Ein Teil des „Knast-Dilemmas“ erzählt die Resozialisierungsgeschichte von Timo S., einem seit seinem 13. Lebensjahr einschlägig aktiven sog. Intensivtäter, der auch schon mal acht Monate in einer Jugendstrafanstalt verbracht hatte, bevor er nun im Alter von 24 Jahren zum ersten Mal vor einem Schöffengericht steht, das ihn wegen Raubes und Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt. Man begleitet Timo S. von der Hauptverhandlung bis zur Entlassung und darüber hinaus: am Ende ist er 30 Jahre alt, seine Freundin Anja, Mutter seiner Tochter Chantal, ist inzwischen mit einem anderen verheiratet und Chantal wurde mit Timos Zustimmung von Anjas Mann adoptiert. Von Timo werden keine Unterhaltszahlungen erwartet und er selbst hat es auf holprigem Wege – und nicht zuletzt dank seines Bewährungshelfers – geschafft. Er ist nicht wieder in den Knast zurückgekehrt, kommt mit seinem Ganztagsjob als Lagerarbeiter auch finanziell über die Runden und hat in der Anlaufstelle der Arbeiterwohlfahrt eine nette junge Frau kennengelernt: „Seine Knastzeit liegt nun viele Jahre zurück, er sehnt sich nicht nur nach sexueller Befriedigung, sondern nach echter Liebe.“
Bernd Maelicke macht Timo S. also „zum didaktischen Vehikel für einen Durchgang durch das deutsche Justiz- und Vollzugswesen“, und zwar „durchaus anschaulich, wenn auch notwendigerweise etwas künstlich, repräsentativ wohl noch am ehesten für die Jugendstrafjustiz“, wie Johannes Feest in seiner Buchbesprechung anmerkte.
Mir hat sehr gut gefallen, wie kenntnisreich und knapp Bernd Maelicke die Situationsdefinitionen und Interaktionen der Beteiligten beschreibt und dabei immer auch auf die Rahmenbedingungen eingeht, unter denen sie handeln und entscheiden. In einem „ganz normalen Prozess“ (S. 31-47) trifft er die Stimmung im Gerichtsgebäude, die Belanglosigkeit der Angelegenheiten für die Richter, die Rollenverteilung der weiteren Akteure, die Aphasie des Angeklagten, die halbapathische Ambivalenz der auf Anraten des Verteidigers mit ihrer kleinen Tochter erschienenen Freundin, die Verbitterung des Tatopfers und die zunehmende Desorientierung, Überforderung und Gereiztheit des Angeklagten, der schon im Verfahren beginnt, sich selbst als das eigentliche Opfer zu definieren – als Opfer von Willkür und Ungerechtigkeit einer Behandlung und eines Verfahrens, deren Sinn er nicht begreift und die ihm den Eindruck vermitteln, irgendwie im falschen Film zu sein. Strafprozesse lassen Opfer wie Täter oft in einem Zustand erhöhter Verbitterung zurück. Aber ihre Funktion liegt ja auch nicht in der Konfliktregulierung, sondern in der Ruhigstellung der Beteiligten. Für ihren Unmut sollen sie keine Bundesgenossen mehr finden. Sie haben ja ihre Verfahren und ihre Chancen gehabt – irgendwann ist Schluss. Die Betroffenen sind nun mit ihrem Unglück und ihrem Groll allein. Unter den Bedingungen der actuarial justice ist Resozialisierung von vornherein ein sehr schwieriges Unterfangen. Wie sagt doch Maelicke so richtig:
„Die Schwächen unseres Reso-Systems fangen nicht erst im Gefängnis an. Bereits in der Gerichtsverhandlung lässt sich ablesen, wie die Regulierung des Konflikts zwischen Täer und Opfer in Deutschland verstanden wird: Im Mittelpunkt steht grundsätzlich der Täter. Der Strafprozess ist ein Akt mit zwei Hauptakteuren: hier der Täter, dort der Staat. Das Opfer kommt nur dann vor, wenn es als Zeuge benötigt wird oder von sich aus eine Rolle, zum Beispiel als Nebenkläger, beansprucht“ (31).
Gewiß: auch das ist schon oft gesagt und bemängelt worden. Aber die Geschichte des Timo S. lässt die Mängel des Systsems so anschaulich werden, dass sie es meiner Meinung nach sogar wert wäre, als eigenständiges Sach-, Jugend- und/oder Schulbuch aus dem Knast-Dilemma ausgekoppelt und vielleicht über die Bundeszentrale für politische Bildung noch weiter verbreitet zu werden.
Die Massenmedien suggerieren ja eine Welt, in der Kriminalitätsprobleme mit der Festnahme der Täter gelöst sind. Alles, was danach kommt, interessiert die Öffentlichkeit dann eigentlich nicht mehr.
Autor Maelicke hingegen plädiert dafür, das Strafsystem so umzubauen, dass es seine Reintegrations-Aufgabe erfüllen kann. Dazu müsste schon die Haftzeit so gestaltet werden, dass sie eine erfolgreiche Resozialisierung vorbereitet und befördert. Maelicke schlägt vor, die Zeit im Gefängnis und die Zeit danach wie zwei Halbzeiten eines Fußballspiels zu begreifen (und die Halbzeitpause als Übergangsmanagement, in dem durch die richtige Ansprache des Trainers die Voraussetzungen für eine Sammlung aller positiver Energien genutzt werden muss). Das ist ein nützliches Bild, finde ich.
Wie sähe so etwas im optimalen Fall wohl aus? Maelicke stellt ein Kölner Modell namens RESI vor, das jedenfalls für den Jugendstrafvollzug offenbar bestens funktionierte. Dort hatten Case Manager („Buddies“, die ein enges Vertrauensverhältnis mit den Jugendlichen aufbauten) im Rahmen des Projekts RESI immerhin 24 Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren nach der Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug sozusagen rund um die Uhr betreut und damit deren Rückfälligkeit sensationell reduziert. Warum das Modell nicht weitergeführt und bundesweit praktiziert (sondern schlichtweg eingestellt) wurde, wird nicht ganz klar. Und wenn es gut funktioniert mit den Case Managern: warum nutzt man es nicht als Alternative zur Freiheitsstrafe statt nur als Form der Nachbetreuung? Fünfzig RESI-Projekte würden jährlich zehn Millionen Euro kosten, während der Jugendstrafvollzug (oft für nichts und wieder nichts) jährlich dreihundert Millionen verschlingt (S. 233-235).