In dem äußerst spannenden Artikel Legal Debate on Using Boastful Rap Lyrics as a Smoking Gun vom 26. März widmet sich die New York Times dem Themenkomplex Rap und Recht. Aufhänger des Beitrags ist der gewaltsame Tod von Christopher Horton und Brian Dean im Jahr 2007. Die zwei jungen Männer wurden vor einem Wohnhaus im US-Bundesstaat Virgina erschossen. Von der Schusswaffe fehlt bislang jede Spur, die Polizei fand weder brauchbare Spuren am Tatort noch Zeugen für die Schießerei.
Erst Jahre nach der Tat gelang es der Polizei einen Tatverdächtigen zu ermitteln – und zwar anhand eines Rapsongs. Antwain Steward, ein lokaler Rapper, der unter dem Namen Twain Gotti auftritt, rappt im Lied “Ride Out.” folgende Textzeilen:
And they steady plottin but your boy still grippin
Listen, walked to your boy and I approached him
12 midnight on his traphouse porch and
Everybody saw when I motherfuckin choked him
But nobody saw when I motherfuckin smoked him
Roped him, sharpened up the shank then I poked him
357 Smith & Wesson mean scoped him, roped him
Had me crackin up so I joked him, it’s betweezy six feet ova
Told ya, fuck with my money I’ll roast ya
Can’t forget the bread I’ll motherfuckin toast you
Should have thought about it when you came and awoke him
Now look at your ass in pain not walkin‘
Die Polizei wurde auf das bei Youtube zu findende Video aufmerksam. Die Preisgabe von Insiderwissen [In dem Rapsong werden Tatort („porch“) als auch ungefähre Tatzeit („12 midnight“) benannt. Die erwähnte Waffe („357 Smith & Wesson“) stimmt allerdings nicht mit den am Tatort aufgefundenen Patronenhülsen überein.] als auch der Umstand, dass der Rapper mit einem der späteren Opfer angeblich Streit gehabt haben soll, führten zu seiner Verhaftung. Stewart sitzt seither in Untersuchungshaft und wird sich im Mai vor Gericht dem Vorwurf des zweifachen Mordes verantworten müssen.
Laut des Beitrages in der New York Times ist dieser Fall einer von über drei Dutzend Ermittlungen, in denen die Texte von Rapliedern als Indizienbeweis für Straftaten herangezogen werden und die eine Debatte über den Umgang mit Liedtexten als Beweismittel im Strafprozess losgelöst haben.
Bereits in dem 2006 veröffentlichten Beitrag „Understanding Gangs and Gang Mentality: Acquiring Evidence of the Gang Conspiracy“ (The United States Attorneys’ Bulletin, May 2006, Volume 54, Issue 3, S. 1-14) empfiehlt der F.B.I. Analyst Donald Lyddane den Staatsanwaltschaften einen genauen Blick auf die kulturschaffenden Aktivitäten von vermeintlichen Gang-Mitgliedern zu werfen.
Do all gang members write graffiti, get gang tattoos, or compose true life proclamations in the form of hip- hop lyrics? No. A significant number of gang members do, however, to the point where investigators and prosecutors must take advantage of such behaviors. Documentation of anticipated gang behaviors, such as the following, can serve as the cement needed to prove beyond areas on able doubt the conspiratorial links between defendants and predicate acts in gang prosecutions.
(Lyddane, 2006: 6)
Zum Verständnis von Gangstrukturen und -aktivitäten empfiehlt der F.B.I.-Mitarbeiter den Staatsanwälten neben Graffitis, Tätowierungen, Handzeichen und Heimvideos auch Liedtexte in Augenschein zu nehmen.
E. Lyrics
Many gang members compose hip-hop lyrics that reflect true-life experiences. Search warrants of homes and jail cells often net such writings. The contents of these writings frequently reflect the author’s gang mentality and, in some cases, result in solid investigative leads. Occasionally, the writings can be used as evidence. Many gang members frequent clubs where they can perform their songs, and a number of clubs record the performances for later sale. Composing lyrics and committing them to print is not limited to any particular gang.
(Lyddane, 2006: 8)
Lyrische Ich und Authentizität in der Musik
Jeder Schüler lernt im Deutschunterricht, dass das Lyrische Ich in einer Erzählung nicht mit dem Autoren gleichzusetzen ist. Und vermutlich käme auch niemand auf die Idee, Henning Mankell, Giuseppe Verdi oder Paul Cézanne zu unterstellen, sie hätten die von ihnen erzählten, komponierten oder gemalten Schilderungen tatsächlich erlebt. In den USA wäre – so die Autoren im Zeitungsartikel – auch niemand auf den Gedanken gekommen, Johnny Cash zu verhaften, weil ein Mann in Reno erschossen wurde1.
Der Rapper Twain Gotti, der die Gewaltphantasie ausspricht, ist also mitnichten mit dem zum Tatzeitpunkt 16-jährigen Antwain Steward gleichzusetzen.
Warum erscheint es uns aber dennoch vorstellbar, dass ein Ganstarapper über eine reale Straftat spricht und sich damit selber belastet? Und warum klingt der analog konstruierte, gegen Johnny Cash gerichtete Vorwurf absurd? Immerhin verzichtet Johnny Cash darauf, seinen Folsom Prison Blues aus der Perspektive eines Alter Ego‘ zu erzählen. Johnny Cash ist und bleibt Johnny Cash2. Er ist authentisch als Folkmusiker ebenso wie Twain Gotti einen authentischen Ganstarapper darstellt. Authentizität ist hier gleichbedeutend mit einer unverfälschten Natürlichkeit. Authentisch erscheinende Musiker verweisen durch ihren Klang, ihr Auftreten und ihre Texte auf eine Tradition3. Johnny Cash weist sich damit als Geschichtenerzähler aus. Der Folksänger steht in der Tradition des Moriatensängers. Seine Geschichten sind Moralgeschichten, die einerseits die des Schreibens und Lesens nicht mächtigen Zuhörer über Neuigkeiten informieren und die andererseits gesellschaftliche Aushandlungen von Recht und Unrecht, Schuld und Sühne darstellen.
Im Gegensatz hierzu steht die Authentizität des Rappers, der Erzählungen aus erster Hand vermittelt „to keep it real“. Rap ist Straßenmusik, die in den 1980er Jahren den heruntergekommenen Armutsvierteln in Brooklyn, New York entstanden ist. Als solche ist Rap gemäß des Rappers Chuck D von Public Enemy „CNN for black people“ – also dicht am Geschehen, live, wahrhaftig und authentisch. In seiner thematischen Fokussierung auf Kriminalität wird spätestens 1986 mit der Veröffentlichung des Liedes „6 in the Mornin'“ des Rappers Ice-T‘ der Ganstarap geboren. Der in South Los Angeles aufgewachsene Rapper gibt mit seiner Erzählung über das Leben eines Drogendealers, Flucht vor der Polizei, Schießereien mit rivalisierenden Banden und Inhaftierungserfahrungen die Themen für authentischen Gangstarap vor.
Multimillionäre wie der Rapper Jay-Z, der auf seinem letzten Album ironischerweise darüber sinniert, ob er sich ein Picasso-Gemälde kaufen soll, verweisen darauf, dass Rap schon lange keine Straßenmusik mehr ist. Wenn ehemalige Schulsprecher und Bambi-Integrationspreisgewinner wie Bushido oder Jura-Studenten wie Kollegah überaus erfolgreich als authentische Ganstarapper vermarktet werden können, ist klar, dass Authentizität im Rap heutzutage vielmehr Attitüde und (Leicht-)Gläubigkeit der Hörer bedeuten4.
Insofern kann Twain Gotti sich für seine überzeugend, authentische Darstellung eines Doppelmörders rühmen. Es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtsprozess im Mai für ihn ähnlich rühmlich verläuft.
Eine Textzeile in Johnny Cashs „Folsom Prison Blues“ lautet: „I shot a man in Reno just to watch him die.“. ↩
Johnny Cash pflegte seine Live-Auftritte mit dem Satz “ Hello, I am Johnny Cash“ zu beginnen. ↩
vgl. David Manchin (2010) Analyzing Popular Music, Sage Publications, S. 14ff. ↩
Im Falle von Bushido kann vermutlich konstatiert werden, dass die kriminelle Karriere auf das bereits seit Jahren gepflegte Image als Ganster gefolgt ist. ↩
Insbesondere die auf dem Channel „Aggro TV“ oder „16bars“ veröffentlichen Videos, die von kriminellen Ereignissen handeln, geben Anlass zur Spekulation über die Authentizität auch im deutschen Rap:
http://www.youtube.com/watch?v=39VfZaMQUU0 ( Hells Angels)
http://www.youtube.com/watch?v=Fc50eXfe13U ( 187 er Straßenbande aus Hamburg St. Pauli)
http://www.youtube.com/watch?v=-4Cot9ZpH3s ( Schwesta Ewa)
http://www.youtube.com/watch?v=5g2FrXbd5uM (Said )
http://www.youtube.com/watch?v=B3lU9TdY2sU ( Toni der Assi )
Herzlichen Dank für den Hinweis, Julian. Die von Dir vorgeschlagenen Videos sind ja geradezu eine Ansammlungen von Traumschwiegersöhne.
Wer sich näher mit dem Thema Herstellung/Darstellung von Authentizität im (deutschen) Hip Hop beschäftigen will, dem sei folgendes Buch empfohlen, das ich sträflicherweise versäumt habe, im Artikel zu erwähnen: Gabriele Klein & Malte Friedrich (2003) Is it real? Die Kultur des HipHop. Edition Suhrkamp 2315. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main.