Musikgeschmack war schon immer von Generation zu Generation verschieden. Schon immer war es die junge Generation, die angeblich durch Musik gefährdet ist. Deswegen wurde Jugendmusik mit ihren Kulturen auch schon immer streng beobachtet, zensiert oder sogar verboten.
Einst war es Jazzmusik, danach Rockmusik und heute Rapmusik, die ihre jugendlichen Zuhörer zu vermeintlichen Straftätern werden lässt. Klaus Miehling (Musikwissenschaftler) behauptet „… dass Jugendliche der HipHop-Szene überdurchschnittlich oft sogenannte ‚Risikojugendliche‘ sind, die über ein hohes Aggressionspotenzial und über kriminelle Energie verfügen.“ Miehling hält aber nicht nur Gangsterrap, sondern auch DJ Bobo oder die Beatles für Gewaltmusik. (Vgl. Miehling, Klaus; Lütkehaus, Ludger (2006): Gewaltmusik – Musikgewalt. Populäre Musik und die Folgen. Würzburg: Königshausen & Neumann.))
Ein Mittel, um die angeblich gefährdeten Jugendlichen und ihren Musikgeschmack zu kontrollieren, stellt der sogenannte Parental Advisory-Sticker in den USA dar, der auf Initiative des Parents Music Resource Center (PMRC) ins Leben gerufen wurde. Das PMRC ging 1985 hervor aus der „National Parent / Teacher Association“ und machte es sich zur Aufgabe, die Obszönitäten und Gewaltdarstellungen in der Rockmusik zu beenden. Insbesondere sexuell explizite Textzeilen wie etwa „I knew a girl named Nikki […] I met her in a hotel lobby she was masturbating with a magazine.“ (Prince, Darling Nikki, Purple Rain, Warner Bros., 1985). Eine vom PMRC zusammengetragene Liste mit als anstößig empfundenen Liedern ging als Filthy Fifteen in die Musikgeschichte ein.
Liste der Filthy Fifteen
Künstler | Liedtitel | Inhalt | |
---|---|---|---|
1 | Prince | Darling Nikki | Sex/Masturbation |
2 | Sheena Easton | Sugar Walls | Sex |
3 | Judas Priest | Eat Me Alive | Sex |
4 | Vanity | Strap on Robbie Baby | Sex |
5 | Mötley Crüe | Bastard | Gewalt |
6 | AC/DC | Let Me Put My Love into You | Sex |
7 | Twisted Sister | We’re Not Gonna Take It | Gewalt |
8 | Madonna | Dress You Up | Sex |
9 | W.A.S.P. | Animal (Fuck Like a Beast) | Sex/Sprache |
10 | Def Leppard | High ‘n’ Dry (Saturday Night) | Drogenkonsum |
11 | Mercyful Fate | Into the Coven | Okkultismus |
12 | Black Sabbath | Trashed | Drogenkonsum |
13 | Mary Jane Girls | In My House | Sex |
14 | Venom | Possessed | Okkultismus |
15 | Cyndi Lauper | She Bop | Sex/Masturbation |
(Quelle: Wikipedia)
Die Genese des Parental Advisory Stickers
Das PRMC wehrte sich stets gegen den Vorwurf, eine Zensur populärkultureller Inhalte erreichen zu wollen. Vielmehr ging es den Mitgliedern darum, eine kausale Beziehung zwischen Rockmusik und sozialen Problemen wie Vergewaltigungen, Suizide von Jugendlichen und Teenager-Schwangerschaften aufzuzeigen. Gründungsmitglied Susan Baker wird in der Washington Post (1985) folgendermaßen zitiert:
It is our contention that pervasive messages aimed at children which promote and glorify suicide, rape and sadomasochism have to be numbered among the contributing factors1
Auffällig sind die Verbindungen des PRMC zur Politik, denn die weiblichen Führungsfiguren waren größtenteils mit hochrangigen Politikern aus Washington verheiratet (den sog. „Washington wives“). Unter den Gründungsmitgliedern des PMRC war u.a. die oben zitierte Susan Baker, Ehefrau des Finanzministers James Baker und auch Tipper Gore, die Ehefrau des späteren US-Vizepräsidenten Al Gore. In Anlehnung an die prominente Führungsperson wird der Parental Advisory Sticker auch Tipper-Sticker genannt.
Die Washington wives verfügten über die benötigten finanziellen Mittel und den Einfluss, um eine medienwirksame Kampagne zu initiieren, was im September 1985 in einer Senatsanhörung mündete, bei der verschiedene Musiker (u.a. Frank Zappa und John Denver), aber auch Vertreter der Musikindustrie Recording Industry Association of America (RIAA) anwesend waren.
Überraschenderweise ergriff die RIAA die Initiative und schlug noch vor Beendigung der Anhörung die Einführung eines Kennzeichnungssystems vor, ohne dass die PRMC darauf bestanden hätte. Das ursprüngliche Kennzeichnungssystem differenzierte zwischen vier als bedenklich erachtete Inhalte von Coverabbildungen und Liedtexten [V für Gewalt (violence); O für Referenzen auf okkulte Inhalte; D/A für Referenzen auf Drogen/ Alkohol; X für expliziten sexuellen Inhalt]. Dieses Bewertungssystem wurde 1989 durch den heute bekannten Aufkleber mit der Aufschrift „Parental Advisory. Explicit Content“ ersetzt.
Es kann vermutete werden, dass die RIAA einer Kennzeichnungspflicht bereitwillig zustimmte, um zum einen den Eingriff der Legislative durch diese Selbstverpflichtung zu verhindern und zum anderen die mutmaßlich noch strengeren Forderungen des PRMC abzuwenden. Außerdem bestand seitens der RIAA ein wirtschaftliches Interesse an der Einführung von einer Steuer für leere Tonträger (der sog. Home Audio Recording Tax), wofür man sich durch den erwähnten Schritt Unterstützung erhoffte.2
Dabei lassen sich die Bestrebungen des PRMC durchaus als „Moralunternehmertum“ (moral entrepreneur) betrachten, ein Begriff der vom US-amerikanischen Soziologen Howard S. Becker geprägt wurde. Dem Moralunternehmer missfallen gewisse soziale Trends und Normen und er ist bestrebt, sie zu ändern, indem oftmals der Zerfall von sozialer Integrität durch die neuartigen Verhaltensweisen postuliert wird. Dies kann dazu führen, dass die Ansichten des Moralunternehmers die Form des Gesetzes annehmen und somit gleichzeitig abweichendes Verhalten definiert und kriminalisiert wird. Oftmals sind die Moralunternehmer nur an der Durchsetzung des von Ihnen angestrebten Zustands interessiert, wobei die Wahl der Mittel Expertengruppen überlassen wird, die auf diese Weise ihren berufsständischen Interessen Geltung verschaffen können3.
Die Parallelen zum Parental Advisory Sticker Verfahren sind offensichtlich. Das Ziel des PMRC war die kausale Verbindung zwischen Rockmusik und dem Anstieg von sozialen Problemen wie Vergewaltigung, Suizid und jugendlichen Schwangerschaften aufzuzeigen. Die Bestrebungen waren davon getragen, die Kontrolle über die kulturelle Umgebung der Kinder wiederzuerlangen4. Ganz im Sinne einer moralischen Panikreaktion sahen viele Eltern ihre soziale Umwelt und deren Werte von Künstlern, die die gefühlte Grenze der Andersartigkeit überschritten, bedroht. Mit hochrangigen Befürwortern konnten sie den Kreis der Kritiker erweitern. Die gemeinnützige Organisation PMRC wird seit Gründung in den 80er Jahren von konservativen Politikern und bekannten Persönlichkeiten unterstützt. Mit ihrer Idee einer Warnung der Eltern vor potenziell jugendgefährdenden Texten konnte auch der Senat begeistert werden.5 Auch die Durchsetzung der Interessen von Expertengruppen in Form der RIAA ist in diesem Fall aufgetreten. Zu kennzeichnen ist ein Lied nach den Richtlinien der RIAA, wenn es eindeutige oder explizite Texte enthält, die Gewalthandlungen beschreiben oder verherrlichen, rassistisch, oder schwulen- oder frauenfeindlich sind.6 Entscheidend ist aber nicht immer der Liedtext, so ist das Instrumental(!)-Album von Frank Zappa nur wegen seines Titels „Jazz from Hell“ mit dem Warnsticker versehen.
Parental Advisory Sticker als „Quasi-Zensur“
Da es sich bei der Kennzeichnung jedoch um eine freiwillige Selbstverpflichtung handelte (das gilt auch für Großbritannien), haben meist ausschließlich die marktbeherrschenden Labels die Idee mitgetragen. Inzwischen nutzen viele kleine Labels den Sticker als Werbung für ihre Interpreten, weil Jugendliche sich oft gerade durch die vermeintlich jugendgefährdenden Texte angezogen fühlen. Was wohl auch dazu führt, dass bei den Onlinehändlern wie iTunes oder Amazon potenziell gefährdende Musik gekennzeichnet ist, wobei iTunes darüber hinaus durch bestimmte Einstellungen den Eltern die Sperrung des Zugriffs auf solche Lieder ermöglicht.
After 15 years of producing heavy metal and rap music, Charlie Gilreath changed his view of music’s influence on children after a brief car ride with his 11-year-old stepdaughter.
Gilreath says it wasn’t the song she was playing — Alanis Morrisette’s „You Oughta Know“ — nor the song’s subject matter — oral sex and obsessive love — that made him cringe. It was the fact that his daughter knew all of the words.
„Here’s this 11-year-old, and she’s singing the song without any awareness of what the lyrics she sang meant,“ Gilreath said. „This kid was posting these and other lyrics on her bedroom wall. She was getting this information, but she wasn’t getting any feedback from me or her mother.“7
Ein großer Erfolg für das PMRC und seine Unterstützer war das 1991 eingeführte Verkaufsverbot von CDs mit dem Parental Advisory-Sticker in allen Wal-Mart-Filialen in den USA. Da Wal-Mart der größte Einzelhändler in den Vereinigten Staaten ist und die Plattenfirmen enorme Umsatzeinbußen fürchteten (Wal-Mart ist für knapp 10% der Plattenverkäufe verantwortlich)8, führten sie zensierte Versionen ein, die dann ohne Sticker verkauft werden konnten. So findet über vermeintlich kaufmännische Entscheidungen Zensur statt. Bei einigen Labels sind inzwischen rund ein Viertel der Albumverkäufe Ausführungen dieser überarbeiteten Versionen.9
Kontrolle von Tonträgermedien in Deutschland
In Deutschland werden Alben nur aus marketingtechnischen Gründen mit dem Parental-Advisory-Sticker versehen, eine Verbindlichkeit durch den Aufkleber ist im deutschen Rechtsraum nicht gegeben. Der deutsche Jugendschutz ist gesetzlich geregelt und kennt keinen direkt vergleichbaren Warnhinweis für Musikstücke, wenn er jedoch greift, sind seine Auswirkungen wesentlich strikter. Grundsätzlich werden Kennzeichnungen in Deutschland durch verschiedene Selbstkontrollgremien der Industrie vorgenommen, die bei ihrer Alterseinstufung sogar eine Bindungswirkung für deutsche Behörden entfalten, solange man sich dabei an die vorgegebenen gesetzlichen Grundsätze hält.10
Die FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) ist ein Selbstkontrollgremium der Filmwirtschaft, das sich darauf konzentriert die verschiedenen FSK-Freigabesiegel für Filme (DVDs, Trailer, Werbefilme, Kinofilme etc.) zu vergeben. Nach dem gleichen Prinzip arbeiten die USK für Computerspiele und die FSM für Internetmedien. Zwar existiert keine Pflicht zur Prüfung der Medien durch die Kontrolleinrichtungen, im Falle der FSK hat sich die SPIO (Spitzenorganisation der Filmwirtschaft) aber dazu verpflichtet, nur von der FSK kontrollierte Produkte zu veröffentlichen, zudem dürfen diese Medien Jugendlichen ohne Einstufung nicht zugänglich gemacht werden.11
Eine solche, nach Altersabstufungen arbeitende Selbstkontrolleinrichtung existiert für Tonträger nicht. Tonträger mit problematischem Inhalt können nur von der BPjM (Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien) auf ihre Jugendgefährdung hin untersucht werden und werden bei Bejahung auf die Liste der jugendgefährdenden Medien (Index) gesetzt (Ein FSK oder USK Siegel schließt dagegen eine Indizierung aus). Die BPjM wird entweder auf Antrag eines Jugendamtes oder auf Anregung eines anerkannten Trägers der freien Jugendhilfe tätig und prüft nach § 18 I JuschG, ob „die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ in Gefahr ist. Von dem Indizierungsverfahren abgesehen sind bestimmte Medieninhalte wegen ihrer offensichtlichen Jugendgefährdung bereits kraft Gesetzes von Verbreitungseinschränkungen betroffen, ohne das es einer Aufnahme auf den Index bedarf. Hierzu zählen verschiedene nach dem Strafgesetzbuch verbotene Inhalte, wie Volksverhetzung und Pornographie12. So findet sich auf den Listen dann auch wenig überraschend ein entsprechender Mix aus gewaltverherrlichenden, überwiegend rechtsradikalen (80%)(http://www.bpjm.com/bpjmdotcom/)) und pornographischen Inhalten13.
Für indizierte Tonträger besteht ein umfassendes Werbeverbot und ein reguliertes Verkaufsverfahren, sodass ein vergleichbarer „Reiz-Effekt“ wie beim Parental-Advisory-Sticker nicht so einfach auftreten kann. Die Liste der indizierten (Ton-) Trägermedien (nicht jedoch die der Telemedien) ist öffentlich zugänglich, eine kritische Auseinandersetzung mit den angeblich jugendgefährdenden Inhalten ist daher prinzipiell möglich. Ein absolutes Verbreitungsverbot, bei dem die Musikstücke auch nicht an Erwachsene abgegeben werden dürften und beschlagnahmt werden, ist nur durch die Gerichte möglich. Eine entsprechende Einschätzung der BPjM hat keine rechtsverbindliche Relevanz.
Ein Beispiel für eine klassische Indizierung und die Wandlung des Gefährdungsverständnisses ist das Album „Debil“ von der Punkrock-Band „Die Ärzte“ aus dem Jahr 1984. Es wurde 3 Jahre später von der BPjM (damals: BPjS) indiziert, da es eine „verrohende Wirkung“ habe und auf „deviante Formen geschlechtlicher Befriedigung“ hinweise“, den Hörer schlussendlich „im Zustand angespannter, latenter Aggressivität“ entlasse. Im November 2004 wurde das Album dann aus dem Index gestrichen. Die Behörde führt nun die „satirische Form“ der Lieder an und sieht in Jugendlichen heutzutage medienkompetentere Persönlichkeiten, die die Fiktion der entsprechenden Stellen im Text einschätzen könnten.14
Wirksamkeit des Parental Advisory Stickers
Die Frage, ob Musik deviantes Verhalten verursacht und unterstützt, ist noch immer umstritten. So wie es Studien gab, die eine Regulierung für übertrieben kategorisierten, so gab es auch immer wieder Studien, die einen Zusammenhang zwischen „Gewaltmusik“ und Kriminalität vermuteten. Eine 2013 veröffentlichte niederländische Langzeitstudie zeigte, dass “loud, rebellious, and so-called ‘deviant’ music”, die von 12-Jährigen konsumiert wird, ein Prädiktor für späteres deviantes Verhalten ist. So soll ein 16-jähriger Teenager, der bereits mit 12 Jahren Punkrock gehört hat, eher zu späteren Diebstahlsdelikten neigen als ein jugendlicher Jazzliebhaber, der mit 12 Jahren bereits einmal gestohlen hat. Als Fazit sieht die Studie den neuen Blickwinkel, dass Musik in sehr jungen Jahren wesentlich deviantes Verhalten beeinflusst, im Gegensatz zu einem 17-jährigen Musikgeschmack.
Fraglich ist, inwieweit der Sticker seinen intendierten Zweck erfüllt. Den Zweck, auf der einen Seite Künstler und Labels aus Angst vor Umsatzrückgängen dazu zu zwingen, ausschließlich nicht jugendgefährdende Texte zu schreiben bzw. zu veröffentlichen und auf der anderen Seite Kinder und Jugendliche davor zu schützen, gefährdende Musik zu kaufen oder zu hören. Danny Goldberg, Chef von Gold Village Entertainment (ein US- amerikanisches Artist Management Unternehmen) beantwortet beides negativ: „Overall, I don’t think labels adversely effected sales […] and since kids – even before the Internet – were able to get what they wanted.“15
Kritiker bemängeln, dass Eltern oft gar nicht wissen, was genau der Sticker aussagt. Dies konnten Studien über die Effektivität der selbstregulierenden Verpflichtung der Musikindustrie veranschaulichen.
“It is a known fact that [parental advisory] stickers do not work. The RIAA and NARM’s own studies show that most parents do not know what a sticker means […] we believe the solution is to empower parents with the information they need to parent.”16 Das Vorhaben, Eltern aufzuklären, wird auch von BMG unterstützt, die zudem auch die Initiative befürworten, zu deklarieren warum das Album als jugendgefährdend eingestuft wurde.17
Eine Folge dieser Unbestimmtheit des Stickers ist, dass die Vermarktung einer gekennzeichneten CD trotz ihres eventuell jugendgefährdenden Textes überall und zu jeder Zeit möglich ist. Weil nicht wie bei Spielen oder Filmen nach Altersklassen ratifiziert wird, sondern nur die allgemeine potentielle Jugendgefährdung festgestellt wird, ist keine Fernsehsendung (demnach auch tagsüber), keine Zeitschrift, keine Homepage tabu – „…the music industry continued to place advertisements for explicit-content recordings labeled with parental advisories in popular teen media. Music industry members continued to place ads on shows that are highly popular with teens, such as Total Request Live on MTV…”18
Wie bei so vielen Verboten könnte man davon ausgehen, dass es Jugendliche eher reizt, ein Album zu kaufen, das die eigenen und andere Eltern nicht gutheißen; etwas zu konsumieren oder zu besitzen, was eigentlich nur Älteren erlaubt ist. So gelten gelabelte Alben heute eher als verkaufssteigernd19, wie polarisierende Künstler wie Marylin Manson, Eminem oder hierzulande Bushido zeigen.
Es gibt verschiedene Ansätze zur Bewertung des Einflusses von Parental-Advisory-Labels auf den Musikgeschmack von Jugendlichen. Auf der einen Seite die „tainted fruit theory“, nach der ein Warnhinweis die Jugendlichen der Art beeinflusst, dass sie die CD nicht kaufen, weil sie durch den Hinweis davon ausgehen, dass sie sich beim Konsumieren der Musik unwohl fühlen könnten.20
Auf der anderen Seite steht die „forbidden fruit theory“21, die auf Brehms Reaktanz-Theorie aufbaut. Als Reaktanz bezeichnet man z.B. einen Druck, der entsteht, wenn die eigenen Freiheitsspielräume eingeschränkt werden (wie Zensur). Das darauf folgende reaktante Verhalten beinhaltet, dass die verbotene Handlung weiter ausgeführt wird, sei es offen oder heimlich. Entscheidend für die Bewertung des Einflusses des Stickers ist, dass das Verbotene automatisch von der betroffenen Person aufgewertet wird. Nach dieser Theorie wirkt der Parental-Advisory-Sticker attraktiv für Jugendliche.
Neuere Studien zum Effekt des Parental Advisory-Stickers auf das Kaufverhalten Jugendlicher konnten im Rahmen einer Metaanalyse aufzeigen, dass Alben mit Warnung für die Eltern eher attraktiv auf Jugendliche wirken.22 Dies gelte für Jungen mehr als für Mädchen (Mädchen seien weniger angezogen von Gewalt und Sex) und weniger für jüngere als für ältere Jugendliche. Wichtiger sei jedoch, dass die Eltern aufgeklärt seien und mit ihren Kindern sprechen und diese wiederum aufklären würden.23 Dem würde sich auch die Vorsitzende der BPjM Elke Monssen-Engberding anschließen: „Medienschutz muss natürlich auch medienpädagogische Bemühungen tragen. Der Jugendmedienschutz dient dazu, die Eltern bei ihrer Erziehung zu unterstützen“.24
Musik diente schon immer zur Abgrenzung und Persönlichkeitsentwicklung. Manche Lücken zwischen den Generationen können und sollten nicht geschlossen werden. Vor allem ein Konstrukt, das unbestimmt und subjektiv vor potentiellen Gefahren warnt und meinungseinschränkend wirkt, kann dies nicht leisten.
Durch das Label auf dem Cover ist ein Prozess der Etikettierung unvermeidbar. Die Vorgeber der Richtlinien lehnen damit die Ausdrucksweise vieler Künstler ab und zensieren sie. Folglich wird ihr Verhalten als abweichend interpretiert. Der „moralische Unternehmer“, hier in Person der PMRC, konstruiert damit den sogenannten „Outsider“25. Der „moralische Unternehmer“ tritt weniger für einen möglichst effektiven und auf den Minderjährigen abgestimmten Jugendschutz ein, sondern er versucht durch die Etikettierung eher, die Grenzen seines eigenen Moral- und Wertehorizontes zu bewahren. Ausgeschlossen werden Ansätze, die die Minderjährigen in den Bewertungsprozess mit einbeziehen könnten und somit wechselseitig auch auf die Ansichten der Etikettierer einwirken. Um es mit Howard Beckers Worten kurz zu machen: deviant behavior is behavior that people so label.26
zitiert nach: Chastagner, Claude (1999): The Parents‘ Music Resource Center: from information to censorship. In: Popular Music 18 (02), S. 181 ↩
Street, John Richard (2012): Music and politics. Cambridge: Polity, S. 13 ↩
http://www.kriminologie.uni-hamburg.de/wiki/index.php/Moralunternehmer ↩
Claude Chastagner (1999). The Parents’ Music Resource Center: from information to censorship. Popular music, 18, S. 179-192 (S. 181 ↩
http://www.npr.org/blogs/therecord/2010/10/29/130905176/you-ask-we-answer-parental-advisory—why
when-how ↩http://www.riaa.com/toolsforparents.php?content_selector=parental_advisory ↩
http://www.freedomforum.org/packages/first/ratinggame/part3.htm ↩
siehe http://www.freedomforum.org/packages/first/ratinggame/part3.htm ↩
Vgl. für die FSK § 14 II i.V.m. VI JuschG, für Rundfunk und Telemedien §§ 14 ff., § 19 JMStV ↩
Vgl. §§ 11, 12 JSchG ↩
Vgl. §§ 15 II JschG, §§ 86, 130, 130a, 131, 184, 184a, 184b ↩
http://www.metal-mirror.de/cms/archiv/magazin-2-12/hauptartikel-musik-still-geschaltet-musikzensur-in-deutschland/ ↩
http://www.sonymusic.de/Die-Aerzte/Devil-Debil-Re-Release/P/1389378 ↩
http://www.npr.org/blogs/therecord/2010/10/29/130905176/you-ask-we-answer-parental-advisory—why-when-how ↩
Gilreath, Family Entertainment Guide, p.12-13 ↩
Prepared Statement of the Federal Trade Commission on „Marketing Violent Entertainment to Children: Self-Regulation and Industry Practices in the Motion Picture, Music Recording, and Electronic Game Industries“, III – C, October 1, 2002 ↩
Prepared Statement of the Federal Trade Commission on „Marketing Violent Entertainment to Children: Self-Regulation and Industry Practices in the Motion Picture, Music Recording, and Electronic Game Industries“, III – C, October 1, 2002 ↩
Pritchard, Peter, Hört dies nicht in ZEITonline vom 14.12.2007 ↩
Christensen/Lewis/College, The Effects of Parental Advisory Labels on Adolescent Music Preferences in Journal of Communication, März 1992, S. 106 ↩
Christensen/Lewis/College, The Effects of Parental Advisory Labels on Adolescent Music Preferences in Journal of Communication, März 1992, S. 106 ↩
Bushman/Cantor, Media Ratings for Violence and Sex Implications for Policymakers and Parents in American Psychologist, Februar 2003, S. 139 ↩
Bushman/Cantor, Media Ratings for Violence and Sex Implications for Policymakers and Parents in American Psychologist, Februar 2003, S. 139 ↩
http://www.metal-mirror.de/cms/archiv/magazin-2-12/hauptartikel-musik-still-geschaltet-musikzensur-in-deutschland/ ↩
Howard Becker, Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, 1981 ↩
Howard Becker, Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, 1981 ↩