Eine Feier mit Tanz und Musik endete im August 2012 für 17 Menschen tödlich. Die Taliban ließen die Feiernden enthaupten.1 Noch nie waren Musik und Musiker einer so radikalen Verfolgung ausgesetzt wie unter dem Taliban-Regime. Jegliche Form, Aufführung und Verbreitung wurde in den Jahren 1996 bis 2001 unter der Herrschaft der selbst ernannten Gotteskrieger strikt verboten und konnte mit dem Tode bestraft werden. Doch wie in jedem Land, war und ist auch in Afghanistan die Musik Teil des Kulturreichtums. Auch in Afghanistan tanzten, sangen und feierten die Menschen gerne. Lachende Frauen mit kurzen Röcken und modernen Haarschnitte – das war kein seltenes Bild im Afghanistan der 60er Jahre. Viele dunkle Jahre der Unterdrückung und Diktatur, einhergehend mit der totalen Musikzensur der Taliban, sind seitdem nicht spurlos an dem Land vorbeigegangen.
https://www.youtube.com/watch?v=cxboRdXBwck
Video: Afghanistan during 1960s
Die Entwicklung der afghanischen Musikkultur
Afghanische Musik ist geprägt von persischen, hinduistischen und indischen Einflüssen. Typischstes Musikinstrument ist die sogenannte Rubab, ein Saiteninstrument, welches gezupft wird.2 Im Gegensatz zu persischer Literatur, welche eine jahrhundertelange schriftliche Tradition aufweist, wurde persische Musik meist nur mündlich überliefert. Musikalische Kenntnisse und Wissen wurden wenig verbreitet oder weitergegeben. Musiker erlernten vieles einfach selbstständig.3 Erst mit der Gründung der ersten Radiostation, Radio Kabul 1925, begann die Entwicklung populärer Musik in Afghanistan. Bereits 1929 wurde die Station infolge kriegerischer Auseinandersetzungen wieder zerstört und blieb 10 Jahre lang geschlossen. 1940 wurde sie offiziell neu eröffnet, innerhalb von sechs Jahren wurden Lautsprechersysteme in allen großen Städten verteilt. Musik musste radiotauglicher werden und somit entwickelte sich die afghanische Popmusik. Amateursänger wuchsen schlagartig aus dem Boden. Provinzmusiker, die wussten, wie man die Rubab spielt, wurden rekrutiert, um die Musik zu „upgraden“ und zu verbessern.4 Seit den 1930er nahm auch der Frauenanteil in der Musikszene stetig zu. Frauen sangen, tanzten und spielten überwiegend Harmonium, Tabla und Daireh (Trommel).
Die 1964 neu implementierte Verfassung sah nicht nur eine parlamentarische Demokratie vor, sondern ging auch mit einem neuen Pressegesetz einher, welches die Presse- und Meinungsfreiheit schützte. Musik, Theater, Kunst und Kultur konnten aufleben. König Zahir Shah, der Afghanistan von 1933 bis 1973 regierte, liebte Musik und lud zahlreiche Künstler aus Indien ein, damit sie in Afghanistan auftreten konnten.5
Sowjetische Besatzungszeit und Mudjaheddin
Einen ersten Dämpfer erfuhr die Vielfalt der afghanischen Musikkultur mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1978. Die freie Presse wurde verboten, private Theater geschlossen. Dennoch war die Musik aus dem täglichen Leben der Afghanen nicht mehr wegzudenken. Vor allem in der Region Herat wurde Musik weiterhin in allen möglichen Facetten praktiziert: Frauen und Männern, Bands und Solo Künstler performten religiöse als auch nicht religiöse Lieder. Die meisten Life Performances fanden auf Hochzeiten oder Familienfeiern statt, zu denen man dann 24 Stunden lang tanzte, feierte und sang. Auch Konzerte in größeren Städten konnten schon einmal 6 bis 8 Stunden dauern. Besonders der Fastenmonat Ramadan war von starker musikalischer Unterhaltung geprägt. In Restaurants und Cafés wurden nächtliche Konzerte veranstaltet. Musiker aus Kabul reisten nach Herat und spielten. Im städtischen, staatlichen Theater wurden ebenso jede Nacht Konzerte, Musicals und Dramas veranstaltet. Das Radio verbreitete populäre Songs im ganzen Land. Gespielt wurden Lieder aus ganz Zentralasien, dem Iran, Indien und Pakistan. Audiokassetten wurden immer beliebter und in Kabul entwickelte sich das Afghanische Musikzentrum mit technisch gut ausgestatteten Studios. Junge Afghanen hörten genauso gerne westliche Musik und auch Hotels versuchten mit dem Spielen der europäischen Musik, für westliche Touristen attraktiver zu werden. In 14 Jahren kommunistischer Herrschaft wurde die Musik zwar stark kontrolliert, aber nicht derart verboten, wie es beispielsweise in den afghanischen Flüchtlingscamps in Pakistan und Iran der Fall war.
Die sowjetischen Truppen zogen 1989 aus Afghanistan ab. Bis 1992 konnte sich die Regierung unter Präsident Mohammed Nadschibullah noch halten, dann übernahmen die Muddjahedin Kämpfer und Präsident Rabbani die Führung und gründeten den Islamischen Staat Afghanistan. Die Musik wurde fortan stark zensiert. Professionelle Musiker mussten erst eine Lizenz erwerben, welche genau festlegte, welche Lieder sie performen durften. Natürlich wurden vor allem solche genehmigt, die das Mujahhedin Regime lobpreisten. Liebes- oder Tanzlieder wurden fast ausnahmslos verboten, mit Verstärker durfte nicht gespielt werden, weibliche Musiker erhielten ein generelles Auftrittsverbot. Das „Ministerium für Tugendhaftigkeit und Prävention vor Lastern“ erschien nicht selten auf einer Hochzeitsfeier, konfiszierte Musikinstrumente und gab sie nach Zahlung eines Bestechungsgeldes erst Tage später den Musikern zurück.6 Die Diktatur hinterließ ihre ersten Spuren. Mit der Machtübernahme der Taliban 1994 sollte sich dies nur noch verschärfen.
Die Taliban ergreifen die Macht- Ende der Musik in Afghanistan
1994 nahmen die Taliban zunächst Kandahar ein. Von dort begannen sie, nach und nach, ihre strikten, mit westlichen Werten völlig kollidierenden Maßnahmen in der afghanischen Gesellschaft zu implizieren. Frauen wurde ab sofort verboten, einer Arbeit nachzugehen. Für viele Familien in Kabul, die durch die vorhergehenden Auseinandersetzungen jegliches männliches Oberhaupt verloren hatten, kam das einem Todesurteil gleich.
Die Taliban verboten jegliche visuelle Präsenz animierter Lebewesen, egal ob Mensch oder Tier. Das hatte die Folge, dass sämtliche Formen visueller Medien – Kino, Fernsehen, Video, Fotografien und Malerei, aus dem öffentlichen Leben verschwanden. Und natürlich, musikalische Unterhaltung wurde verbannt. Radio Kabul wurde umfunktioniert, um von nun an die Reglementierungen der Taliban zu propagieren. „Das Trinken von Alkohol wird mit Peitschenhieben geahndet“, ließen die Taliban am 28. September 1996 über Radio Kabul ankündigen. Videos, Satellitenschüsseln, alle Spiele einschließlich Schach, Fußball und Drachensteigenlassen wurden verboten. Radio Kabul wurde in Radio Schariat umbenannt.7 Wer als Mann ohne Bart auf der Straße angetroffen wurde, wurde verhaftet.
Hinsichtlich des Musikverbotes ließen die Taliban folgendes Dekret verlauten:
In Shops, Hotels, Autos und Rickschas sind Kassetten und Musik verboten. Wenn irgendwo eine Kassette mit Musik in einem Laden gefunden wird, so soll der Ladenbesitzer verhaftet und das Geschäft geschlossen werden. Wenn eine Kassette in einem Auto gefunden wird, so soll der Fahrer verhaftet werden. Wenn fünf Männer bürgen, so kann der Fahrer entlassen werden.
Laut Aussage des Erziehungsministers Mullah Abdul Hanifi stellten sich die Taliban gegen Musik, weil sie „Kopfschmerzen verursacht und vom Studium des Islam ablenkt“.8 Viele Musiker flohen nach Pakistan. Erlaubt waren ausschließlich Tonkassetten mit Koranzitaten und Gebeten.9 Demzufolge waren Töne nicht per se verboten. Die Taliban erlaubten keine Liebeslieder, sofern es aber um den Koran ging, waren Kassetten erlaubt. Geistliche Lieder ohne instrumentale Begleitung und patriotische Gesänge durften weiterhin gehört werden. Nach Ansicht der Taliban waren dies die einzigen Lieder, die nicht zu einem Sitten- und Werteverfall führen konnten.
Allgemein versuchen westliche Erklärungsmodelle das Musikverbot der Taliban mit deren streng fundamental ausgerichtetem Islamismus zu begründen. Allerdings verbietet kein anderer islamischer Staat Lieder, Töne und Musik als solches. Die Wahabisten in Saudi-Arabien beispielsweise verbieten Musik und Tänze zwar auch generell, dennoch werden Lieder im Radio und Fernsehen gespielt, CDs und Kassetten verkauft, nur öffentliche Konzerte sind sehr rar.10
John Street (2012) führt an, dass die Musik für die Taliban eine bestimmte Bedeutung hat. Es ginge den Taliban gar nicht so sehr um die Musik als solche, es sei somit kein der Musik innewohnender Wert, der ihr Verbot ausschlaggebend macht. Vielmehr geht Street davon aus, dass die Taliban zwischen den sowjetischen Besatzern und der Musik eine Verbindung herstellen. Die Sowjets nutzen die Musik im Radio, um ihre Autorität zu stärken. Für die Taliban waren die Sowjets Unterdrücker, ihre Unterdrückermethoden müssen sie demzufolge verbannen. Nicht die Töne, die Lieder als solche, aber die politische Assoziation war der ausschlaggebende Punkt für die Taliban.11
In den afghanischen Flüchtlingscamps in Pakistan und Iran wurde die Musik verboten, weil sie als „unpassend“ betrachtet wurde. In Zeiten von Krieg und einer Million Toten in 20 Jahren, sah man das Spielen von Musik als falsch an.12
Der englische Musikwissenschaftler John Baily forscht seit Jahren zur afghanischen Musik. Er nimmt an, dass die Taliban, ähnlich wie die christlichen Quäker, extrem puritanisch ausgerichtet sind und jegliche Form von Unterhaltung und Freude außerhalb der Religion ablehnen. Dies hat nicht unbedingt etwas mit dem Islam zu tun, die Quäker lehnten im 16 Jahrhundert ebenso jegliche Form von Kunst und Musik ab. Sie bezeichneten Musik als „unvorteilhaft für die Gesundheit der Seele“ und als „Verleitung zu schädlichen Assoziationen“ sowie „eitler Hingabe zu weltlichen Vergnügen“. In der sufistischen Ausrichtung des Islams wird Musik hingegen als „Nahrung für die Seele“ betrachtet, ein völliges Konträr zur Auffassung der Taliban. Die Einstellung der Quäker änderte sich über die Jahre. Heute gibt es viele Konzerte und musikalische Veranstaltungen in den Quäker Schulen. Musik scheint akzeptiert worden zu sein und wird nicht länger als „Sünde“ betrachtet. Baily hofft insofern auf eine Besinnung und positive Entwicklung.
Nach dem Taliban Regime
Mit der Intervention der amerikanischen Truppen 2001 zerfiel das Taliban-Regime teilweise. Doch noch immer kommt es vielerorts zu Angriffen und Toten. Viele Musiker kamen aus dem Exil in Pakistan, Iran und anderen Ländern zurück und begannen wieder zu spielen.13 In Kabul wurde das Nationale Institut für Musik eröffnet. Im September 2011 fand das erste Rockfestival in Kabul statt, obwohl die Taliban Tage zuvor noch mit Angriffen versucht hatten, die Auftritte zu verhindern. Das Festival war das erste offizielle in mehr als drei Jahrzehnten.14 Es ist Ausdruck einer unterdrückten Gesellschaft, die sich von den Fesseln der Musikzensur befreien will. Musik, Lieder und Tanzen waren immer Teil der afghanischen Kultur. Noch immer lebt es sich in Afghanistan als Musiker und Musikliebender gefährlich, wie der Anschlag vom August 2012 verdeutlicht. Dennoch sind die Tendenzen positiv. John Baily fordert, dass auch die UN und NGOs sich stärker für Künstler und Musiker in Afghanistan einsetzen müssen, damit das Land zu seiner kulturellen Identität zurückfände. Dies beinhalte vor allem finanzielle Unterstützung, Kurse und die Bereitstellung von Instrumenten. Baily sagte hierzu: „Wenn Afghanistan wieder eine freiere Radio- und TV-Kultur kennt, wenn Frauen öffentlich singen dürfen, werden wir daraus schließen können, dass das Land zu den Freiheiten zurückkehrt, die es in den 1970er Jahren vor dem Bürgerkrieg hatte“.15
Video zum Kabul Rock Festival 2011: http://www.youtube.com/watch?v=WMC1f6fTDUk
Quellen
- Baily, John (2011) Songs from Kabul: The Spiritual Music of Ustad Amir Mohammad
- Baily, John (2001) Can you stop the birds singing?: the censorship of music in Afghanistan
- Baily, John (1988) Music of Afghanistan: Professional Musicians in the City of Herat.
- Freemuse: Afghanistan: Music is making a comeback, 02.07.2012
- Müller, W. Wolfgang (2012) Musikalische und theologische Etüden: Zum Verhältnis von Musik und Theologie
- Rashid, Ahmed (2010) Taliban: Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch
- Reuters.com: Afghans rock at first music festival in three decades, 01.10.2011
- Spiegel Online: Gewalt in Afghanistan: Taliban enthaupten 17 Menschen, die Musik hörten, vom 27.08.2012
- Street, John Richard (2012) Music and politics, Cambridge: Polity, 2012
Spiegel Online: Gewalt in Afghanistan: Taliban enthaupten 17 Menschen, die Musik hörten, vom 27.08.2012 ↩
Baily 1988 ↩
Baily 2001: 47 ↩
Baily 1988:30 ↩
Baily 2011:22 ↩
Baily 2001:43 ↩
Rashid 2010: 86 ↩
Rashid 2010: 183 ↩
Müller 2012: 25 ↩
Baily 2001: 46 ↩
Street 2012: 13 ↩
Baily 2001: 10 ↩
Freemuse vom 02.07.2012: Afghanistan: Music is making a comeback ↩
Reuters.com vom 01.10.2011: Afghans rock at first music festival in three decades ↩
Baily 2001: 48 ↩