel nimmt dies zum Anlass, einige Szenen des Verhältnisses von Geheimdiensten und Recht genauer unter die Lupe zu nehmen. Vortragende in diesem Panel sind:
- 11:30 Ulf Buermeyer „Steuerung und Kontrolle von Geheimdiensten durch Parlament und Gerichte: die Quadratur des Kreises?“
Die Snowden-Papiere haben sowohl in den USA als auch in Deutschland und dem Vereinigten Königreich für einige Überraschung gesorgt, was die Methoden der geheimdienstlichen Datensammlungen angeht: In den USA stützte die NSA eine Vorratsdatenspeicherung von Telefon-Verbindungsdaten auf die sog. Section 215 des PATRIOT Act – eine Norm, von der wohl niemand geahnt hätte, dass sie dies autorisieren könnte. Der BND legt die 20%-Quote bei der strategischen Telekommunikationsüberwachung bei Internet-Verkehr derart aus, dass im Ergebnis der gesamte gewünschte Verkehr mitgeschnitten werden kann. All diesen kreativen Interpretationen ist gemein, dass sie sich im Geheimen vollzogen – einer kritischen juristischen Betrachtung hätten sie kaum standgehalten. Der Beitrag geht der Frage nach, was sich aus diesen Exzessen der Exekutive darüber lernen lässt, ob und wie Geheimdienste legislativ überhaupt wirksam gesteuert werden können und wie effektiv verschiedene Kontrollregimes – etwa parlamentarische Gremien wie in Deutschland oder Geheimgerichte wie im UK oder in den USA – tatsächlich eine Gewähr für die Legalität geheimdienstlichen Handelns bieten können.
- 11:45 Anne Roth „Geheimdienste und Parlament – wer kontrolliert wen?“
Der 1. Untersuchungsausschuss des Bundestages in dieser Legislaturperiode („NSA“) hat bisher keine wirklich spektakulären Enthüllungen über die Beteiligung des BND am internationalen Massenüberwachungs-Netzwerk der Geheimdienste hervorgebracht. Deutlich geworden ist hingegen, dass der BND mit Billigung des Kanzleramts gegen geltende Gesetze verstößt oder sie zumindest sehr großzügig interpretiert. Es zeichnet sich ab, dass der Dienst häufig nach dem Prinzip „Wir machen alles, was nicht explizit verboten ist“ vorgeht. Auch das System der Kontrolle der Geheimdienste ist von mehreren Zeugen erheblich kritisiert worden, darunter auch einem ehemaligen Vorsitzenden der G10-Kommission. Immer wieder wird von Abgeordneten im Ausschuss darauf hingewiesen, dass das Parlament die Regierung und damit auch die Geheimdienste kontrolliert und nicht umgekehrt – in der Theorie.
- 12:00 Michael Plöse: Kommentar
Chair: Tobias Singelnstein