Den Film, der jetzt im Hamburger Abaton-Kino anläuft und auf den Christian Wickert in diesem Blog schon am 16. Mai hingewiesen hatte (weshalb dieser Beitrag hier als Beyond Punishment II firmiert), kann man leicht verpassen. Es sind nur wenige Vorführungen geplant. Und jenseits des Grindelviertels scheint sich in der Millionenstadt Hamburg kein weiteres Lichtspieltheater für diesen bereits mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichneten Dokumentarfilm zu interessieren.
Es wäre schade, wenn das so bliebe. Denn der Film von Hubertus Siegert behandelt zwar auch Kriminalfälle, geht das absolute Lieblingsthema der deutschen Fernsehunterhaltung aber radikal anders an als die üblichen Filme etwa über große Kriminalfälle, die fürchterlichsten Serienmörder oder als Navy CSI, CSI Miami, CSI New York und Tatort.
Hier steht nicht der Kampf Gut vs. Böse im Mittelpunkt, nicht die Suche nach dem Schuldigen und der Triumph der Ermittler, sondern das, was Tötungsdelikte jenseits der Auslöschung eines Menschenlebens (in der Gefühls- und Gedankenwelt von Hinterbliebenen ebenso wie in derjenigen der Täter) anrichten. Das Opfer eines Mordes ist ja nicht nur der getötete Mensch. Opfer sind auch die Verwandten, die Freunde und der weitere Sozialraum – und in diesem Film wird auf ebenso behutsame wie bewegende Art versucht, dieses Feld von Verwüstungen und Verstörungen, von Hilfsbedürftigkeit, Orientierungsverlust, Traumatisierung und einem Strudel stärkster widersprüchlicher Bedürfnisse zu vermessen.
Bewegend ist in diesem Film immer wieder die verzweifelte Lage der Hinterbliebenen zwischen bittersten Gefühlen gegenüber dem Täter einerseits und dem intensiven Bedürfnis, endlich Frieden zu finden – einen emotionalen Abschluss und damit die Möglichkeit, wieder nach vorne zu blicken und das eigene Leben zu leben. Unweigerlich drängt sich dabei die Figur des Täters in die Gedanken und Gefühle der Opfer – wie ein böses Gespenst, das zu verscheuchen einfach nicht gelingen will und das von negativen Emotionen wie Rachephantasien auch nur noch weiter am Leben gehalten wird. Letztlich könnte wohl nur eine Art Versöhnung zwischen Opfern und Tätern (die mit ihren eigenen Gespenstern kämpfen) für alle Beteiligten die ersehnt closure bringen.
Versöhnung nach Tötungsdelikten aber erscheint nicht allein wegen der Abwesenheit der Hauptperson paradox, sondern – davon abgeleitet – auch wegen der emotionalen Bande der Hinterbliebenen zu dieser Hauptperson. Welches Recht, welche Möglichkeit hat eine Hinterbliebene wie zum Beispiel Lisa, die Schwester des in der Bronx erschossenen 16-jährigen Darryl, dem Mörder ihres Bruders zu vergeben? Würde Vergebung nicht einem Verrat an Darryl gleichkommen? Die kurze Szene, in der ihr Versöhnungs-Bedürfnis und das Versöhnungs-Verbot in einem Moment der Verzweiflung aufeinanderprallen, gehört zu den anrührendsten des Films.
Dennoch ist der Film nie rührselig. Er ist nüchtern und sachlich – und er zieht Zuschauer nicht durch verblüffende Lösungen, sondern gerade dadurch in seinen Bann, dass er Wege zur Überwindung der Aporien und Traumata erfragt und andeutet, unterstützend zu suchen hilft – und doch immer wieder neue Hindernisse und verpasste Gelegenheiten zu vermelden hat. Er überzeugt am meisten in der Schaffung von Empathie und in der Darstellung des Leidens, das durch Straftaten gegen das Leben in die Welt kommt und das auch durch die Bestrafung der Schuldigen nichts von seiner zerstörerischen Wirkung auf die Seelen von Opfer verliert. Auch die Täter leben mit Schuld, Angst, Wut, Hilflosigkeit – und die für manche Menschen schuldgefühlreduzierende Wirkung der Strafe (Sigmund Freud) erfüllt jedenfalls nicht die Träume ihrer Erfinder. Sie wirken ratlos, gequält von Phantasien über das Bild, das die anderen von ihnen haben – isoliert und verloren. Vor allem: hilfsbedürftig.
Der Film überzeugt darin, eindringlich die Bedeutung und das Potential, aber auch die Schwierigkeiten von Schritten zur Aussöhnung jenseits der staatlichen Strafe bewußt werden zu lassen. Es gibt viele Aspekte der Vergeblichkeit in diesem Film, und es erscheint zunächst schwer erklärlich, warum er trotzdem in der Lage ist, Sympathien für die Idee der Restorative Justice zu wecken. Des Rätsels Lösung lautet wohl: immer wieder ahnt man – und gelegentlich wird es auch ausgedrückt (etwa von dem norwegischen Vater Erik, der nur sehr indirekt mit dem Eifersuchts-Mörder seiner Tochter Ingrid-Elisabeth kommuniziert und das Angebot zu einem Treffen letztlich ausschlägt) – dass ein hilfreich begleiteter Prozess des Nachdenkens über Versöhnung auch schon als solcher in der Lage sein kann, einen Teil der Last von den Schultern zu nehmen, dass eine Ahnung von Erlösung also auch schon auf der Wegstrecke selbst möglich ist, schon lange vor dem Ziel.
Wie lang und schmerzhaft, aber auch wie wichtig und wie wohltuend ein Prozess der Annäherung zwischen Täter- und Opfer (-Familien) sein kann, das zeigt übrigens das Beispiel der Familien des Bankiers und RAF-Opfers Jürgen Ponto und der RAF-Attentäterin, seiner Patentochter Susanne Albrecht. Das Buch „Die Patentöchter: Im Schatten der RAF. Ein Dialog“ von Julia Albrecht und Corinna Ponto (2011) und die TV-Dokumentation „Die Folgen der Tat“ (WDR, 2015) wären eine fruchtbare Ergänzung der drei Fälle und der Thematik, die Hubertus Siegert in „Beyond Punishment“ so meisterhaft erschließt.
Beyond Punishment wurde übrigens kurz vor seinem Kino-Start in verschiedenen Gefängnissen gezeigt. Bei der Filmvorführung in der JVA Lübeck fiel mir dreierlei auf:
erstens der ebenso verblüffende wie überzeugende Hinweis eines wegen Totschlags verurteilten Gefangenen, dass das, was in dem Film als wünschbares und notwendiges Reflexions- und Kommunikationsverhalten dargestellt wurde, nicht nur nach Straftaten, sondern auch schon in der normalen Alltagswelt ebenso schwierig wie selten und doch wohltuend und notwendig sei – auch im normalen Alltagsleben gäbe es doch Verletzungen und die Notwendigkeit der Aussöhnung, und vielleicht resultierten viele Gewalttaten aus dem Mangel an Restorative-Justice-Prozessen im Verlaufe alltagsweltlicher Eskalationsprozesse
zweitens die Diskussion um Schwierigkeiten, die sich durch Restorative Justice im Strafvollzug ergeben könnten: das System Gefängnis lade förmlich dazu ein, dass Gefangene sich nur pro forma für derartige Programme interessieren würden, im Hinterkopf immer mit dem Gedanken an eine frühere Entlassung auf Bewährung
drittens die vorauseilende Beschwichtigung möglicher Einwände gegen eine Einführung tatfolgendausgleichender Maßnahmen und Programme im Strafvollzug durch die Anstaltsleitung: der Allgemeine Vollzugsdienst brauche sich keine Sorgen zu machen, dass jetzt schon wieder neue Änderungen eingeführt würden – es handele sich nur um wenige Teilnehmer und keine grundstürzenden Neuerungen.
Dieser letzte Punkt erinnerte mich an die Warnung von Nils Christie aus dem Jahre 2009 (Restorative Justice – Five Dangers Ahead) vor den Deformationen und den großen Risiken, die sich aus einer bürokratischen Aneignung und Verwässerung der eigentlich revolutionären Gedanken der Restorative Justice ergeben könnten. Doch dazu vielleicht ein andermal mehr.