In Augsburg, in München, Frankfurt, Saarbrücken,
es sind überall dieselben, die uns unterdrücken.
In jeder Stadt und in jedem Land,
mach ne Faust aus deiner Hand.
Mach ne Faust aus deiner Hand.
Keine Macht für Niemand!
Keine Macht für Niemand!
(Ton, Steine, Scherben: Keine Macht für Niemand)
Anfänge und Gründung der Band
„Keine Macht für Niemand“, eine Parole, die bis heute nicht an Wirkung verloren hat. Das obige Zitat stammt aus dem gleichnamigen Song der Band Ton, Steine, Scherben. Eine Band, deren Name als musikalische Untermalung der 68er Studentenrevolte gilt, obwohl sie sich erst 1970 aus der Coverband De Galaxis gründete. Ihr Markenzeichen sind radikale und aus heutiger Sicht möglicherweise plakativ erscheinende Texte.
Ihren Anfang fand die Band in den Berliner Theaterprojekten „Hoffmanns Comic Theater“ und „Rote Steine“. Beide Projekte hatten zum Ziel, die herkömmliche Rolle der Kunst durch einen avantgardistisch-partizipatorischen und gegenkulturellen Ansatz aufzubrechen.1 Als moderne Besonderheit dieser beiden Projekte galt die Begleitung durch eine Band, welche die Szenen am Ende noch einmal musikalisch zusammenfasste.2 Dort trafen Ralph Peter Streitz (Künstlername R.P.S. Lanrue) und Ralph Möbius (besser bekannt als Rio Reiser) auf ihre zukünftigen Bandkollegen Kai Sichtermann und Wolfgang Seidel.
Entwickelt aus einem Brainstorming aus dem Namen „VEB Ton, Steine, Scherben“, der an die sozialistische Industriegewerkschaft „VEB Bau Steine Erden“ angelehnt war, fiel schließlich die Entscheidung für den Namen „Ton, Steine, Scherben“. Auf das „VEB“ wurde verzichtet, weil es „doch zu sehr nach DDR klang und überflüssige Diskussionen mit Politologen nach sich ziehen würde“.3
Die Entscheidung für den Namen wurde von Rio Reiser mit der Begründung untermauert, dass erst der Ton gemacht wird, worauf die Leute Steine in die Hand nehmen, um anschließend Scherben folgen zu lassen, gegen den Feind, gegen die Bullen, gegen die Banken, gegen das Kapital.4
Schon hier lässt sich erahnen, welche Art von Musik die Band spielte – aggressiver und teils experimenteller Bluesrock als Begleitung für sozialkritische und politische Texte.5
Ihr allererstes Konzert spielten „Ton, Steine, Scherben“ auf dem „Festival der Liebe“ der Insel Fehmarn – gleichzeitig dem letzten Auftritt von Jimi Hendrix.6) Fünf Songs spielte die Band, dann fordert Sänger Rio Reiser die Zuschauer zum Protest gegen das Missmanagement der Konzertveranstalter auf und die Bühne brannte ab.7 Die erste Veröffentlichung der Ton, Steine, Scherben war der zweiseitige Beitrag „Musik ist eine Waffe“ im links-anarchistischen Magazin Agit883 mit einer Auflage von 10.000 Stück.8 Darin erklärte die Band, man könne etwas verändern, wenn man wolle, dabei soll die Musik als Waffe eingesetzt werden, um zu agitieren.9
Diese Band steht mit ihren provokanten Texten, dem Drummer, der in einer Fernsehsendung einen Tisch mit einer Axt zerstörte und die WDR-Mikrofone einsteckte, ganz im Gegensatz zum Aufkommen des Schlagers in den 70er Jahren, und gerade richtig, um die linke Identifikationsplattform einer verzweifelten und rebellischen Generation zu werden.10
Die Message der Band richtete sich laut eigener Aussage an: „Leute in unserem Alter und jünger, zwischen 15 und 22 und vor allem an Lehrlinge, weniger an Schüler, nicht an die bereits agitierten, also an die Linken.“.11
https://www.youtube.com/watch?v=sa0rpCgVLs4
https://www.youtube.com/watch?v=sa0rpCgVLs4 (letzter Abruf: 12.07.2013)
Musikalisches Schaffen
Insgesamt erschienen fünf Alben der „Scherben“, wie sie auch genannt werden. Das kämpferische Debüt trägt den Titel „Warum geht es mir so dreckig?“, darauf folgt das Doppelalbum „Keine Macht für Niemand“. Diese Platte weist zunehmend reale Bezüge auf und spiegelt den vermehrten Konflikt zwischen Staat und Gegenkultur wider. Hausbesetzungen, die Radikalisierung des Blues12 und der Haschrebellen13 und die Tode von Georg von Rauch und Tommy Weißbecker stellen den Hintergrund des künstlerischen Schaffens dar.14 So wird ein Song zur Besetzung des Rauch-Hauses (Rauch-Haus-Song) geschrieben sowie der Widerstandssong „Mensch Meier“ gegen die Erhöhung der Fahrpreise der Berliner Verkehrsgesellschaft.15 Außerdem wird dazu aufgerufen, sich gegen Autoritäten aufzulehnen, worauf ich im nächsten Abschnitt noch genauer eingehen werde.
Den Umbruch skizziert „Wenn die Nacht am tiefsten…“, das „Schwarze Album“ und der Schwanengesang „Scherben“.16
Tu, was du tun willst und du bist frei.
https://www.youtube.com/watch?v=BopYtPtjlkI
https://www.youtube.com/watch?v=BopYtPtjlkI (letzter Abruf: 12.07.2013)
Das Lied Feierabend dreht sich um einen proletarischen Protagonisten nach Feierabend. Zu Beginn kann man die Geräuschkulisse einer großen Fabrik wahrnehmen. Maschinen erzeugen Geräusche in einer großen Halle und schließlich ertönt eine Sirene, die vermutlich den Feierabend einläuten soll. Der Song lässt sich dem Bluesschema zuordnen. Dafür sprechen die Verwendung von Dirty Tones, die charakteristische Instrumentation (Gitarrensolo) und ein ternäres Feeling (12/8-Takt). Das Tempo ist langsam gehalten. Blues gilt als eine Ausdrucksform der Sklaven und Arbeiterklasse in den südlichen Vereinten Staaten im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Anprangerung der sozialen und gesellschaftlichen Situation, welche normalerweise in der Ich-Form zum Ausdruck gebracht wird. Die Scherben verwenden hier jedoch die Du-Form, um einen Bezug zum Hörer darzustellen.
Das lyrische Ich kann sich nun entscheiden – möchte es sich betrinken, ins Kino gehen oder sein Geld im „Puff“ ausgeben. Es wird auch daran erinnert, dass der morgige Tag erneut mit Arbeit beginnt, doch ein Warten lohnt sich nicht. Das süße Leben wartet. Schließlich wird dem Arbeiter eine Alternative aufgezeigt:
Besuch doch heute Abend deinen Chef /
und fahr mit seinem Mercedes weg./
Gib ihm doch endlich seinen Lohn, /
mach dich auf die Socken, er wartet schon./
Hier wird, eher harmlos, zur Gewalt gegen Autoritäten aufgerufen. Gesteigert wird dies in dem Song „Paul Panzers Blues“.
https://www.youtube.com/watch?v=JWU_XxHg4-4
https://www.youtube.com/watch?v=JWU_XxHg4-4 (letzter Abruf: 12.07. 2013)
Paul Panzer steht für den Typus des durchschnittlichen Arbeiters.17 Auch hier wird ein Bluesschema genutzt (siehe oben). Die erste Strophe handelt von dem Arbeiter Paul Panzer, der Essen im Karstadt klaut, anschließend zu seiner Freundin nach Hause geht, eine Abfuhr kassiert und sich schließlich in der Kneipe betrinkt.
In der zweiten Strophe geht es darum, dass sich Paul Panzer auf dem Rummelplatz verlieren kann. Endlich kann er einen „dicken Wagen“ fahren und sich die Welt von oben betrachten, den Ärger vergessen.
Die letzten Zeilen dieser Strophe lassen jedoch darauf schließen, dass sich sein Unmut vor allem gegen Autoritäten richtet. An dieser Stelle erscheint ein Amoklauf als reale Option.
Aber an der Schießbude stehen,/
mit ner Knarre in der Hand,/
da träum ich, ich knall alle Schweine ab,/
denn uns, UNS gehört das Land!/
In der dritten Strophe wird ein bewaffneter Überfall auf seinen Chef beschrieben:
Und wenn er dann winselt: „Verlassen sie mein Haus!“/
Dann soll er sein Mittagessen lutschen, ich schlag ihm paar Zähne raus./
Ich schrei: „Du Drecksau, gehst jetzt arbeiten für meinen Lohn!/
Abmarsch in die Kolonne, die anderen, die warten schon./
Der Laden gehört jetzt uns allen, nicht mehr dir allein./
Dein Wichserjob ist aus, wir mästen dich nicht mehr, du fettes Schwein.
Hier wird besonders deutlich, wie radikal gegen die Idee einer Autorität vorgegangen wird. Nicht einem allein soll „der Laden“ gehören, alle sollen davon profitieren. Es wird gewissermaßen angeregt, gemeinsam für ein Ziel zu arbeiten und den Hierarchiegedanken zu verwerfen. Diese Grundtendenz äußert sich auch in dem Titelsong „Keine Macht für Niemand“. Auch hier wird Macht per se abgelehnt.
Du bist nicht besser als der neben Dir/
niemand hat das Recht Menschen zu regieren./
Es wird eher dazu aufgerufen, gemeinsam Ziele zu verfolgen:
Komm rüber Bruder, reih dich ein, /
komm rüber Schwester, du bist nicht allein./
Komm rüber Mutter, wir sind auf deiner Seite,/
komm rüber Alter, wir woll’n das Gleiche./
Vielleicht war es diese Idee der uneingeschränkten Herrschaftslosigkeit, die den Song für die RAF uninteressant machte.18
Ton, Steine, Scherben und die RAF?
Die Lieder der „Scherben“ galten als musikalische Untermalung für Hausbesetzungen und Demonstrationen. Oft nahmen sie nicht nur daran teil, sondern riefen im Anschluss an ihr Konzerte auch zu Hausbesetzungen auf.19 So nahmen sie auch an der Besetzung des Bethanien-Krankenhauses in Kreuzberg teil, die in Folge der Erschießung Georg von Rauchs durch die Polizei, einem Mitglied der „Bewegung 2. Juni“, stattfand. Das Haus wurde nach dem Getöteten benannt und diesem wurde auch der Rauch-Haus-Song auf ihrem zweiten Album gewidmet.20
Auch die Rote Armee Fraktion (RAF), die sich Anfang der Siebziger Jahre als terroristische Vereinigung zu formieren beginnt, scheint die Wirkung dieser Musik nicht entgangen zu sein.21 Sie soll das Lied „Keine Macht für Niemand“ bei Rio Reiser bestellt haben. Ziel war ein Song, welcher die Leute schreiend aus den Häusern laufen lässt, um den Kampf gegen die imperialistischen Paläste zu wagen.
Das Ergebnis wurde allerdings als „politischer Blödsinn und für den anti-imperialistischen Kampf unbrauchbar“ abgetan.22
Die Geschichte der RAF als fester Zusammenschluss beginnt im Mai 1970. Andreas Baader wird durch Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin während eines Haftausgangs befreit, als er sich im West-Berliner „Zentralinstitut für soziale Fragen“ aufhält. Die Gruppe geht daraufhin in ein militärisches Palästinenser-Ausbildungslager der El Fatah in Jordanien. Nach ihrer Rückkehr überfällt sie in Deutschland drei Banken. Vier weitere Terroristen der Gruppe werden im Oktober 1970 festgenommen. Daraufhin eskaliert die Situation. Anschläge auf das Gebäude des Springer-Verlags, das Europahauptquartier der US-Armee und das Landeskriminalamt folgen. In der Bundesrepublik wird die größte Fahndung aller Zeiten in Gang gesetzt, RAF-Mitglieder, darunter Baader, Ensslin und Meinhof, werden 1972 verhaftet.23
Wenn es um Menschenleben ging, differierten die Meinungen in der linken Szene weit auseinander. In der Autobiographie Rio Reisers beschreibt er das Argument, dass eine bei einem Anschlag getötete Putzfrau eben nicht für die Regierung hätte arbeiten sollen, etwas dünn.24
Seine Devise war, Menschen in ihrer Denkweise zu verändern, sie zum Nachdenken zu bewegen. Er sprach in seiner Musik vielen Menschen aus dem Herzen. Er traf den Nerv einer von Frust geladenen Generation, die ohne Ziel und ohne Perspektive auf ein besseres Leben jeden Tag einer unbefriedigenden Arbeit nachgeht.
Literatur
Bücher
Ka, Bernhard (2008): …denn die Freiheit ist unser Ziel, Books on Demand GmbH, Norderstedt
Kreier, Florian Tobias (2012): Die Band Ton Steine Scherben: Subpolitiker einer Gegenkultur?, Diplomica Verlag GmbH, Hamburg
Peters, Sebastian (2010): Ein Lied mehr zur Lage der Nation – Politische Inhalte in deutschsprachigen Popsongs, Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin
Siechtermann, Kai; Johler, Jens; Stahl, Christian (2003): Keine Macht für Niemand, Schwarzkopf und Schwarzkopf, Berlin
Internetquellen
Fischer, Lars (unknown): Die Geschichte einer ganzen Generation – Die Geschichte von Ton, Steine, Scherben. http://fuego.de/tss (Stand: 30.06.2013)
Loepa, Berlin (2003): Rolle der Ton, Steine, Scherben?. http://www.rafinfo.de/faq/sonstiges/rolle_der_ton_steine_scherben.199.php (Stand: 02.07.2013)
Unknown (unknown): Ton-Steine-Scherben. http://www.laut.de/Ton-Steine-Scherben (Stand: 30.06.2013)
Zuckerstätter, Gertraud (2005): Mythos „Ton, Steine, Scherben“. http://ausreisser.mur.at/ausgaben/ausgabe-6/mythos-abton-steine-scherbenbb-g-zuckerstaetter/ (Stand: 02.07.2013)
Kreier, F.: Die Band Ton Steine Scherben: Subpolitiker einer Gegenkultur?, Hamburg 2012, S. 85. ↩
Ebda., S. 85. ↩
Ka, B.: …denn die Freiheit ist unser Ziel, Norderstedt 2008, S. 66. ↩
Siechtermann, K.: Keine Macht für Niemand, Berlin 2000, S. 14. ↩
Kreier, F.: Die Band Ton Steine Scherben: Subpolitiker einer Gegenkultur?, Hamburg 2012, S. 105. ↩
http://fuego.de/tss/ (Stand: 30. Juni 2013, 14:31 Uhr ↩
Peters, S.: Ein Lied mehr zur Lage der Nation – Politische Inhalte in deutschsprachigen Popsongs, Berlin 2010, S.186. ↩
Kreier, F.: Die Band Ton Steine Scherben: Subpolitiker einer Gegenkultur?, Hamburg 2012, S. 87. ↩
Ebda., S. 87. ↩
http://www.laut.de/Ton-Steine-Scherben (Stand: 30. Juni 2013, 14:15 Uhr). ↩
Rio Reiser in dem 1. TV-Auftritt der Ton, Steine, Scherben (1970) http://www.youtube.com/watch?v=RpE_jpcIHTc (3:33min ↩
Die linksradikalen militanten Szene in West-Berlin um 1970 wurde als Blues bezeichnet ↩
Bei dem „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ handelte es sich um eine militante, linksradikale Gruppierung, die als Vorstufe der Bewegung 2. Juni gilt ↩
Kreier, F.: Die Band Ton Steine Scherben: Subpolitiker einer Gegenkultur?, Hamburg 2012, S.108. ↩
Ebda., S. 108. ↩
http://fuego.de/tss/ (Stand: 30. Juni 2013, 16:18 Uhr). ↩
Peters, S.: Ein Lied mehr zur Lage der Nation – Politische Inhalte in deutschsprachigen Popsongs, Berlin 2010, S.198. ↩
Kreier, F.: Die Band Ton Steine ScherbenSubpolitiker einer Gegenkultur?, Hamburg 2012, S.111. ↩
http://ausreisser.mur.at/ausgaben/ausgabe-6/mythos-abton-steine-scherbenbb-g-zuckerstaetter/ (Stand: 02. Juli 2013, 19:04 Uhr). ↩
ebda. (Stand: 02. Juli 2013, 19:09 Uhr). ↩
Peters, S.: Ein Lied mehr zur Lage der Nation – Politische Inhalte in deutschsprachigen Popsongs, Berlin 2010, S.184. ↩
http://www.rafinfo.de/faq/sonstiges/rolle_der_ton_steine_scherben.199.php (Stand: 02. Juli 2013, 19:22 Uhr). ↩
Peters, S.: Ein Lied mehr zur Lage der Nation – Politische Inhalte in deutschsprachigen Popsongs, Berlin 2010, S.184. ↩
http://www.rafinfo.de/faq/sonstiges/rolle_der_ton_steine_scherben.199.php (Stand: 02. Juli 2013, 19:22 Uhr). ↩
Michael Sontheimer schreibt
Dünnes Taktat, keine Recherche. Die personellen
VErbindungen zwiscchen den Scherben und der Bewegung 2. Juni sind überhaupt nicht beschrieben. (B. Baumann, A. Reiche u.a.)