Die meisten Autoren würden vermutlich verschweigen, wenn ihr Buchmanuskript von 90 Verlagen abgelehnt oder aber nur gegen eine fünfstellige Kostenbeiteilung gedruckt würde. Nicht so Dr. Klaus Miehling, der 2006 sein fast 700-seitiges Werk „Gewaltmusik – Musikgewalt. Populäre Musik und die Folgen.“ nach dreijähriger Verlagssuche bei Königshausen & Neumann publizieren konnte.
Der promovierte Musikwissenschaftler und Komponist klassischer Musik will mit dem vorliegenden Werk eine Lücke in der Medienforschung schließen. Im Geleitwort umreißt der Germanist Prof. Dr. Ludger Lütkehaus den Forschungsgegenstand: Während die Wirkung von Gewaltdarstellungen in visuellen Medien als mögliche Auslöser von Gewalt regelmäßig thematisiert werde, sei der Zusammenhang von „Gewaltmusik“ als Stimulus für Gewaltakte und als Form der akustischen Gewalt bislang kaum zur Kenntnis genommen. Herr Dr. Miehling leiste mit seinem Buch „eine Pionierarbeit“ (10).
Diese Pionierarbeit nimmt ihren Anfang mit der Feststellung, dass Musik emotional bewegend sein kann und eine Einfluss auf Affekte haben kann. Da es „keiner großangelegten wissenschaftlichen Untersuchungen“ (16) bedürfe, präsentiert der Autor auch bereits auf der ersten Seite seines umfangreichen Werkes eine Liste (s.u.) von Parametern, die das „Aggressionspotential einer Musik“ (ebd.) bestimme . Einen Verweis auf Erkenntnisse aus der Medienwirkungsforschung oder vielleicht sogar auf eine empirische Studie aus den Musikwissenschaften sucht man hier ebenso vergeblich wie eine Definition des Gewalt- und Aggressionsbegriffs.
Parameter zur Bestimmung des Aggressionspotential einer Musik (nach: Miehling 2006, 16)
+ aggressiv |
– aggressiv |
hohe Relevanz: | |
viel Schlagzeug | kein bzw. wenig Schlagzeug |
verzerrte Klänge | „natürliche“ Klänge |
aggressive, gespannte Singstimme | unaggressive, entspannte Singstimme |
mittlere Relevanz: | |
Rhythmen/ Betonungen gegen das Metrum | metrisch kongruente Rhythmen/Betonungen |
viele Synkopen | wenige Synkopen |
dissonant/unharmonisch | konsonant/harmonisch |
„saubere“ Intonation | „unsaubere“ Intonation |
laut | leise |
geringe Relevanz: | |
extreme Frequenzen (Tonhöhen) | mittlere Frequenzen |
undifferenzierte Rhythmen/Betonungen | differenzierte Rhythmen/Betonungen |
Melodie monoton oder extrem komplex | melod. abwechslungsreich, aber nachvollziehbar |
schnell | langsam |
Ein Blick auf die Parameterliste offenbart, dass hier nahezu alle Werke der populären Musik über alle Genregrenzen hinweg zu „Gewaltmusik“ erklärt werden. Gewaltmusik falle [mit Ausnahme der Werke von Liedermachern „soweit sie nicht in aggressivem Tonfall singen und/oder auf ihrer Gitarre herumtrommeln“ (24)] in den Bereich der U-Musik (Unterhaltungsmusik). Lediglich die „E-Musik“ (Ernste Musik) sei keine Gewaltmusik. Nach Miehling liegt der Unterschied in der ästhetischen Wirkung begründet:
Klassische Musik stellt Aggression dar, Gewaltmusik ist aggressiv. In der klassischen Musik bleibt immer eine Distanz zum Dargestellten gewahrt, Reflexion bleibt möglich, während Gewaltmusik Aggression verkörpert und schürt, und das Nachdenken ja gerade verhindern will. (25)
Die Unterscheidung zwischen E- und U-Musik liege neben der handwerklichen und kreativen vor allem in der moralischen Qualität (29). Die omnipräsente Gewaltmusik fördert nach Meinung des Autors hedonistisches Verhalten. Ihr Konsum zieht bei Kindern und Jugendlichen einen Abfall der schulischen Leistungen, eine sexuelle Züggellosigkeit, Aggression und schließlich deviantes und kriminelles Verhalten in den unterschiedlichsten Facetten nach sich.
Im Schlusswort (624) fasst Dr. Miehling zusammen:
Gewaltmusik bewirkt:
- Lernen und Einüben von Gewalt, Kriminalität und übersteigerter Sexualität durch Vorbild, Beobachtung, Nachahmung und Bestätigung;
- Desensibilisierung gegenüber Gewalt, Kriminalität und übersteigerter Sexualität durch Gewöhnung und Abhärtung;
- Herabsetzen von Hemmschwellen durch Ausschaltung des rationalen Denkens und Erhöhung der Risikobereitschaft: Rhythmus, „Beat“ und Lautstärke wirken wie eine Droge und führen zu psychischer Regression;
- sexuelle Erregung durch entsprechende Textinhalte, Dominanz des Rhythmischen und Infraschall.
Zum „Beleg“ seiner These trägt Dr. Miehling auf mehreren hundert Seiten unzählige Beispiele zusammen: Schilderungen von ausschweifenden Partys der Musik- und Unterhaltungsindustrie, Namen von Bands, die nach Meinung des Autors „Bekenntnis zu Drogen, Gewalt, Sexualität oder Satanismus“ (38) sind, Liedtitel, Interviewpassagen, Konzertberichte, Zeitungsausschnitte und eine seitenlange Auflistung (137-169) von Delikten, die von Musikern und Produzenten begangen wurden (So erfährt der Leser beispielsweise, dass Daniel Küblböck das Fahren ohne Führerschein zur Last gelegt wurde und Patrick Lindner der Steuerhinterzieher angeklagt war).
Der anscheinend lückenlose „Beweis“ der negativen Wirkung von Gewaltmusik, der hier in unfassbar akribischer Arbeit präsentiert wird, erweist sich – wie Richard von Georgie in seiner Rezension feststellt1- als eine zirkuläre Definition:
Gewaltmusik ist die Musik,welche mit Gewalt (delinquentes Verhalten, sexuelle Zügellosigkeit, Aggression etc.) in Zusammenhang gebracht werden kann. Gewalt ist jedoch zugleich das Resultat von Gewaltmusik. Somit läuft sowohl der empirische als auch der inhaltliche Widerspruch gegen die miehlingsche Darstellung „ins Leere“. Jeder Leser, der nicht dieser Argumentation folgt, wird automatisch zum Anhänger der „Gewaltmusik“ und somit zum Täter oder, im günstigsten Fall, zugleich zum unwissenden und manipulierten Opfer der Gewaltmusik.
Trotz (oder gerade aufgrund) der Unwissenschaftlichkeit der Arbeit, verspricht sie dem Leser eine kurzweilige Lektüre. In seiner Gänze ist das Werk kaum konsumierbar; jedoch verleiten die vielen Zitate zum Stöbern. Richtig unterhaltsam wird der Text, wenn der Autor durch seinen moralisierenden Ton beispielsweise Einblicke in seine Sexualmoral gewährt und die Entrüstung dem Leser geradezu entgegenschlägt.
Es steht am Ende der Arbeit jedoch außer Frage, dass es Herr Dr. Mieling, der Vorsitzende der Freiburger Initiative gegen Lärm und Zwangsbeschallung ist, durchaus Ernst meint, wenn er u.a. vorschlägt, Gewaltmusik durch E-Musik zu substituieren (598 ff.), gesetzliche dB-Richtwerte zu reduzieren, die Nachtruhe zu verlängern, Ausnahmeregelungen zu streichen sowie für ein Verbot von elektronisch verstärkter Musik auf Freiluftveranstaltungen, Musikbeschallung bei gleichzeitigem Alkoholausschank und der Nutzung von „Walkman“ eintritt.
Gegenüber einem Freiburger Stadtmagazin (siehe: Achtung, Gewaltmusik! ) gesteht Herr Dr. Miehling jedoch ein, dass seine „Pionierarbeit“ und Vision von einer Gewaltmusik-befreiten Gesellschaft noch ganz am Anfang steht.
[Nachtrag vom 13.03.2013]
Angeregt durch den Kommentar von Herrn Dr. Miehling möchte ich hiermit meine oben getroffene Aussage dahingehend korrigieren, dass der Autor den für seine Arbeit zentralen Begriff Gewalt sehr wohl definiert.
Es handelt sich um den einen folgenden Satz im Vorwort der Arbeit (12):
Wenn man den Begriff „Gewalt“ nicht zu eng faßt und darunter alles versteht, was unberechtigten körperlichen oder seelischen Zwang ausübt, was andere um ihren Besitz bringt oder diesen zerstört oder beeinträchtigt, letztlich jedes Verhalten, das die Rechte anderer verletzt, dann steht der Begriff Gewaltmusik nicht nur für den Klang , sondern auch für die Wirkung der Musik.
Einen Verweis auf die umfangreiche Literatur zum Gewaltbegriff findet sich nicht.
Im Unterkapitel 3.1.3 (403-415) fasst der Autor zudem Ergebnisse zur Medienwirkungsforschung zusammen – allerdings werden ausschließlich jene selektiert, die einen Wirkungszusammenhang von Medienkonsum und gewalttätigen Verhalten postulieren.
Einzige Ausnahme bildet die Katharsistheorie, die als Märchen (411) abgetan wird. Eine kritische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Theorien findet an keiner Stelle statt. In der Zusammenfassung (414) der referierten statistischen Korrelationen von Medienkonsum und gewalttätigem Verhalten wird schließlich suggeriert, es würde ein kausaler Wirkungszusammenhang bestehen:
Daraus folgt:
- Wer Gewaltmusik bevorzugt, ist geistig weniger leistungsbereit oder -fähig, nimmt eher Drogen, wird eher straffällig, ist aggressiver, feindseliger und sexuell aktiver.
- […]
- Klassikhörer haben die geringsten Delinquenzraten.
Hier erscheint mir ein Verweis auf die Übersichtsarbeit von Michael Kunczik und Astrid Zipfel (2002) [Gewalttätig durch Medien? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 44/2002), S. 29-37. Online verfügbar unter: http://www.bpb.de/files/P8CUER.pdf] angebracht, in der die beiden Autoren vor der „Do It Yourself Social Science“ im Bereich der Medienwirkungsforschung warnen (29), bei der die Faustregel gelte:
Je simpler die These aussieht, desto attraktiver und erfolgreicher ist sie für Außenstehen.
Wissenschaftliches Arbeiten sieht auf alle Fälle anders aus.
Georgi, Richard von (2011): Klaus Miehling: Gewaltmusik – Musikgewalt. Populäre Musik und die Folgen. In: Wolfgang Auhagen, Claudia Bullerjahn und Holger Höge (Hg.): Musikselektion zur Identitätsstiftung und Emotionsmodulation. Göttingen: Hogrefe (Musikpsychologie, 21), S. 210–214. Online verfügbar unter http://www.funkkolleg-musik.de/files/5413/2741/8654/miehling.pdf ↩
Mutter schreibt
Das klingt ein bißchen so wie „Nagetiere“ von Kurt Floericke.
Dr. Klaus Miehling schreibt
„Einen Verweis auf Erkenntnisse aus der Medienwirkungsforschung oder vielleicht sogar auf eine empirische Studie aus den Musikwissenschaften sucht man hier ebenso vergeblich wie eine Definition des Gewalt- und Aggressionsbegriffs.“
Ja, „hier“, an der entsprechenden vom Rezensenten genannten Stelle. Der Leser muss jedoch den Eindruck erhalten, dies fehle überhaupt im Buch, und das trifft nicht zu. Der von mir verwendete Gewaltbegriff ist bereits im Vorwort definiert (S. 12), wissenschaftliche Studien werden im Unterkapitel 3.1.3. betrachtet. In den über sechs Jahren seit Erscheinen des Buches sind weitere hinzugekommen, die meine Thesen bestätigen.