Vom 09.-11. September 2015 findet an der Humboldt-Universität zu Berlin „Die Versprechungen des Rechts“ – Dritter Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen statt.
Recht soll soziale Beziehungen regeln, Handlungen anleiten und Erwartungssicherheit schaffen. Es soll Gerechtigkeit, Frieden und Wohlstand herstellen. Die Hoffnung scheint groß, ökonomische, politische und soziale Krisen globalen Ausmaßes mit Hilfe des Rechts in Regelungsprobleme zu transformieren und damit zu bewältigen. Doch diese Hoffnung mündet auch in Enttäuschung: Erkennbar sind die Grenzen des Strafrechts bei der Herstellung des inneren Friedens; der verwaltungsrechtlich organisierte Sozialstaat sieht sich wachsender Ungleichheit gegenüber; nach Systembrüchen stellt sich der formalistische Rechtsstaat statt der erhofften Gerechtigkeit ein; die soziale und wirtschaftliche Entwicklung bleibt trotz Rechtsreformen aus; statt der immer perfekteren Integration Europas durch Recht häufen sich die Probleme; das internationale Recht scheint vielfach machtlos bei der Bewältigung von Konflikten und Verteilungskämpfen.
Sind die Erwartungen zu groß, die an das Recht gestellt werden? Sind Rechtsordnungen und -institutionen nicht zu träge und rigide, und steht manchmal das Recht notwendigen Entwicklungen nicht im Wege? Werden gesellschaftliche Konflikte nicht viel zu oft dem Recht überantwortet, statt sie politisch und auf der Grundlage gesellschaftlicher Diskussionen zu bearbeiten und zu entscheiden? Oder werden die Versprechungen des Rechts durchaus auch eingelöst, wenn Sozialreformen umgesetzt, Institutionen verändert, Generationen- und Geschlechterbeziehungen umgestaltet werden?
Interdisziplinäre Forschungen zu Recht befassen sich seit langem mit den Erwartungen, die an das Recht gerichtet werden, und mit den Versprechungen, die das Recht macht. Die rechtssoziologische Wirkungsforschung untersucht die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, diese Versprechungen zu erfüllen. Die empirische Sozialforschung und anthropologische Studien erforschen, was sich die Menschen vom Recht erhoffen. Juristische, ökonomische und politikwissenschaftliche Analysen haben die institutionellen Strukturen und Akteure zum Gegenstand, die das Recht und die ihm entgegengebrachten Erwartungen repräsentieren.
Die dritte Konferenz der deutschsprachigen rechtssoziologischen Vereinigungen widmet sich den Versprechungen des Rechts. Wissenschaftler/innen aus allen Disziplinen sind eingeladen, ihre theoretischen Perspektiven und empirischen Forschungsergebnisse zum Konferenzthema vorzutragen und zur Diskussion zu stellen. Dabei geht es nicht darum, „falsche“ Versprechungen des Rechts zu entlarven. Der Fokus liegt vielmehr auf der Funktion der Versprechungen des Rechts für die Entstehung, Veränderung und Wirkung des Rechts.
Die Konferenz ist in 14 thematischen Stränge (Tracks) gegliedert (siehe http://www.recht-und-gesellschaft.info/berlin2015/tracks.html).
Grundsätzlich kann jedes Thema mit interdisziplinärem Rechtsbezug innerhalb eines thematisch passenden Tracks oder im Track “General Papers” eingereicht werden. Beiträge, die inhaltlich Bezug auf das Konferenzthema nehmen, haben bei gleicher Qualität bessere Chancen, berücksichtigt zu werden. Vorschläge für Vorträge oder ganze Panels/Sessions (mit bis zu vier Vorträgen) können ab sofort und bis zum 31.03.2015 ausschließlich online über ein Konferenzverwaltungssystem eingereicht werden.Mehr Informationen zur Konferenz finden Sie auf der Webseite: http://www.recht-und-gesellschaft.info/berlin2015. Kontakt: berlin2015@easychair.org
Die Veranstalter rufen dazu auf, Beiträge bis zum 31.03.2015 über folgende Webseite einzureichen: http://www.recht-und-gesellschaft.info/berlin2015/
Von den zwölf thematischen Tracks der Veranstaltung dürften dabei die beiden Panels zur Sicherheitspolitik und Wirtschaftskriminalität von besonderer kriminologischer Relevanz sein:
6. Wandel des Rechts im Zeichen der Sicherheit
Was wir unter Sicherheit verstehen, befindet sich in einem kontinuierlichen Wandel. In der jüngeren Vergangenheit dominiert dabei der individuelle Schutz vor Bedrohungen wie Kriminalität und Terrorismus und anderen Gefahren, der durch Strafrecht und öffentliches Recht hergestellt werden soll – bis hin zu einem „Grundrecht auf Sicherheit“ (Isensee). Diese Entwicklung lässt sich als Kolonisierung des Rechts durch Sicherheit interpretieren. Das Recht wird weniger als Abwehrrecht der Bürger vor staatlichen Zugriffen verstanden, sondern als Ermächtigungsrecht für vermeintlich notwendige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Lebensbereiche. Dabei stellen Prävention, Kontrolle und Risiko Schlüsselkonzepte dar.
Aktuelle Debatten über technisch vermittelte Kontrolle und Überwachung sind besonders von dieser Entwicklung geprägt. Dies gilt nicht nur für die rechtliche Umsetzung neuer technischer Möglichkeiten, sondern auch die nachträgliche Legitimierung staatlichen Sicherheitshandelns. So wird etwa über die Deutungshoheit über die massenhafte Datenerhebung, -auswertung und -weitergabe durch BND, NSA und andere Geheimdienste vor allem in rechtlichen Kategorien debattiert. Umgekehrt wird diskutiert, wie Technologien dazu beitragen können, Rechtsgüter zu schützen, etwa durch Privacy by Design oder durch Apps zur Dokumentation von Übergriffen durch Polizisten.
Der Track lädt ein zur Diskussion verschiedener disziplinärer Perspektiven auf die Kolonisierung des Rechts durch Sicherheit. Eingeladen sind Beiträge, die Aspekte des Themas aus rechtssoziologischer, politikwissenschaftlicher, technik- oder kulturwissenschaftlicher Sicht beleuchten oder derartige Ansätze zusammenführen. Besonders erwünscht sind Vorschläge für Formate wie Panels, Roundtables, Buchbesprechungen und Diskussionsveranstaltungen, die diese Felder interdisziplinär beleuchten und einen Schwerpunkt auf Diskussionen setzen. Fragestellungen können beispielsweise sein:
- Wie wird Recht von Sicherheitsinstitutionen genutzt, um kriminal- und sicherheitspolitische Interessen zu formulieren und durchzusetzen?
- Was bedeuten neuere Formen der Sicherheitsproduktion für die rechtlichen Bindungen im Straf- und Polizeirecht?
- Wie sehen die Entgegnungen des Rechts auf eine Kolonisierung durch Sicherheit aus und welches Potential wohnt ihnen inne?
- Welche Rolle spielen öffentliche Debatten und zivilgesellschaftliche Akteure in diesen Prozessen?
Leitung: Reinhard Kreissl (VICESSE), Andrea Kretschmann, Lars Ostermeier (VICESSE), Tobias Singelnstein (FU Berlin)
5. Recht in der Krise? – Wirtschaftskriminalität als besonderer Gegenstand strafrechtlicher Sozialkontrolle
Wirtschaftskriminalität hat sich zu einem der zentralen Gegenstände strafrechtlicher Sozialkontrolle entwickelt: besondere Institutionen werden geschaffen, spezialisierte Strafverfolger und Verteidiger treten auf, Lehrstühle und Kompetenzzentren werden eingerichtet und Lehrbücher geschrieben. Das Wirtschaftsstrafrecht ist damit prominentes Beispiel einer Ausdehnung des Strafrechts auf immer mehr Lebensbereiche und der Vorverlagerung wie auch Entformalisierung des strafrechtlichen Zugriffs. Aus kriminologischer Perspektive wird dabei manche Gewissheit verworfen: Wer vor wenigen Jahrzehnten die ungleiche Sanktionierungspraxis des Strafrechts kritisierte – und so mittelbar eine Kriminalisierung auch der Mächtigen forderte – sieht sich heute dem Vorwurf gegenüber, einem strafrechtlichen Expansionsstreben das Wort geredet zu haben. Wer umgekehrt Strafrecht vor einigen Jahrzehnten als sinnvolles Instrument sozialer Kontrolle verteidigte, beklagt sich heute über die Expansion.
Diese Entwicklung der Ausdehnung weist darauf hin, dass das Strafrecht als Mittel der Grenzziehung gegenüber unerwünschten Verhaltensweisen zunehmend auch in den Mittel- und Oberschichten zur Anwendung kommt. Zugleich ist offenbar, dass der strafrechtliche Zugriff damit nicht weniger selektiv und vermachtet verläuft. Zwar richtet er sich nicht mehr primär oder alleine gegen in der Unterschicht dominante Verhaltensweisen. Aber auch im Rahmen strafrechtlicher Sozialkontrolle im Wirtschaftsleben hängen Kriminalisierungsprozesse nicht vorrangig vom Unrechtsgehalt oder dem tatsächlichen Aufkommen bestimmter Formen abweichenden Verhaltens ab, sondern von Interessen und Macht, die über das Recht vermittelt werden. Während etwa Korruptions- und Amtsdelikte eine vergleichsweise große Rolle spielen, findet eine strafrechtliche Aufarbeitung der Wirtschafts- und Finanzkrise ebenso kaum statt wie eine strafrechtliche Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen im transnationalen Wirtschaftsleben. Das Versprechen des Strafrechts, die immense Macht der Ökonomie und die davon ausgehenden Bedrohungen zu kontrollieren, bleibt ein leeres.
Vor diesem Hintergrund eröffnen Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminologie ein überaus breites Panorama möglicher Themen und Fragestellungen:
- Wirtschaftsdelinquenz als neuerer Gegenstand ätiologischer Kriminalitätstheorien – Sind „Bankster“ und „Raubtierkapitalismus“ als Leitkategorien wirtschaftskriminologischer Forschung geeignet und rechtlich fassbar?
- Wirtschaftsstrafrecht als Forschungsgegenstand – Wie weit kann und darf strafrechtliche Sozialkontrolle reichen? Welche Bedeutung hat die gewandelte Funktionalität des Strafrechts in nationalen und transnationalen Kontexten?
- Neuere Formen der Sozialkontrolle zur Bearbeitung von Wirtschaftsdelinquenz – Wie sind Compliance, Whistleblowing & Co kriminologisch und rechtssoziologisch zu bewerten?
- Selektive Verfolgung von Wirtschaftsdelinquenz – Wie sind Zuschreibungsprozesse in diesem besonderen Bereich ausgestaltet? Welche Rolle spielen Mittel wie der „Deal“ und Möglichkeiten der Opportunitätseinstellung?
Leitung: Lars Ostermeier (VICESSE), Jens Puschke (Uni Freiburg), Tobias Singelnstein (FU Berlin)