In Kooperation mit dem Surveillance Studies Blog veröffentlicht Criminologia Rezensionen von Bücher aus den Bereichen Überwachung & Kontrolle und Kriminologie.
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Titel: | Actor-Network Theory and Crime Studies: Explorations in Science and Technology | |
Herausgeber: | Dominique Robert & Martin Dufresne | |
Jahr: | 2015 | |
Verlag: | Ashgate Publishing | |
ISBN: | 978-1-4724-1712-1 |
Mit ihrem kürzlich veröffentlichten Sammelband ‚Actor-Network Theory and Crime Studies : Explorations in Science and Technology’ schicken sich die Herausgeber_innen Dominique Robert und Martin Dufresne, Kriminologin bzw. Kriminologe an der Universität von Ottawa (Kanada), an, eine der wichtigsten theoretischen Leerstellen der gegenwärtigen Kriminologie zu schließen: die Integration der Science and Technology Studies – wohlgemerkt: am alleinigen Beispiel der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) – in die (kritisch-)kriminologische Diskussion. Ebenso überfällig wie folgerichtig (nicht nur wenn man die enorme Rezeption seiner Werke in der Soziologie als Referenz nimmt) ist es ausgemachtes Ziel des Werkes, die intellektuellen Herausforderungen (vor allem) von Bruno Latour und die von ihm wesentlich mitgeprägte ANT für die kritische Kriminologie fruchtbar zu machen. Das analytische Potenzial der ANT sehen sie vor allem in drei ihrer Prinzipien: 1) In deren Betonung der Performativität des Sozialen, 2) in ihrer antihumanistischen bzw. artefaktemanzipativen Stoßrichtung und 3) in deren Fokussierung von menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten als relationale Entitäten, also in der assoziationssoziologischen Lesart der ANT (1).
Obgleich die bisherigen Versuche, die Science and Technology Studies in kriminologische Argumentationslinien zu integrieren, noch nicht als zahlreich zu bezeichnen sind und mit Sheila Brown‘s Aufsatz ‚The Criminology of Hybrids‘ lediglich ein programmatischer Artikel existiert, muss das Line-Up der Autor_innen enttäuschen: lediglich Katja Franko Aas konnte als einschlägig bekannte Wissenschaftlerin zur Teilnahme gewonnen werden – für ein äußerst knapp gehaltenes Vorwort. Alleine aus den Surveillance Studies hätte es viele Autor_innen gegeben, die formidabel in den Kontext des vorliegenden Sammelbands gepasst und sicherlich gewinnbringend agiert hätten, indessen vergeblich gesucht werden (um nur einige zu nennen: David Lyon, Irma van der Ploeg, Clive Norris, Daniel Neyland, Richard Jones). Die im Werk versammelten Verfasser_innen sind demgegenüber weitgehend unbekannt (in der Mehrheit aus dem frankophonen Raum) und bislang nicht einschlägig in Erscheinung getreten, was zugegebenermaßen für die Qualität des Bandes selbst zunächst nicht zwingend Voraussetzung ist. Allerdings fehlt es gerade deshalb auch an programmatischer Reichweite und nur wenige Beiträge kommen über die Beschreibung von spezifischen Fallstudien hinaus. Neben dem Vorwort von Aas und der Einleitung von Robert/Dufresne finden sich insgesamt neun inhaltlich-analytische Aufsätze, die – und das ist eine wesentliche Stärke des Buchs, sehr unterschiedliche Aspekte der durchaus recht voluminösen ANT Latourscher Prägung aufnehmen und für die Kriminologie konstruktiv nutzbar zu machen versuchen. Dabei ist ist das Buch in drei „reading keys“ (sie sollen explizit nicht als Abschnitte verstanden werden) (3) unterteilt: der relationale Ansatz (dazu werden die Beiträge von Douillet/Dumoulin, Lam, Moreau de Bellaing und Demant/Dilkes-Frayne gezählt), die Interaktion zwischen Menschen und Nicht-Menschen (Moore/Singh, Moreau de Bellaing, Douillet/Dumoulin, Demant/Dilkes-Frayne) und die Produktion von Fakten und Wissenschaft (Dufresne, Mopas, Robert/Dufresne, Moore, Renard, Lam, Demant/Dilkes-Frayne).
Von Aas‘ Vorwort hätte man sich, wenn man ihre doch zahlreichen einschlägigen Aufsätze als Referenz nimmt, deutlich mehr erwartet: Auch für ein Vorwort, dessen genuine Aufgabe ja keine analytische ist, ist der inhaltliche Gehalt ziemlich dünn, und die kurze thematische Kontextualisierung, die wiederum u.a. als Kernaufgabe eines solchen Vorworts verstanden werden kann, die sie vollzieht, greift m. E. zu kurz. Bezeichnend ist, dass sie den bereits oben genannten Beitrag von Brown, immerhin der bisher einzig programmatische zum Thema, gänzlich unerwähnt lässt. Auch ohne diesen Verweis kommt sie aber zu dem völlig korrekten Schluss, dass die Kriminologie die ANT viel zu lange vernachlässigt hat und letztere darüber hinaus eine theoretische Herausforderung für erstere darstellt (ix). In diesem Zusammenhang hätte man sich einen Hinweis insbesondere auf den Labeling Approach gewünscht, der mit den auch als postkonstruktivistisch bezeichneten Überlegungen Latours erhebliche Differenzen aufweist und bereits in seinen Grundfesten mit diesen im diametralen Gegensatz steht (Stichwort: Chicken Debate). Wichtig ist auch Aas‘ Hinweis auf die Dringlichkeit der Integration der ANT auf Grund der zunehmenden technischen Mediatisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit (x). Dies gilt auch für ihren treffenden Verweis auf kontemporäre Politiken der Sicherheit, die mit ihren präemptiven Rationalitäten auf den Rückgriff auf technologische Verfahren dringend angewiesen sind und von diesen präformiert werden (xi).
Das einleitende Kapitel von Robert und Dufresne kann den Worten von Aas, abgesehen von der Darstellung der inhaltlichen Strukturierung des Bandes, wenig hinzufügen: Auch sie betonen die dringende Notwendigkeit, die ANT in kriminologische Debatten zu integrieren; auch sie betonen, dass die Integration längst überfällig sei (1); auch sie beschreiben die genuin soziotechnische Verfasstheit gegenwärtiger Sicherheitspolitiken (2). Allerdings bieten sie im Gegensatz zu Aas eine prägnante und durchaus treffende Übersicht über die Kernthesen von Latour die oben bereits vorgestellt wurden.
Die Studie von Jakob Demant und Ella Dilkes-Frayne fokussiert auf Strategien der situativen Kriminalprävention im Nachtleben und die These, dass die ANT eine fruchtbare Ergänzung zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Situation, Kriminalität und Präventionsmaßnahmen, am Beispiel Drogenkonsum und Gewalt im Nachtleben, darstellt. Dabei schauen sie sich einerseits die Nutzung von Drogenspürhunden bei einem Musikfestival an, andererseits die Zutrittsregulierung in Nachtklubs per Türsteher („doorwork“) (6). Sie kommen zu dem nachvollziehbaren und adäquaten Schluss, dass das bisherige theoretische Fundament der situativen Kriminalprävention unfähig ist, den komplexen Charakter der Herstellung und Reaktualisierung von Situationen und deren Einfluss auf die Weiterentwicklung der entsprechend situativ verhandelten Elemente zu erkennen (16). Die ANT, so schließen sie, würde den flexiblen Charakter der beteiligten Entitäten (menschlich wie nicht-menschlich) betonen, die Wichtigkeit der situativ konstituierten Zusammensetzung („assembling“) und damit die Beziehung zwischen den Entitäten hervorheben, was sie als geeignetere theoretische Basis für Ansätze situativer Kriminalprävention ausweist als die Rational Choice-Theorie, die bis dato in diesen Zusammenhängen gemeinhin bemüht wird (16).
Der Beitrag von Anne-Cécile Douillet und Laurence Dumoulin versucht demgegenüber, die Vorteile der Nutzung der ANT im Rahmen der Analyse von CCTV-Maßnahmen aufzuzeigen. Um genauer zu sein geht es ihnen um die Frage nach den zugrunde liegenden Prozessen der Förderung der Nutzung und Ausweitung von CCTV-Systemen. Die ANT halten sie insbesondere mit Blick auf ihre frühen Studien, die der Innovationsforschung zuzurechnen sind (klassisch: Callon‘s Kammmuscheln in der Bucht von St. Brieuc, seine Studie zum Elektroauto oder auch Latour‘s Analyse von Aramis) (22). Ihre Untersuchung stellt sich konkret die Frage, auf welche Weise sich CCTV in Frankreich verbreitet hat. Dabei verstehen sie CCTV völlig zu Recht als „socio-technical system“, was impliziert, dass das technische Objekt nicht von den Interessensvertretern und -vertreterinnen, die es produzieren, unterstützen und kaufen, zu trennen ist (22). Dabei kommen sie zu dem überzeugenden Ergebnis, dass die ANT eine neue Perspektive für die Analyse von public policy bereitstellt, da auf diese Weise die Rolle von Objekten in der konkreten politischen Gestaltung nicht nur registriert, sondern auch zum analytischen Thema gemacht werden kann (31). Ferner macht es die ANT möglich, Objekte als nicht zwangsläufig neutral oder transparente Gegenstände zu sehen, die sich dem menschlichen Willen widerstandslos fügten: „(t)hey do frame action and activities“; they partly shape and constrain human action“ (31).
Martin Dufrense wagt sich ins Feld der biosozialen Kriminologie („biosocial criminology“) und macht unter Rückgriff auf die klassischen wissenschaftssoziologischen Arbeiten Latour’s und der in diesem Rahmen formulierten Soziologie der Übersetzung die gesellschaftlichen Praktiken hinter biokriminologischen, laborgebundenen Arbeiten zum Thema. Die Thesen letzterer versteht er grundlegend als rhetorische Angebote („propositions“), die in einem Prozess von Kontroverse und Akzeptanz verhandelt werden (37). Diese Forschungsstrategie exerziert er beispielhaft an der Theorie vulnerabler Gene („vulnerability gene hypothesis“), die von einem kausalen Zusammenhang zwischen Erbgut, Umgebung und individuellem Verhalten ausgeht (38). Dufresne‘s Ziel ist anhand dessen die Rekonstruktion der Transformation eines biologischen und gesellschaftlichen Gegenstand in ein wissenschaftliches Faktum („scientific fact“) (38). Im gelingt es überzeugend und anschaulich, einige der unzähligen kleinen Transformationsschritte aufzuzeigen, die dem Übersetzungsprozess von einer These zum Faktum, welches dann als solch präsentiertes in wissenschaftlichen Journalen landet, zu Grunde liegen und damit auch die Beschreibung der gesellschaftlichen Praktik namens Wissenschaft.
Anita Lam thematisiert in ihrem Beitrag „Making Crime Messy“ eine Neutheoretisierung von Kriminalität selbst, indem sie anknüpfend an das akutelle Werk von John Law eine Verlagerung von epistemologischen zu ontologischen Anstrengungen vollzieht (52f.) und Kriminalität wie folgt verstanden wissen will: „as an object handled by various practices“ (51). Damit verbindet sie Multiplizität (inspiriert von Annemarie Mol), mit dieser wiederum Komplexität und Unordnung („messiness“). Am Beispiel des sogenannten Lucky Moose-Falls (Lucky Moose ist eine Lebensmittelmarkt-Kette), der sich 2009 in Toronto zugetragen hat und in dessen Rahmen ein Shopbesitzer einen Ladendieb fesselte und bis die Polizei eintraf in einem Van festsetze, verdeutlicht sie, wie die postulierte metatheoretische Verlagerung auszusehen hat: der epistemologische Ansatz des interaktionistisch-konstruktivistischen Ansatzes, der von unterschiedlichen, gesellschaftlich bedingten Perspektiven auf eine einzige Welt ausginge, solle ersetzt werden durch einen ontologischen Ansatz, der die Multiplizität von Realitätsinterpretationen nicht auf Grund von unterschiedlichen gesellschaftlichen Perspektivierungen versteht, sondern gerade als Folge der Multiplizität der Realität selbst (52). In dem Fallbeispiel wird sodann analysiert, wie im Rahmen der Gerichtsverhandlung um den Ladenbesitzer, der der Körperverletzung und des Freiheitsentzuges beschuldigt wurde, der Gegenstand Kriminalität durch juristische Praktiken (re)produziert wird. Was der Autorin dabei besonders gut gelingt, ist die Rekonstruktion der spezifischen Konstruktionsleistungen, die die unterschiedlichen beteiligten Akteure (u.a. Polizei, Gericht, Verteidigung, Politik) jeweils erbringen und wie es zu einer Stabilisierung des heterogenen Objekts Kriminalität kommt. Ihre Verweise auf die Arbeiten von Mol und Law geraten dabei allerdings zu kurz, so dass das nicht ganz einfache Konzept von der Komplexität und Multiplizität von Realität nicht in Gänze verständlich wird.
Das folgende Kapitel von Dawn Moore und Rashmee Singh klopfen die ANT anhand der Analyse von Bildern, die gewalttätige Übergriffe gegen Frauen zeigen, auf ihr feministisches Potential ab. Was machen diese Bilder, fragen sich die beiden, welche Effekte haben sie? Um dies vorweg zu nehmen: sie kommen zu dem Schluss, dass die ANT die feministischen Theorie erweiternde Perspektiven beizubringen vermag. Am Beispiel eines Fotoessays von Sara Lewkowicz und des Falles von Retaeh Parsons, deren Missbrauch im Internet über Bilder dokumentiert und verbreitet wurde und die sich schließlich das Leben genommen hat, stellen die Autorinnen nachvollziehbar dar, welche Netzwerke sich rund um Bilder von Gewalt gegen Frauen bilden. Diese Netzwerke erschöpfen sich dabei keineswegs in der Aufdeckung patriarchaler Strukturen. Statt einer solch strukturalistischen Herangehensweise gilt es die unzähligen Faktoren zu entschlüssen, die eine Rolle spielen wenn Gewalt gegen Frauen visuelle porträtiert und solche Bilder interpretiert, also gesellschaftlich verarbeitet werden (77f.).
Ein dem Spätwerk Latour’s zuzuschreibender analytischer Topos wird von Michael Mopas genutzt: ‚from matters of fact to matters of concern‘. Damit will Mopas die Probleme analysieren, die kritische Kriminologen und Kriminologinnen haben, wenn sie sich mit ihren Forschungsergebnissen an die breite Öffentlichkeit wenden wollen. Mit der ANT will er sodann analysieren, wie sich jene Forschenden, die sich als ‚public criminologists‘ verstehen, die Öffentlichkeit zu mobilisieren versuchen (83). Dabei bedient er sich der von der ANT propagierten Übersetzungssoziologie („sociology of translation“) (86). Auf die wissenschaftliche Praxis bezogen bedeutet dieses Konzept, Wissenschaftler_innen als ‚fact-builder‘ zu verstehen, die im Zuge des Stabilisierungsprozesses wissenschaftlicher Tatsachen verschiedenartige menschliche und nicht-menschliche Akteure mobilisieren und für ihre Zwecke einzuspannen versuchen. Genutzt werden sollte diese Idee von wissenschaftlicher Praxis laut Mopas als Instrument der kriminologischen Selbst-Reflexion: Statt die Öffentlichkeit zu mobilisieren und für die eigenen Forschungsthesen zu begeistern versuchen, sollte es die Aufgabe der sich als ‚public criminologists‘ verstehenden Forschenden sein, einen öffentlichen Dialog zu ermöglichen und voranzutreiben (96).
Cédric Moreau de Bellaing wiederum fokussiert in seinem Beitrag ein spezifisches technologisches Artefakt: die Elektroschockpistole, auch als Taser bekannt. Es geht dabei genauer um einen in Frankreich angesiedelten (Rechts-)Streit zwischen dem Politiker Olivier Besancenot und dem Taser-Produzenten SMP Technologies. Letztere verklagte ersteren 2007 auf Rufschädigung, da er mehrmals ihre Produkte diffamiert habe. Taser werden vor allem als nicht-tödliche Verteidigungswaffen vermarket, so auch von SMP Technologies („factor for civil peace“, 98). Besancenot hat die Nicht-Letalität der Waffen öffentlich in Frage gestellt. Zwar hat das Gericht die Klage abgewiesen, über die eigentliche inhaltliche Frage hinter der Anklage, ob ein Taser tödlich sein kann oder nicht, hat es indes nicht entschieden. Damit ist dieser Fall laut Autor interessant für eine Soziologie der Kontroversen („sociology of controversies“, 100), denn es wurde ein diskursives Feld geöffnet, über die politische und technische Eigenarten des Tasers zu debattieren. So hat das Conseil d’État 2010 die Klassifizierung des Tasers als Kategorie IV-Waffe, die nur an die Polizei verteilt werden darf, aufgehoben – womit allerdings deren offener Verkauf nicht erlaubt wurde. Damit begann aber eine Diskussion, samt technischer Gutachten etc., um die Ausstattung auch der kommunalen Kräfte mit Tasern, in deren Rahmen es um die Deutungshoheit um die ‚Natur‘ des Tasers ging: tödliche Waffe oder nicht-letales Friedensinstrument? Moreau de Bellaing zeichnet mit Rückgriff auf die ANT schlüssig nach, welche Akteure an solchen Interpretationsprozessen beteiligt sind und wie sie allesamt die allgemeine Definition der eigentlichen Natur des Taser-Artefakts dominieren wollen. Damit zeigt sich prägnant die Schlüssigkeit der These, dass Artefakte immer auch sozial konstituiert sind, wenn ihnen gesellschaftliche Funktionen anvertraut werden bzw. sie Gegenstand gesellschaftlicher Diskurse werden.
Bertrand Renard untersucht Praktiken der genetisch-forensischen Analyse in Belgien und wendet dabei das alte methodische Diktum der ANT an: ‚following the actors‘ (seien sie nun menschlich oder nicht-menschlich) – indem er der DNA-Spur am Tatort bis in den Gerichtssaal folgt (113). Diesen, auch als Übersetzung bezeichneten Prozess teilt er in drei wesentliche Bereiche auf: jenen Zeitpunkt, als die DNA-Analyse als Idee in den juristischen Kontext eingeführt wurde, die technische Arbeit selbst, also den Weg vom Tatort zum Gutachten, und schließlich die juristische Arbeit, also die gerichtliche Bewertung und Bearbeitung des Gutachtens (114). Unter Rückgriff auf das klassische ANT-Vokabular (z.B. Aktanten, Aktionsprogramm, Vermittlung) beschreibt Renard zwar sehr knapp aber durchaus überzeugend, was passiert, wenn DNA-Spuren als neue Aktanten in den juristischen Kontext eingeführt werden, welche Effekte damit verbunden sind und welche Assoziationen gebildet werden. Er schließt mit der Feststellung von der Wichtigkeit der kriminologischen Aufgabe, die Kriminalistik verstärkt zum Gegenstand ihrer Analyse zu machen (was freilich durchaus schon, qualitativ hochwertig überdies, der Fall war, man denke z.B. an Simon Cole oder Michael Lynch).
Das letzten Kapitel markiert das herausgebende Gespann selbst, Dominque Robert und Martin Dufrense. Sie stellen Latour’s Konzept vom ‚factish‘, der begrifflichen Kreuzung von fact und fetish (131), in den Mittelpunkt ihrer Frage, wie Techniken der genetischen Identifizierung von der Wissenschaft in Richtung Politik beschrieben und erklärt werden (127). Und zwar am Beispiel einer Ansprache des Chefwissenschaftlers der Nationalen DNA-Datenbank von Kanada vor dem Rechtsausschuss des kanadischen Senats anlässlich des Gesetzgebungsverfahrens zur Einführung einer nationalen DNA-Datenbank (132). Sie wollen beschreiben, wie der Wissenschaftler DNA-Verfahren beschreibt und ihren Nutzen ausführt. Damit wollen sie den Prozess rekonstruieren, wie aus „matters of concern“ „matters of fact“ werden („fabrication of factishes“). Sie nutzen dabei drei methodische Schritte: sie analysieren die Rede nach den Textstellen, die Pronomen wie ‚wir‘ oder ‚uns‘ beinhalten oder Adjektive wie ‚unser(e)‘; sie suchen nach Textstellen, in den Natur und Kultur getrennt und wieder zusammengefügt werden; sie versuchen die Variabilität des interpretativen Repertoires aufzuschlüsseln, mit dem die Vermischung von gründlicher und harter Arbeit und die Verblüffung, die von den vorgefundenen Resultaten stammt, dargestellt wird („we illustrate the blend of rigorous hard work and the amazement stemming from discoveries encountered“, 132). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Argumente des Wissenschaftlers gerade deshalb robuster werden, weil er Assoziationen mit zahlreichen sozialen (z.B. Zukunft der Gesellschaft) und natürlichen (z.B. die Natur spricht, über die Körper der Betroffenen, für sich selbst) Entitäten herstellt. Es bleibt dabei allerdings unklar, warum die ausgewählte Anhörung als zentral bzw. repräsentativ für den gesamten Übersetzungsprozess verstanden werden kann, was die Nachvollziehbarkeit der Vorgehensweise etwas schmälert.
Zeit für ein Gesamtfazit: Was der Band auf Grund der kurzen Einführungskapitel und der zumeist auf Fallstudien beruhenden Beiträge völlig vermissen lässt, ist der Versuch, die bisherigen kriminologischen Forschungsanstrengungen zu untersuchen, die sich mit der ANT und den Science Studies im Allgemeinen auseinandersetzen. Zum Forschungsstand wird im Prinzip nichts gesagt, von den knappen (obgleich weitestgehend zutreffenden) Pauschalurteilen zu Beginn abgesehen. Damit hätten die Herausgeber_innen doch gerade auf diese Weise zu dem mit der Veröffentlichung des Bandes verfolgten Ziel, die nachhaltige Etablierung einer techniksoziologischen Perspektive in der kritischen Kriminologie, substanziell beitragen können. Damit bleibt es auch bei einem fraglos informativen, aber eben auch kursorisch verbleibenden Überblick über die verschiedenen Anwendungspotenziale der ANT innerhalb kriminologischer Analysen, ohne die theoretischen Herausforderungen, die im Vorwort explizit angesprochen werden, tiefgründiger zu beschreiben (eine reine Deskription hätte ja tatsächlich schon ausgereicht). Ein zusammenfassendes, theoretisch informiertes Kapitel am Ende hätte dem Band diesbezüglich sehr gut getan. Deshalb bleibt zu schließen, dass das Buch von Robert/Dufresne zwar ohne Zweifel mit Gewinn zu lesen ist, aber nur einen Bruchteil des Potenzials sowie der Provokationen, die von der ANT für die (kritische) Kriminologie ausgehen, zu beleuchten im Stande ist.
Simon Egbert, Hamburg