I.
Die abendländische Kultur hat logisch zwingende Begründungen für moralische und ethische Gebote/Prinzipien hervorgebracht – siehe z.B. Kant in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (Kant 1977: 26) oder seinen Kategorischen Imperativ „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ (ebd. 51). Sie hat dabei jedoch das Leben lebendiger Menschen auf Begriffe reduziert, einen theoretischen Menschentypus entworfen, aber nie erhalten. Die Vorstellung vom idealisierten Guten, von „der Vernunft“ als Ausweis unserer geistigen Überlegenheit, zuallererst ein Trugschluss, der Schein einer herbei fantasierten Wirklichkeit. Er verleitet uns nur allzu unreflektiert zu der Annahme, dass das Ausagieren von z. B. Aggressivität kein Konstitutiv des Menschen mehr sei, sondern etwas anderes, etwas Pathologisches vielleicht… Destruktivität ist aber eine menschlich Eigenschaft; sie ist u. a. der symbolische Platzhalter des Bösen; sie tritt aber auch für die ungeheure potentia des Lebens in Erscheinung; sie ist das Andere der Vernunft, das in den kommunikativen Beziehungen tradierte Sinnwelten aufspaltet und neue entstehen lässt.
In der zwanghaften Bemühung des Kulturmenschen, jede Art von Destruktion mit den Argumenten der Vernunft und der von ihr ableitbaren Moral beseitigen zu wollen, verfällt er in einen Zustand der Ohnmacht und verdorrt in der Alltäglichkeit des domestizierten Lebens zu einem nahezu kontrastlosem Subjekt ohne Vitalität. Seine verkümmerten Eigenschaften sind zu einem Ausdruck moderner Beliebigkeit verkommen, aufgelöst in allgemeiner Moral, organisierter Betriebsamkeit und bloßer Existenz. Er wendet verängstigt seinen Blick ab vom eigenen Spiegelbild, das ihn in einem Moment des Affektes mit einer hässlich-grotesken Dringlichkeit daran erinnert, dass sein Leben eine Schaumschlägerei, ein Maskenspiel, eine Varieténummer ist, ohne Chance auf Befreiung aus dem Kerkersystem Kultur. Die intellektuelle Redlichkeit ist in diesem Szenario der Zeigefinger einer aufgeklärten Zivilgesellschaft, mit dem in einer ernüchternden Unaufgeregtheit die Grenze zwischen dem moralisch Wertvollen und dem Ungehörigen besiegelt wird. Alles Unmoralische wird so zu einem Bild des Bösen verklärt, obgleich es ihn, den Menschen, doch eigens konstituiert.
Eine Versöhnung des Gegensatzes von moralischer Disziplinierung und dem Willen zur Destruktion/Unterdrückung/Triebdurchsetzung ist weder denkbar noch wünschenswert, aber in dem Bemühen um die Anerkennung des Menschen als ein geformtes, verbogenes, definiertes und unterdrücktes Wesen und in der Bejahung der eigenen Unvollkommenheit wird der Blick frei für die außermoralischen Seinsweisen des zivilisierten Hausmännchens. Kein Zufluchtsort für verängstigte Geister, vielmehr ein Ort der Verneinung alles Vorbestimmten, der nichts ein- oder ausschließt und somit die Voraussetzung für die Anerkennung aller zwanghaft ausgeblendeter Gestaltungsformen menschlicher Ausdrucksweisen ist – auch die faktische Brutalität in der Unmittelbarkeit der körperlichen Begegnung. Die Bereitschaft zur Unvernunft, die Bewilligung der Konfrontation löst den Gedanken und die Handlung aus dem eintrainierten Bedeutungszusammenhang heraus, die Einheit von Identität und Common Sense bricht auf, so dass die schöpferische Kraft sich auf einer weißen Leinwand mit neuen Farben zur Gestalt bringen kann. Dieser Moment ist mit dem unendlichen Ganzen, der Umfassenheit des Möglichen gefüllt. Affekt und Intellekt verschmelzen zu einer Expression des Menschseins par excellence. In ihr wird die Freiheit zum Ausdruck gebracht – Angst, Überlegenheit und Macht ebenso wie Mitgefühl und Solidarität.
Was aber machen wir? Wir verkriechen uns von vornherein unter die Decke des Gesetzes, suchen Schutz unter dem Dach der „vernünftigen“ Gemeinschaft, werden zu ängstlichen Gemütern und versuchen verzweifelt mit dem Pathos des Heiligen Geistes die Banalität und Brutalität des Lebens selbst auszublenden – dagegen hilft aber kein Gesetzbuch oder Verdikt der Vernunft. Durch die Akzeptanz des Bösen erschließt sich das Denken einen Horizont, der nicht primär die überkommene Moral festigt, sondern die Bedingungen unter denen es (das Böse) gesellschaftlich hervorbricht, offenlegt und gleichzeitig den Freiraum menschlicher Empfindsamkeiten, Bedürfnisse, Triebhaftigkeiten, Kreativität bis ins Unbekannte ausdehnt – kein Freibrief für Grausamkeiten, nur ein Plädoyer für eine (zumindest teilweise) Dekonstruktion einer unzeitgemäßen Moral. Die Existenz sozial unverträglicher Verhaltensweisen begründet selbstredend einen moralischen Kodex zur Aufrechterhaltung der Freiheit im Gefüge einer lebendigen Gemeinschaft, seine Substantialität und Verbindlichkeit muss sich jedoch notwendig von der conditio humana herleiten lassen. Wir aber suchen fortwährend nach Gründen, zu allermeist dem Repertoire aufgeklärten Denkens entsprungen, und geeigneten Zwangsmitteln dafür, die Menschen zu züchtigen, sie in überzogene Zwangskorsetts zu schnüren, anstatt danach zu schauen, wie er ist, wie viel Unmenschlichkeit, Dissozialität und Umtriebigkeit sein Sein tatsächlich bestimmt. Der Mensch kann de facto nur so böse sein, wie es ihm die Moral der Gesellschaft verstattet in Erscheinung zu treten – und das ist mehr als erträglich.
II.
Es besteht eine ungeheure Diskrepanz zwischen den universell wirkenden und normativ bindenden Kollektivvorstellungen über die Richtigkeit sowie Güte individualisierter Lebensgestaltung einerseits und den divergierenden Grundbedingungen ihrer faktischen Einlösung andererseits. Unsere christlich-abendländische Wertegemeinschaft, die ihre Doktrinen, getränkt aus humanistischen und asketischen Idealen, von Generation zu Generation in die geformten Schädel einer aufgeklärten Zivilgesellschaft einimpft, hat sich den Blick durch die Hand des normativen Zwangs selber dafür verstellt, was sich jenseits des Normierungsprozesses von Mensch und Natur verbirgt. Die Einzigartigkeitsentwürfe jeder einzelnen Figur im Kabinett der großen Einheitstheorie, der übergroßen Metaerzählung vom vernünftigen Menschen, sind als Abbilder einer beherrschenden Wirklichkeitsordnung zu verstehen, die die Subjekte durch die Vorstellung ihrer Individualität und Freiheit systemkompatibel stabilisieren. Das Leben wird als Notwendigkeit gedeutet, die Norm-, Werte-, Ordnungs- und Regelstrukturen im Kontext ihrer historisch vorgeprägten Überlieferungen als Bestandteil des Menschseins selber und somit auch als Garant für eine funktionierende Sozietät anzuerkennen bzw. als die einzig zu bejahende Wirklichkeit auszudeuten. „[…] der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und wirkt als Wesen! (Nietzsche 1973: 98).
Die stilisierte Individualität als Agens der Freiheit birgt in sich ein zwangsnormiertes Kollektivbewusstsein, das an der sichtbaren Oberfläche in einer gleichbleibenden Reproduktionstätigkeit die Stabilität und Gleichschaltung des Systems aufrechterhält, während es in seiner existentiellen Unmittelbarkeit einer Welt gegenüber treten muss, die an den Grenzregionen der Normalität die jetzt sichtbar werdenden Formen menschlicher Seinsweisen durch Differenzen zum Vorschein bringt. Was es jetzt sieht, ist die andere Seite der gezügelten Natur, ein zu verneinendes Reich urwüchsiger Selbsterhaltungskräfte, die sich durch das Craquelé der rissig werdenden Fassaden gesellschaftlicher Diszipliniertheit zur wahrnehmbaren Geltung bringen. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Moralrichter vermöge ihrer Definitionsmächtigkeit alles unter dem Gesetz der guten Menschen subsumieren, ohne dabei auch nur für einen Wimpernschlag auf die Diversität der Lebensbedingungen und der ihnen gemäßen Lebensgestaltungen in Rechtfertigungszweifel zu geraten. Die Moral ist für alle bindend und ihr Ursprung ist auf den Steinen der ewigen Kirche unwiderruflich geschrieben. Worüber also noch sinnieren, wenn doch bereits alles eindeutig vor uns liegt?
Ist das die Wahrheit der Dinge? Sollen wir, müssen wir also die gute Tat, die richtige Handlung mit derjenigen in Einklang bringen, die die Majorität als eine solche vorbestimmt? Wir müssen, denn: „Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte „Wirklichkeit,“ zu vernichten! (ebd. 98). Nur vor dem Hintergrund der überkommenden Wertvorstellungen, die als begriffliche Bedeutungsträger gesellschaftlich implementiert sind, haben die Menschen überhaupt nur die Möglichkeit, ihr Handeln einer wertenden Überprüfung zu unterziehen. Durch sie konstituiert sich sodann die Wirklichkeit als eine Welt aus klassifizierbaren Kontrasten. Diese ist von unbezweifelbarer Evidenz, weil sie als alltägliches Kommunikationsverhalten permanent in Erscheinung tritt. Es kann jedoch nicht das Ende der Bemühungen sein, für eine Realität einzustehen, die liebend gerne ausgeblendet und als unmenschlich diskreditiert wird. Die Ungleichheit der Verhältnisse, die Bedingungen nötigt das Denken über die bestehenden Grenzen, über die Demarkationslinien des Erlaubten hinaus zu treten, an einen Ort, an dem sich die Gemüter der Massen entzünden und von dem aus die Sorgen und Ängste empor steigen, wie das Höllenfeuer aus den Toren Hades, das sie doch selber tagtäglich aufs neue entzünden.
Es ist die Moral oder ethische Verfassung des Menschen, es ist ihre Anwendung, ihre unbedingte Dominanz, die alles und jeden überwuchert, die bis in die kleinsten Winkel aus natürlichen Tatsachen Dinge mit universalisierten Wertzuschreibungen abstrahiert. Ebenso ist das Rechtssystem auf den Prinzipien dieser sittlichen Normen aufgebaut und es wendet ihre innere Logik, die alle Menschen zu einem gesichtslosen Faktor egalisiert und gleich der ihr zugrundeliegenden Verhaltenskodizes strukturiert ist, auf das Leben selbst an – der Ursprung einer Rechtsrationalität, die lediglich dem Gesetz der Folgerichtigkeit der Denkungsart, nicht aber der existenten Konfusion und Kontingenz der Natur folgt. Was wollen wir damit erreichen, was ist das Ziel derartiger Bemühungen? Einzig die Gegenwart erhalten, in der die utopische Fantasie einer Zukunft in bürgerlicher Harmonie und Selbstzufriedenheit den Geist in ewiger Gefangenschaft bannt und den Gedanken an den Glauben aufrecht erhält, dass wir nur so zu sein brauchen, wie die Moral und die Gesetz es uns versprechen. Die Freiheit wird auf diese Weise zu einem illusionären Gebilde, das weder bewohnt noch gestaltet werden kann, da es das Subjekt auf die Wiederholung des ewig gleichen Prinzips des Denkens und Handelns verpflichtet. Dennoch: „Vergessen wir auch dies nicht. Es genügt neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue Dinge zu schaffen“ (ebd. 98). In der Entschlossenheit zur Unmoral werden die Grundfeste erschüttert, die allzu lang die kommunikativen Austauschbeziehungen determiniert und zu einer tatsächlichen Unmenschlichkeit durch Gleichheit geführt haben, wodurch ein Moment der Freiheit und Gerechtigkeit im Spiel der Lebenswirklichkeiten zumindest angedeutet werden können.
III.
Die Freiheit kann nunmehr auch als Wahlmöglichkeit verstanden werden, sich zwischen den Polen des Guten und des Bösen zu entscheiden. Rüdiger Safranski verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass bereits Gott in der Erzählung vom Sündenfall dem Menschen selbst die Unschuld dadurch genommen habe, indem er ihn vor die Wahl stellte, von dem Baum der Erkenntnis zu essen oder es gemäß seines Gebotes zu unterlassen. Noch ehe er sich also versündigt hatte, sei er durch Gott bereits ein Erkennender seiner eigenen Wahlfreiheit gewesen, wodurch der Entschluss zur Tat des Bösen im Wissen um dieses als ersten Akt menschlicher Freiheit gelesen werden müsse (Vgl. Safranski 1999: 22ff). In dieser Figur stellt sich eine nicht anthropomorphe, sondern eine durch Gottes Willen hervorgebrachte Form der Freiheit des Menschen vor, die weder moralisch noch unmoralisch, sondern nur optional ist. Die moralische Qualität des Handelns, die sich erst aus den Folgen der Überlieferung herleiten lässt, konnten Adam und Eva ja nicht aufgrund des ausgesprochenen Verbotes unmittelbar erkennen, da sie bis dato als unschuldige Wesen ohne Vermögen einer Verfehlung ihr Dasein fristeten. Die Möglichkeit der unmoralischen Tat, die einen freien Willen zum Bösen bedingt, ist von der menschlichen Existenz nicht zu lösen, sie ist der basale Ausdruck eines zur Entscheidung befähigten Geschöpfes, das eben gerade diese Optionalität seines Handelns niemals hintergehen kann.
Wenn Gott es war, der uns Menschen die Freiheit schenkte, warum sollte sie denn überhaupt mit moralischen Bewertungen überzogen sein? Nur aus dem einen Grund: Durch das Böse ist Gott überhaupt erst befähigt, sich als lenkende Instanz erkennbar legitimieren, in metaphorische Erscheinung mit normativ zwingender Evidenz treten zu können. Er gibt seiner Schöpfung ein Instrument an die Hand, durch das er unwiderruflich und unbezweifelbar Anspruch auf das Gute und auf das Böse gleichermaßen erheben kann, indem er die eine Tat gut, die andere schlecht heißt. Im ewigen Taumel zwischen Himmel und Verdammnis erweist sich die Freiheit als funktionales Element zum Erhalt eines Gotteszaubers, der die Sinne verfälscht und die Gedanken in sündigen Bildern gefangen hält. Wer aber ist der Urheber eines solch hinterlistigen Herrn? Der Mensch. Er pflanzte einst die Idee einer allmächtigen Kraft, wodurch er sich zum Betrüger an seinem eigenen Geschlecht schuldig machte. Die „Tartüfferie, wie Nietzsche eine solche Moralverklärung in seiner Vorrede Zur Genealogie der Moral bezeichnet, von Generation zu Generation vererbt, erzählt als großartiges Hirngespinst von einer Freiheit des Menschen durch Gottes Hand, die ihm im Glauben an das Böse auch den Glauben an die Wahl seiner Verwirklichung anheimstellt – du hast die Wahl Gutes zu tun und Böses zu unterlassen.
Entweder verlieh Gott dem Menschen die Freiheit zur Wahl zwischen Gut und Böse, dann ist er die Ursache und der Grund für die Existenz einer Moral, die die Unterscheidbarkeit der Dinge der Welt bereits im Ursprung der Menschheitsgenese konstituiert hat, oder aber der Mensch hat sich vermöge seiner symbolisch vermittelten Gestaltungsmacht als frei handelndes Wesen entworfen, indem er ein Gebäude aus Wertesystemen und Normvorstellungen errichtet, in eben diesem seine Heimat begründet und seine Identität durch die Option des Obdachs und der Obdachlosigkeit gefestigt hat. Die Unumstößlichkeit einer moralischen Verbindlichkeit des Handels wird in beiden Freiheitsbildern gleichermaßen offenkundig und sie schließt die Möglichkeit einer Entschlussfähigkeit zur Unmoral zwingend mit ein. Der Freiheitsbegriff resultiert folglich aus der Notwendigkeit einer Handlung aus Beachtung des Gesetzesbruches, durch den überhaupt erst Verhaltensmaßstäbe konturiert und auch verändert werden können. Mit jedem Akt einer Normverletzung geht auch die gesellschaftliche Konstruktion, oder göttliche Inauguration menschlicher Wahlfreiheit einher, so dass ein Nein zum Bösen immer auch eine Verneinung der eigenen sozialen Existenz bedeuten würde. Da Gott bekanntermaßen tot ist, muss der Mensch die Fackel seiner Freiheit selbst am Brennen halten und es liegt in seiner Hand, welche normativen Wirklichkeiten durch ihren Schein erhellt und welche im Schatten und in der Dunkelheit verbleiben werden – das Licht ist nur ein Instrument, nicht der Ursprung aller Werte.
Literatur:
Kant, Immanuel (1977): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Werkausgabe, Band VII. Wilhelm Weischedel (Hg.), Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Nietzsche, Friedrich (1973): Die fröhliche Wissenschaft. In: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.), Walter de Gruyter, Berlin
Safranski, Rüdiger (1999): Das Böse oder Das Drama der Freiheit. Fischer, Frankfurt a. M.
Sören Ritter
Andreas Prokop schreibt
Sehr schöner Artikel! Hier noch ein weiteres Nietzsche-Zitat (Nr. 117 in der FW) „Moralität ist Heerden-Instinct im Einzelnen.“ Nietzsche verwirft ja nicht die Moral an sich, sondern plädiert für einen individuelle, aus der persönlichen Erfahrung erwachsene Moral (die notwendig auf Überschreitungen aufbauen muss). In dem genannten Buch von Safranski verweist der Autor auch darauf, dass (überindividuelle) Moral ebenso eine Gruppenmoral ist, die die eigenen Gruppe zusammenhalten soll, während sie für Nichtmitglieder keine Geltung hat, was genauso für einen Gott gilt, der ein Gruppenmaskottchen ist und nur die eigenen Gruppe beschützt.
Gestern gab es in der Sendung „Günther Jauch“ eine Diskussion über erweiterten (Selbst-)Mord und man konnte sich schon vorher denken, wie die Diskussion verlaufen würde. Wie üblich wurde mit stark moralisierendem Unterton über individuellen Narzissmus, Gene und Lebensereignisse diskutiert, aber nicht über die Möglichkeit, dass solche Erscheinungen auch als Ausdruck einer Gruppenpathologie („soziale Krankheit“ bei Mitscherlich) gelten können, die individuelle „Pathologie“ nur eine Übertreibung des kulturell Prävalenten ist, wie Adorno irgendwo sagt, als Ausdruck der »fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, die sich jeglicher spontanen und direkten Beziehung zwischen Menschen heute in den Weg legen« (da wäre die Quelle: Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie, Psyche 1952, H. 1 S. 1)
Gerade die Ausrechenbarkeit solcher Debatten zeigt, dass nur vorgefertigte Versatzstücke von „Wissen“ präsentiert werden, aber das gar kein Denken stattfindet. Die vorbereitende Sendung „Polizeiruf 110“ war grottenschlecht, wie immer, wenn der Zeigefinger nach oben steht. Der Film war seelenlos, weil offenbar vom Kopf diktiert; der Charakter wirkte auf mich unglaubwürdig. Aber dem Publikum wurde dann von Günther Jauch gesagt, dass es betroffen gewesen sein muss. Solche „Talkshows“ (Nomen est Omen) ersetzen uns den Gottesdienst.
Übrigens habe ich in der Literaturliste ein Buch vermisst, das sehr einschlägig ist und dessen Titel auch im Text vorkommt:
Hartmut und Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants (Suhrkamp)