Begriffsherkunft und kurzer geschichtlicher Abriss
Der Begriff „narco“ steht in Mexiko für alles und jeden, der direkt oder indirekt mit dem Drogensektor in Verbindung steht (Vgl. Heufelder 2011: 23). In diesem Sinne gilt narco als Sammelbegriff für all jene Personen, die in irgendeiner Weise in den Drogenhandel involviert sind. Die „Palette“ der narcos erstreckt sich somit von Kartellbossen über kleinere Drogenkuriere, Bauern, Drogenkonsumenten, korrupten Beamten oder Polizisten, Zivilpersonen, deren Häuser gegen Bezahlung als Geld- oder Drogendepot genutzt werden, hin zu Musikern, die jene Geschehnisse in ihrer Heimat in zahlreichen Liedern zum Ausdruck bringen.
Corrido leitete sich vom dem spanischen Verb „correr“ (fließen, rennen) ab und bezeichnet mexikanische Volkslieder in Form einer Ballade. Die genauen Ursprünge2 – insbesondere mögliche spanische Einflüsse auf die Entwicklung – der corridos sind umstritten; sie reichen jedoch vermutlich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück. Themen der corridos sind häufig sozialkritisch und handeln von Unterdrückung, Armut und Ungerechtigkeit. Eine große Popularität gewannen die corridos während des Revolutionskrieges zwischen 1910 und 1920. Forderungen nach Land und Freiheit sowie Bombardierungen von Städten etc. wurden in endlosen Balladen an Kaminen in Militärcamps oder in Flüchtlingskarawanen besungen. Corridos blieben im Zuge der Entwicklung von Radio und Fernsehen relativ unbeachtet.
Das vermutlich erste narcocorrido ist aus dem Jahre 1974 und stammt von den Tigres del Norte. Es handelt von einem Drogenkurier, der mit seiner Frau mehrere Pfund Marihuana im Autoreifen über die mexikanische Grenze nach San Diego schmuggelt. Als erster Vertreter des modernen narcocorridos gilt Rosalino „Chalino“ Sánchez. Aus armen Verhältnissen stammend, war er bemerkenswert authentisch, da er das brutale Leben, das er besang, auch tatsächlich lebte. Er sang über das Drogenschmugglerleben und beschwor es geradezu. Im realen Leben erschoss Sánchez den Vergewaltiger seiner Schwester, war in diverse Schießereien verwickelt und saß eine Zeit lang im Gefängnis. Außerdem verkaufte und schmuggelte er in seinen frühen Jahren Drogen. Sein erster Songtitel handelt von der Ermordung seines Bruders, alle weiteren von der mexikanischen Unterwelt. Sánchez lebte und starb wie ein echter narco. So wurde er letztendlich mit zwei Kugeln im Kopf tot in einem Kanal aufgefunden. In der Narcocorrido-Szene wurde er zur Legende und ging als Godfather der hardcore Narco-Ballade in die Geschichte ein. (Vgl. Grillo 2012: 175)
Wegbereiter des modernen Narcocorridos: Los Tigres del Norte
Narcocorridos sind in Mexikos Straßen heutzutage populärer denn je. Die Interpreten zieren bestückt mit Kalaschnikows, Cowboyhüten oder Skimasken die Covers ihrer CDs. Die Musik schallt aus pickup trucks, weißen Hummers, sie läuft auf Partys mit Frauen, die Zentimeter lange künstliche Fingernägel tragen und mit Männern in Stiefeln aus Alligatorhaut. Die Nachfrage ist derart groß, dass Tausende junger Künstler versuchen, der nächste Chalino Sánchez zu werden. Die Stadt Culiacán besitzt fünf Labels, die corridos produzieren, wovon jedes über zweihundert Sänger auf seinen Listen führt. (Vgl. Grillo 2012: 177)
Chalino Sánchez- Alma Enamorada
https://www.youtube.com/watch?v=mqnbxKUXfSg
Movimiento Alterado
Auch wenn die narcocorridos eher nach Mariachi-Musik klingen und wie ein mexikanisches Pendant deutscher Schlagermusik anmuten, erinnern sie inhaltlich mehr an amerikanischen Gangster-Rap als an bloße Heimatfolklore.
Seit dem Zusammenbruch des Kartells aus Sinaloa- und Beltran Leyva Organisation und der Fehde zwischen den jeweiligen Bossen Joaquín „El Chapo“ Guzmán Loera3 und Arturo „The Beard“ Beltrán Leyva4) erfreut sich der Musiktrend „Movimiento Alterado“ (verstörendes Tempo) besonderer Popularität. Bei diesem Stil werden die klassischen Instrumente der Musica Norteña5) mit Tuba und Schlagzeug gemischt. (Vgl. Heufelder 2011: 40)
Movimiento Alterado scheint dabei nicht nur die Bezeichnung des Subgenres zu sein, sondern auch der Bandname eines gemeinsamen Projektes einschlägiger narcocorrido Sänger. So wird der Interpret des Songs „los Sanguinarios del M1“ auf dem Sampler Movimiento Alterado Vol. 4 ebenfalls unter dem Namen Movimiento Alterado geführt. Wenn die Musikrichtung als verstörendes Tempo (Vgl. Heufelder 2011: 40) übersetzt wird, liegt es durchaus nahe, den Zusammenschluss der Musiker mit „Verstörte Bewegung“ zu übersetzen, was sowohl auf Selbstironie als auch Reflexionsvermögen seitens der betroffenen Künstler schließen ließe. Die Interpreten des eben erwähnten Songs sind: Los Buitres, El Komander, Bukanas De Culiacán, Buchones De Culiacán, Convicto CLN, Potros Pura Sangre, Oscar Garcia.
Movimiento Alterado- Los Sanguinarios del M1
https://www.youtube.com/watch?v=gJvOCMwa4ag
Im Vergleich zu älteren Drogenballaden zeichnen sich diese Lieder durch ein höheres Tempo und härtere Texte aus. Ein Auszug aus dem Text des Songs „Los Sanguinarios del M1“ liest sich wie folgt:
Con cuerno de chivo y bazooka en la nuca.
Volando cabezas a quien se atraviesa.
Somos sanguinarios, locos, bien ondeados.
Nos gusta matar.
Mit der AK 47 und der Bazooka im Nacken,
fliegen Köpfe, wo sie uns in die Quere kommen.
Wir sind blutgierig, verrückt, ziemlich zugedröhnt.
Uns gefällt es zu töten
(Übersetzung nach: Heufeder 2011: 41)
Die Entstehung des Movimiento Alterado als Subgenre kann in insofern als stilistische Anpassung und Weiterentwicklung der narcocorridos im Kontext der Zuspitzung des Krieges zwischen den Drogenhandelsorganisationen verstanden werden.
Angesichts der seit 2006 eskalierenden Gewalt im mexikanischen Drogenkrieg und den häufig real existierenden Verbindungen der Künstler in die Unterwelt, stehen die narcocorridos dem amerikanischen Gangster-Rap hinsichtlich Authentizität sowie Gewaltverherrlichung und -Legitimität in nichts nach. Vielmehr scheint die Qualität der besungenen Gewalthandlungen in den narcocorridos höher zu sein als in den meisten Gangster-Rap-Kompositionen. Die Glaubwürdigkeit der Songs und das hohe Identifikationspotential mit den Interpreten als “outlaws“ liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Songs einem Rundfunkverbot unterliegen.
Blutige Nachrichten
Viele narcocorrido-Sänger stellen ihrem eigenen Selbstverständnis nach lediglich Chronisten der gesellschaftlichen Verhältnisse dar, die besingen, was in der Umgebung geschieht und was in den Medien Schlagzeilen macht (Vgl. Beith 2011: 138).
Tatsächlich ist der Inhalt einiger Lieder mitunter exklusiver als es die Berichterstattung der Medien je sein könnte. Dies liegt an der Nähe der Musiker zur Drogenszene und zu den jeweiligen Drogenhandelsorganisationen in ihrer Region. Dementsprechend ist die musikalische Verbreitung von Nachrichten allerdings von den Organisationen diktiert und ist insofern kritisch zu betrachten. In diesem Sinne stellen narcocorridos in erster Linie Propaganda für die jeweiligen Organisationen dar (Vgl. Heufelder 2011: 36). Dennoch werden die in den Songs transportierten Botschaften innerhalb der Bevölkerung sehr ernst genommen. Und das nicht zu Unrecht. Die Abhängigkeit der Nachrichten von den Vorgaben der Kartelle und die Glorifizierungen der narcos bedeuten nämlich nicht immer, dass die Texte frei erdichtet wurden und den Inhalten keinerlei Wahrheit zu entnehmen ist. Dafür besitzen die Interpreten in vielen Fällen offensichtlich zu viel Hintergrundwissen über Beziehungen der Kartellmitglieder zueinander, Tathergänge bei Morden oder Praktiken der Folterung und Hinrichtung, bevor die offiziellen Medien überhaupt ein derartiges Ereignis registriert haben. Zudem liefern die Songs häufig eine Art Leitfaden für adäquates Verhalten und beinhalten Warnungen an diejenigen, die dem Verhaltenskodex nicht entsprechen oder sich gegen die Organisationen stellen wollen. Sehr häufig enthalten die Lieder Mitteilungen an Konkurrenten oder verfeindete Kartelle.
Mit dem Drogenkrieg wurden auch die Songs blutiger. Nachrichten wurden innerhalb von Tagen oder sogar Stunden in den corridos verarbeitet. Songs über den Tod berühmter narcos oder über blutige Massaker wurden in kürzester Zeit veröffentlicht. Mehrere Balladen erzählen die Geschichte eines Killers, bekannt unter dem Pseudonym „stew maker“, der die Körper von 300 Opfern des Tijuana Kartells in Säure auflöste. Ein anderer Song, „Black Commando“, handelt von Kidnapping und Folterungen eines maskierten Killerkommandos. Um der Brutalität der Songs Rechnung zu tragen, wurde das Subgenre der corridos enfermos (Kranke Balladen) etabliert. Einer dieser Songs beschreibt bildlich wie Killer in ein Haus gehen und eine ganze Familie verstümmeln. (Vgl. Grillo 2012: 179).
Neben der Verbreitung erschreckender Ereignisse, liefert die Hofberichterstattung der Interpreten auch Menschliches, beinahe Mitreißendes. So wurden für das Sinaloa Kartell Lieder über den tragischen Tod von Edgar Guzmán, dem Sohn des obersten Kartellbosses El Chapo Guzmán, über den Familienmenschen El Mayo Zambada6, über seinen in den USA verhafteten Sohn oder über die gerechte Wut El Chapos gegenüber Feinden und Verrätern komponiert. (Vgl. Heufelder 2011: 36)
Hymnen für die narcos
Narcocorridos sind mehr als ein bloßes Medium der Nachrichtenvermittlung. Sie sind Teil der Drogenkultur und reproduzieren diese wiederum, indem sie gleichermaßen zur Würdigung von alternativen Normen und Werten beitragen sowie die Anerkennung und Verankerung dieser in der Bevölkerung forcieren. Darüber hinaus sind sie ein extrem erfolgreiches Mittel der Glorifizierung von mehr oder weniger populären narcos.
Das Komponieren von Songs über Drogenschmuggler ist für die Bands und Sänger zudem eine lukrative Einkommensquelle. Die narcos bezahlen die Interpreten, wenn diese ein Lied für sie komponieren. Während weniger bekannte Musiker rund 1000$ für einen Vers über einen aufstrebenden Gangster bekommen, können Szenegrößen für eine Hymne über ein hochrangiges Kartellmitglied Beträge im fünfstelligen Bereich verlangen. Viele sehen die Komposition einer eigenen Ballade als gutes Investment an, welches das Ansehen erhöht und letztendlich Respekt und Verträge abwirft (Vgl. Grillo 2012: 178 f.). Grillo veranschaulicht die Bedeutung der Hymnen in folgender Anekdote eines mexikanischen Musikproduzenten über einen einfachen Schmuggler, der für eine eingängige Ballade bezahlte, die schnell populär wurde7):
‚The crime bosses were like, ?Bring me the guy from that song. I want him to do the job for me.? So he rose through the ranks because of the song.‘
‚So what happened with him now?‘
‚Oh they killed him. He got too big. It was because of the song, really‘
Eine weitere Haupteinnahmequelle der Bands sind Auftritte bei privaten Feiern, die häufig von den narcos veranstaltet werden. Wo die Stars der Szene für einen Auftritt um die 100.000$ Dollar in Rechnung stellen, bekommen sogar mittelmäßig bekannte Gruppen bis zu 10.000$ für einen Abend Unterhaltung (Vgl. ebd.: 178).
Die Nähe zu den jeweiligen Drogenhandelsorganisationen und ihren Mitgliedern birgt allerdings auch die Gefahr, auf der „Abschussliste“ konkurrierender Organisationen zu landen. Lobeshymnen über ein Kartell ziehen den Zorn eines anderen nach sich. Dies kann fatale Konsequenzen haben. So wurde Sergio Gomez, der Sänger der für einen Grammy nominierten Band „K-Paz de la Sierra“ nach dem Auftritt in seinem Heimatstaat Michoacán entführt. Am Tag darauf wurde er zusammengeschlagen, gefoltert und stranguliert aufgefunden. Die Band war vermutlich einem falschen Kartell am falschen Ort auf die Füße getreten (Vgl. Beith 2012: 138).
Lässt man den Text einmal außen vor, klingt die Musik durchaus schnulzig bis erheiternd. Setzt man sich sowohl mit Melodie und Text auseinander, tragen die Lieder einen befremdlichen Charakter. Wenn die transportierten Botschaften letztlich noch im Kontext der sozialen Gegebenheiten in den mexikanischen Drogenhochburgen gesehen werden, lässt die Popularität der Musik einen verstörenden Blick auf die Mentalität eines nicht unerheblichen Teils der mexikanischen Bevölkerung zu.
Literatur:
- Beith, Malcolm: El Chapo – Die Jagd auf Mexikos mächtigsten Drogenbaron, München 2011.
- Grillo, Ioan: El Narco – The bloody rise of Mexican Drug Cartels, London 2011.
- Heufelder, Jeanette Erazo: Drogenkorridor Mexiko, Berlin 2011.
- Movimiento Alterado – El Sanguinarios del M1 (2010), auf: http://www.youtube.com/watch?v=mqnbxKUXfSg, 03.05.2010, abgerufen am: 11.07.2013.
- Movimiento Alterado: Movimiento Alterado Vol. 4, LA DISCO MUSIC, 2010. Online verfügbar unter: https://play.google.com/store/music/album?id=B72vlfeboejassmo4xpuqo34psi&tid=song-Tbotheldywshflmfqvszoe5ktmu&rdot=1&rdid=song-Tbotheldywshflmfqvszoe5ktmu.
- Quinones, Sam: True Tales from Another Mexico – The Lynch Mob, the Popsicle Kings, Chalino, and the Bronx, New Mexico 2001.
- Rüth, Lisa Eva-Maria (2009): Mexikanische Narcocorridos. Bachelorarbeit. Johannes Gutenberg – Universität, Mainz. Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft.
- Sánchez, Chalino: Alma Enamorada, auf: http://www.youtube.com/watch?v=mqnbxKUXfSg, 12.07.2008, abgerufen am: 10.07.2013.
- Vulliamy, Ed: Amexica – War along the Borderline, New York 2010.
- Wikipedia: Norteña, auf: http://de.wikipedia.org/wiki/Norte%C3%B1a, 13.04.2013, abgerufen am: 12.07.2013.
Jesus Malverde war ein mexikanischer Bandit, der zu Zeiten des Diktators Porfirio Díaz in die mexikanische Volksgeschichte einging. Nachdem der vom früheren Staatschef Díaz propagierte wirtschaftliche Aufschwung mithilfe ausländischer Investitionen ausblieb, ritt Malverde durch die heutige Drogenhochburg Culiacán, um von den Reichen zu stehlen und es den Armen zu geben. Folgerichtig gilt er heutzutage gemeinhin als mexikanischer Robin Hood. Seine Existenz wurde nie zweifelsfrei bewiesen. Überlieferungen zufolge wurde er von der mexikanischen Regierung an einem Baum aufgehangen und an selbigem zum Verrotten hängen gelassen, um ein Exempel gegen den zivilen Ungehorsam und den Aufstand gegen den Staat zu statuieren, wodurch Malverde zum Märtyrer avancierte (Vgl. Quinones 2001: 226f.). ↩
Für eine ausführlichere Darstellung der Geschichte der narcocorridos siehe Rüth, 2009 ↩
Joaquín Guzmán Loera („El Chapo“) ist der Boss des Sinaloa Kartells. Er wurde 2009 und 2012 vom Forbes Magazin in die Liste der mächtigsten Personen der Welt aufgenommen. Seit seinem Ausbruch aus einem mexikanischen Hochsicherheitsgefängnis im Jahr 2001 befindet er sich auf der Flucht. ↩
Die Beltrán Leyva-Brüder kontrollierten Jahre lang eine eigenes Gebiet im Namen des verbündeten Sinaloa Kartells.
Sie galten als Verantwortliche für die Sicherheit Joaquin Guzmáns und unterhielten ein eigenes Netzwerk von Auftragskillern zum Schutz der Führungsfiguren des Sinaloa Kartells und deren Angehöriger. (Vgl. Vuliamy 2010: 28 ↩Oberbegriff für verschiedene Stile mexikanischer Populärmusik, die vor allem im Norden Mexikos sowie in den Landesteilen oder Großstädten der USA mit hohem mexikanischen Bevölkerungsanteil verbreitet sind… (siehe Wikipedia ↩
Isamel „El Mayo“ Zambada ist der Geschäftspartner von El Chapo und die Nummer 2 des Sinaloa Kartells. ↩
(ebd.: 178f ↩
Christian Wickert schreibt
In den USA feiert Anfang Dezember der Dokumentarfilm Narco Cultura Premiere, der dem vielschichtigen Phänomen der Narco Corridos nachgeht. Mehr Informationen sind auf der offiziellen Webseite zum Film zu finden: http://narcoculture.com/
Synopsis
Trailer zu Narco Cultura
http://www.youtube.com/watch?v=UaJ_hru9Qk4