Als Ministerialdirigent steuerte Bernd Maelicke fünfzehn Jahre lang – nämlich von 1990 bis 2005 unter den SPD-Ministern Klingner und Walter sowie der grünen Ministerin Lütkes – die Reform des Strafvollzugs und der ambulanten Dienste. Seine noch aus der Frankfurter Zeit mitgebrachten Vorschläge und Empfehlungen (S. 156 f.) und sein ministerielles Arbeitsprogramm konnten sich sehen lassen. Letzteres umfasste unter anderem
ein Werkstätten-Neubauprogramm für die veralteten Justizvollzugsanstalten, den Ausbau des offenen Vollzugs, spezifische Behandlungsprogramme für Sexual- und Gewalttäter (stationär und ambulant), den Ausbau des Langstrafenvollzugs, die Neukonzipierung des Frauenvollzugs, den Ausbau der gemeinnhützigen Arbeit zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen, eine Reformkommission zur Fortentwicklung der Sozialen Dienste der Justiz, die institutionelle Förderung eines neu gegründeten Landesverbands der Freien Straffälligenhilfe und die Förderung entsprechender Projekte (gemeinnützige Arbeit, Täter-Opfer-Ausgleich, Haftentscheidungshilfe), Förderung von Maßnahmen des Opferschutzes, Bewährungs- und Gerichtshilfegesetz sowie eine integrierte Organisations- und Personalentwicklung für den Vollzug und für die Sozialen Dienste des Vollzugs (s. S. 158 f.)
Kein Wunder, dass sein „Knast-Dilemma“ auch eine Art Leistungsbilanz darstellt – eine Leistungsbilanz, die freilich am besten cum grano salis zu genießen sein dürfte.
Am beeindruckendsten ist auf jeden Fall der Rückgang der Gefangenenrate von 60 (im Jahre 1990) auf rund 40 Gefangene pro 100 000 Einwohner, der von Maelicke ausdrücklich auf seine Reform der ambulanten und stationären Resozialisierung zurückgeführt wird (S. 177):
Grundlage für diese positive Entwicklung war und ist eine massive Steigerung der Aktivitäten der Gerichts- und Bewährungshilfe und ein konsequenter Ausbau der Freien Straffälligenhilfe. Damit wurden systematisch die Voraussetzungen verbessert, um die Anzahl der Rückfälle zu verringern.
Hier wäre es eine lohnende Aufgabe der Wissenschaft, diese Kausalhypothese durch genaueres Hinsehen und durch den Ausschluss konkurrierender Hypothesen zu validieren – man denke an den demographischen Wandel und an den sog. Ostendorf-Effekt – benannt nach dem von 1989 bis 1997 amtierenden Generalstaatsanwalt.
Sehr gut auch, dass der verkleinerte Vollzug zugleich baulich modernisiert wurde – man denke an die neue Jugendanstalt in Schleswig und die neue Jugendarrestanstalt in Moltsfelde sowie die gut gelungene Sozialtherapie in der JVA Lübeck.
Dabei gelang es Maelicke und seinem Team immer wieder – bis zum Ausbruch von Christian Bogner im Jahre 2004 – die Risiken und Widerstände, die sich aus Ängsten in der Bevölkerung und deren Intensivierung mittels einer sensationslüsternen Medienlandschaft ergaben, zu überwinden (S. 157-166).
An die Grenzen des Machbaren geriet die Reformpolitik hingegen bei internen Widerständen durch Teile des Personals in der Justizverwaltung selbst. An manchen Stellen kommt Maelicke darauf zu sprechen. Die für ihn so wichtige Neuorganisation der Bewährungs- und Gerichtshilfe
– Wir wollten diese Sozialen Dienste der Justiz fachlich und organisatorisch stärken, sie als ‚zweite Säule‘ neben dem Vollzug und der Freien Straffälligenhilfe verselbstständigen, personell ausbauen und leitende Sozialarbeiter einführen (S. 166) –
blieb wegen des erheblichen Widerstands der betroffenen Mitarbeiter stecken, „sodass wir mit diesem Teil der Reform trotz vieler Schlichtungsversuche letztlich scheiterten.“ Denn:
Die Angst vor organisatorischen Veränderungen konnten wir … nicht überwinden, sie ist bis heute geblieben.
Derlei Probleme gab es bei der Freien Straffälligenhilfe naturgemäß nicht, da sie von der Zunahme ihrer Fördermittel von Null (im Jahre 1989) auf vier Millionen Euro (2012) ja ausschließlich profitierte. Hier hätte man natürlich gerne auch etwas über die Qualifikation des Personals und die Qualität der Aufgabenerfüllung erfahren.
Es ist keine schleswig-holsteinische Besonderheit, dass Reformbestrebungen im Polizei- und Justizbereich nicht nur auf Widerstände einer durch Massenmedien (zusätzlich) verunsicherten Bevölkerung stoßen, sondern weitaus wirkungsvoller noch von innen her – von Mitarbeitern der Polizei- und Justizverwaltung selbst – sabotiert werden können.
Das hat man etwa in Hamburg zur Zeit des Justizsenators Hardraht (1993-1995) erleben können und das kann man heute in Baltimore (USA) beobachten: da wackeln dann ganz schnell die Stühle von liberalen und reformerischen Politikern und Behördenleitern, wenn die Behördenbediensteten sich in ihren Interessen und ihrem Besitzstand – oder auch nur ihren Routinen – gestört oder bedroht fühlen.
Die Lage in Schleswig-Holstein ist allerdings insofern eine Besonderheit, als hier im Grunde genommen doch nur der Eindruck erweckt wird, eine Reform der Resozialisierung habe erfolgreich stattgefunden und alles sei insofern in Ordnung – während die entscheidende Frage der Organisationsreform nicht einmal angepackt wurde.
Von den vage angestrebten Neuerungen im Langstrafenvollzug – dem harten Kern des Strafvollzugs – ist jedenfalls nichts angekommen. Nach wie vor herrscht dort in Wirklichkeit nicht die Anstaltsleitung, sondern die Betonfraktion der reformresistenten Mitarbeiter. Wohl in keinem anderen Bundesland sind die Justizvollzugs-Bediensteten des Allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD) – die früher so genannten Gefängniswärter (oder auch Schließer) – in der weithin als reaktionär bekannten Gewerkschaft der Polizei (GdP) organisiert. Sie, die ein polizeihaftes Selbstbild und Rollenverständnis pflegen (das in einer Affinität zu Schusswaffen zum Ausdruck kommt – einer Affinität, die auch vom Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes noch lange nicht, wie es sich gehört hätte, ad acta gelegt worden ist), reagieren sehr ungehalten, wenn auch nur von einer Reform ihrer vom Gruppenegoismus geprägten Dienstpläne die Rede ist (die durch Mehrfachbelegungen während der ruhigen Dienstzeiten und knappen Belegungen während der an Aktivitäten reicheren Zeiten gekennzeichnet sind und dadurch für eine dauernde Schein-Personalknappheit sorgen) … und aus Angst vor ihrem kurzen Draht zu Medien und Ministerialen hat sich denn auch noch kein Anstaltsleiter an das Thema herangetraut.
Es ist nicht nur das Fehlen einer seriösen Führungskräftefortbildung, die dazu führt, dass MitarbeiterInnen nur über ein unzulängliches Verständnis ihrer beruflichen Rollen und ihres Auftrags verfügen. Es ist – viel tiefer liegend – das Fehlen einer funktionsfähigen Organisationsstruktur. In der Hinsicht hat sich auch unter Maelicke so gut wie nichts getan. Das Problem wurde weiträumig umfahren. Bis heute arbeiten die Gefängnisse nach der Anordnung über Organisation und. Dienstbetrieb der Justizvollzugsanstalten (OrgJVA) vom 04.11.1985, also ohne die für jede wahre Reformierung der Resozialisierung grundlegende Einführung effektiver Steuerungsinstrumente in Vollzug und Aufsichtsbehörde. Ansätze in diese Richtung verkümmerten und versickerten. So gibt es bis heute keine wirksame Kosten-Leistungs-Rechnung (KLR) und keine Balanced Score Cards (BSC), die es Aufsichtsbehörde und Anstaltsleitungen erlaubt hätten, anhand von Informationen über Finanzen, Klienten, Prozesse und Mitarbeiter eine transparente und effektive Steuerung überhaupt erst in Angriff zu nehmen. Wichtiger als viel Flickschusterei wäre auch die Einführung eines anstaltsübergreifenden Personalbemessungssystems gewesen, um zum Beispiel Personal für Aufnahmeabteilungen, Behandlungsabteilungen usw. freisetzen zu können – und um die dauernden Hinweise von Personalräten und Gewerkschaften auf die Unmöglichkeit von Reformen wegen einer behaupteten Personalknappheit als hohle Phrasen entlarven zu können.
Wer die heimliche Herrschaft der reformfeindlichen Lehmschichten in den Anstalten beenden will, müßte die Anstalten personalführend machen. Heute hingegen wird das Personal nach wie vor vom Justizministerium verwaltet. Das ist nicht nur eine enorme und unsinnige Doppelarbeit (die Anstalten müssen alles vorbereiten, dürfen aber nichts entscheiden), es ist auch der Grund für die Ohnmacht der Anstaltsleitung dem eigenen Personal gegenüber – und der Grund dafür, dass in vielen Anstalten die trägsten Mitglieder des AVD das Meinungsklima im Anstaltsbetrieb dominieren.
Wenn sie auf stur schalten und mehr oder weniger subtil die Arbeit verweigern – durch passiven Widerstand aller Art bis hin zu informell abgesprochenen Krankschreibe-Kampagnen – dann hat unter diesen organisatorischen Rahmenbedingungen keine Anstaltsleitung auch nur den Hauch einer Chance für Reformen.
Ein Blick nach Lübeck zeigt: Schleswig-Holsteins retardierter Justizvollzug hat die Reform-Ära Maelicke leider im Kern unbeschadet überstanden. Die Aufnahme in den geschlossenen Vollzug ist unprofessionell, die Vollzugsplanung defizitär, die Vorbereitungen auf die Haftentlassung durch Lockerungen und/oder den offenen Vollzug sind auf groteske Weise unterentwickelt. Die Anstaltsleitungen dürfen nicht leiten, die Aufsichtsbehörden haben mangels effektiver Steuerungsmodelle nur eine fragmentarische Ahnung von dem, was sie beaufsichtigen sollen. Der Vollzug ist führungslos und intransparent, das Vakuum wird vom Wildwuchs der reaktionären AVD-Subkultur gefüllt. Die am bornierten Besitzstandsdenken orientierten Organisationen der unteren Bediensteten nehmen das Heft in die Hand, vermeiden den Dienstweg über die Anstaltsleitung, bauen Netzwerke mit Journalisten und Ministerialen auf und können jederzeit die Definitionsmacht über (evtl. selbstgemachte) Skandale erlangen, die wiederum die reformorientierten Akteure an den nominell höheren Positionen schlecht aussehen lassen und sie im Zweifel ihren Job kosten.
In erster Linie sind die Gefangenen die Leidtragenden solcher patterned evasions of norms. Sie müssen sich an die ungeschriebenen Gesetze der Bediensteten-Subkultur halten, die ihnen den Zugang zum Recht und zur Resozialisierung erschweren.
Auch das ist ein Grund, an der Reformfähigkeit der Institution Gefängnis zu zweifeln. Es ist deshalb schade, dass Maelicke, der nach eigenen Angaben einst „voller Leidenschaft“ über „die Ideen von Nils Christie“ referiert hatte, sich heute nicht nur als geläutert und „nicht mehr“ als „so naiv“ einschätzt, sondern mittlerweile in seinem Buch den (anthroposophisch inspirierten) Nils Christie mit dem (eurokommunistisch inspirierten) Thomas Mathiesen ebenso verwechselt wie den Titel von Mathiesens Buch „Überwindet die Mauern!“ mit einem imaginierten „Reißt die Mauern nieder“ (S. 137).
Gewiss: es gibt heute keinen Staat und keine Gesellschaft ohne Gefängnis. Aber es gibt klare Worte gegen die Unmenschlichkeit der Zellenhaltung von Menschen. Es gibt sie in Italien mit dem Manifest „No Prison!“ und es gibt sie in Frankreich mit dem Manifest For the Abolition of Every Prison and the Logic of Incarceration.
Die Perspektive liegt eben tatsächlich nicht in einem besseren Strafvollzug, sondern in etwas Besserem als dem Strafvollzug.