Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Criminologia Preisausschreibens von Kristin Huf eingereicht.
Ciudad Juárez ist eine nordmexikanische Stadt, die im Bundesstaat Chihuahua liegt. Sie grenzt an die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Stadt befindet sich im Kampfzentrum von Drogenkartellen. Zudem werden in Juárez auffällig viele Frauen im Alter zwischen 16 und 40 Jahren auf brutale Art und Weise getötet. Viele der Frauen wohnen beengt in der Nähe der Maquiladora Fabriken, in kleinen Siedlungen. Nur circa 3 von 100 Frauen haben studiert, die Mehrheit verfügt über einen Grundschulabschluss. Nach Angaben der Misión Internacional por Acceso a la Justicia en la Región Mesoamericana fanden von Januar 2009 bis Juni 2010 etwa 1728 Morde statt, die unter den Begriff des Feminicido fallen. Die meisten Fälle von Feminicido ereigneten sich in den Bundesstaaten Estado de México, Chihuahua und Oaxaca (siehe: http://www.quetzal-leipzig.de/lateinamerika/mexiko/zahl-der-frauenmorde-in-mexiko-erneut-gestiegen-19093.html). María de la Luz Estrada, die Koordinatorin des Observatorio Ciudadano Nacional de Feminicidos, sagte aus, dass sich die Frauenmorde in Ciudad Juárez von 2009 mit 117 Todesfällen auf das Jahr 2010 mit 306 Todesfällen, nahezu verdoppelt haben (ebd.). Bei einer Gesamteinwohnerzahl von 1,2 Millionen gilt Juárez aufgrund der vielen Morde und Todesfälle als gewalttätigste Stadt des Landes (ebd.).
Die Frauenmorde von Ciudad Juárez
Die Morde von Juárez begannen im Jahr 1993. Bis zum Jahr 2008 verschwanden über 500 junge Frauen, wobei die Dunkelziffern der Vermissten und Ermordeten weitaus höher liegen. Die Frauen werden von Unbekannten entführt, tagelang festgehalten, gefoltert und vergewaltigt, bis sie dann schließlich getötet werden. Die Tötungen erfolgen entweder durch Strangulation oder Messerstiche. In vielen Fällen werden die Leichen der Frauen verstümmelt, verbrannt und wie Müll entweder in der Wüste, im Straßengraben oder am Straßenrand entsorgt. Es gibt einige Fälle, in denen die Leichen sogar offensichtlich vor die Eingänge der Maquila-Industriegebäude abgelegt wurden. Man spricht in dem Zusammenhang der Frauenmorde sogar offen von Feminizid. Sehr oft werden die Leichen auch erst Jahre später gefunden oder sie sind für immer verschwunden.
Viele der Opfer arbeiteten in den Maquiladoras, ausländische Fabriken, die sich in Grenznähe aufgebaut haben und die Armuts- und Notlagen von Juárez ausnutzen, um so billige Arbeitskräfte zu bekommen (vgl. ebd.).
Diana Washington, eine US-amerikanische Autorin, ist der Meinung, dass die Frauenmorde auf „(…) ein perverses Freizeitvergnügen von Yuppies aus dem Drogenmilieu“ zurückzuführen sein. Marisela Ortiz von der Organisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa (Für die Rückkehr unserer Töchter nach Hause, NHRC) kann diese Aussage unterstützen. Sie geht davon aus, dass circa 80-130 der getöteten Frauen in das Schema der Drogenmafia passen würden: „Die Art, wie viele Frauen entführt, gefoltert und getötet werden, entspricht dem Vorgehen der Drogenmafia.“ (ebd.). Zudem sei der Feminizid zu der Zeit aufgekommen, in der die Drogenmafia Fuß in Juárez fasste und an Stärke gewann.
Esther Cháves von der Organisation Casa Amiga sieht auch die vorherrschende patriarchale Gewalt als einen Auslöser der Frauenmorde an. Die Rolle der Frau habe sich im Laufe der Zeit in Ciudad Juárez verändert. Die Frauen sind selbstständiger geworden, sind vermehrt für ihr Leben verantwortlich und entscheiden ihren Lebensweg selbst. Sie haben zudem die Rolle der Hauptversorgerinnen der Familie angenommen und somit dem Mann diese Rolle streitig gemacht. Die Männer würden darauf mit Verunsicherung reagieren (vgl. ebd.).
Innerhalb von inzwischen schon 19 Jahren hat sich Ciudad Juárez zu einer Hochburg der Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen entwickelt. Der Feminizid ist eine ständige Bedrohung für jede Frau, die in Ciudad Juárez lebt oder sich aufhält. Über 1.205 Frauen sind im Jahr 2004 laut dem Bericht der Parlamentarierkommission dem Feminizid zum Opfer gefallen. Täglich werden mindestens 4 Frauen in Ciudad Juárez getötet und von den Mördern fehlt jede Spur oder die Beweise wurden vertuscht oder sind verschwunden (vgl. ebd.).
Das Modell des Feminizid
Rita Laura Segato, Anthropologin an der Universität in Brasília, hat sich mit den Frauenmorden in Juárez beschäftigt. Für sie sind die Frauenmorde ein „Mittel der Kommunikation“, das sowohl nach innen als auch nach außen wirkt. Segato spricht in ihrem Artikel offen über ihre Vermutungen, wer die Täter sind. Sie sagt, dass Personen aus dem Drogenhandel, der High Society und auch Personen mit Macht und Einfluss für die Morde verantwortlich sind. Auch die Strafverfolgungsbehörde sei demnach nicht unschuldig oder loyal der Bevölkerung und ihrem Zweck gegenüber, nämlich die Morde aufzuklären und die Täter zu finden, sondern sie sind oft selbst in die Morde verstrickt. Was nichts anderes bedeutet, als dass die Polizei korrupt ist und sich dem falschen Zweck opfert, nämlich Spuren zu verwischen, vertauschen, verlieren, Beweismittel verschwinden zu lassen, Unschuldige zu beschuldigen und ins Gefängnis zu bringen, deren Aussagen oft unter Folter erzwungen wurden. Das Mitwirken der oben genannten Personen bei den Frauenmorden drückt nach Segato „(…) Loyalität (…), Verbrüderung (…)“ und auch das Abstecken des Territoriums aus.
Für Segato sind Sexualverbrechen nicht das Werk von „fehlgeleiteten Einzelpersonen, nicht das Ergebnis geistiger Krankheit oder sozialer Anormalität, sondern der Ausdruck einer zugrunde liegenden symbolischen Struktur, die unsere Handlungen und Phantasien prägt und sie dadurch verstehbar macht. (…) Der Aggressor und die Gesellschaft teilen gleichermaßen ein Geschlechterbild, sie sprechen die gleiche Sprache und können sich verstehen.“ (Ebd.). Aus ihren Untersuchungen und Interviews mit Sexualstraftätern konnte sie herausfinden, dass die Täter die Taten keineswegs aus Einsamkeit oder asozialen Tendenzen heraus begangen haben, sondern dass Vergewaltigung für sie eine Art der Kommunikation mit der Gesellschaft darstellt, „(…) dass sie sich in einer ‚Nische der Kommunikation‘ aufhalten, in die eingedrungen wird und die damit auch verstanden werden kann.“ (ebd.). Die jungen Frauen wurden alle nach dem gleichen Muster getötet. Sie wurden entführt, eingesperrt, gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt, misshandelt, gewürgt und anschließend getötet.
Vergewaltigungen erscheinen als eine „Kommunikationsstruktur“ (ebd.) mit der Dominanz, Besitz und Kontrolle über die Frau ausgeübt und ausgedrückt wird. Bei den Massenvergewaltigungen der Frauen wird mit der Durchführung der Vergewaltigung eine Art Zeichen gesetzt. Der Vergewaltiger demonstriert seine Dominanz und Männlichkeit gegenüber den anderen Anwesenden. Der Tod der Opfer wird nicht als einfacher Tod begriffen, sondern stellt eine Machtausübung dar, die Ausdruck einer Mitteilung an die Anwesenden ist. „Wenn die Vergewaltigung eine Mitteilung ist, braucht sie notwendigerweise auch einen oder mehrere Gesprächspartner, die physisch damit erreicht werden oder in den Gedankenstrukturen aufgesucht werden können.“ (ebd.). Somit dient die Vergewaltigung als Botschaft, die auf zwei Achsen der Kommunikation wirkt:
- Kommunikation mit dem Opfer auf vertikaler Achse. Hier wirkt der Akt der Vergewaltigung auf das Opfer als Adressaten. Die Vergewaltigung hat hier eine moralische und auch strafende Bedeutung: „(…) der Vergewaltiger ist der Verteidiger der sozialen Moral, der über das Schicksal der Frau, das darin besteht, besessen, dominiert, diszipliniert und beschnitten zu werden, wacht.“ (ebd.). Somit werden die Geschlechterverhältnisse Mann und Frau erneuert und festgehalten.
- Kommunikation mit Gleichgesinnten und Anwesenden als horizontale Kommunikationsachse. Die Vergewaltigung wirkt hier als eine Art Ritual. Man befindet sich im Wettstreit mit den anderen Anwesenden und versucht, seinen Platz in der Männergesellschaft zu finden und zu verteidigen. Somit ist die Vergewaltigung an den männlichen Status gekoppelt, der immer wieder von neuem ausgehandelt und bestätigt werden muss. Die Kosten für die Aufnahme des Vergewaltigers in die Reihen der Gleichgesinnten trägt die Frau mit ihrem Leben.
Wenn man sich weiter Gedanken über die Frauenmorde von Juárez macht, dann kann man auch noch eine dritte Ebene der Kommunikation herausfinden: - Kommunikation mit der Gesellschaft: Da die Täter durch die Morde auch mit der Gesellschaft von Juárez kommunizieren, tritt diese Ebene als ein wichtiges weiteres und nicht zu ignorierendes Indiz hervor: Durch die Straflosigkeit und Korruption der Strafverfolgungsbehörden wird der Gesellschaft von Juárez deutlich gemacht, dass die Täter auch Dominanz über die Stadt ausüben. Diese Dominanz sagt aus, dass sie nicht strafrechtlich verfolgt werden und demnach auch nicht aufgehalten werden können. Sie werden immer weiter Frauen entführen, vergewaltigen und töten. Sie drücken damit Herrschaft über ganz Juárez aus und das impliziert ebenso eine Herrschaft über Justiz, Politik und Regierung. Sie heben sich selbst in den Stand der Herrschenden und „Eigentümer“ (ebd.).
Durch die „systematische Straflosigkeit“ (ebd.) wird ein sogenannter „zweiter Staat im Staat“ erschaffen, was bedeutet, dass sich ein „Parallelstaat“ entwickelt hat, der an Stärke gewonnen hat und somit eine „Schwächung der Institutionen der Regierung“ (ebd.) nach sich zieht und dadurch erneut an Stärke gewinnt (vgl. http://www.atencoresiste.org/web/index.php?article_id=49&clang=0).
Marisela Ortiz erkennt in dem Modell des Feminizid Ähnlichkeiten bei den Opfern: Es handele sich um junge, dunkelhäutige, schlanke hübsche Frauen mit langen Haaren, die arm sind und entweder Studentinnen sind oder in Maquiladoras arbeiten (vgl. http://www.atencoresiste.org/web/index.php?article_id=48&clang=0). Ortiz geht davon aus, dass die Leichen für den Mörder einen Symbolgehalt aufweisen: „Es ist eine Sprache, die von den Frauenmördern benutzt wird und die wir bis jetzt noch nicht entziffern konnten.“ (ebd.). Als Beispiel fungieren folgende Fälle: 2001 wurden acht Frauenleichen vor den Verband der Maquiladoras geworfen. Der Körper von Lila Alejandra Garcia wurde vor der Maquiladora abgelegt, in der sie tätig war. Es wird vermutet, dass sie auch dort entführt wurde (vgl. ebd.).
Die Ursachen des Feminizids von Juárez können als ein „komplexes Geflecht“ (vgl. http://www.quetzal-leipzig.de/lateinamerika/mexiko/frauenmorde-und-keine-aufklarung-die-frauen-von-juarez-19093.html) verstanden werden. Anzusprechen wären hier:
- die veränderten Genderbeziehungen,
- Migration und schnelles Wachstum der Maquiladora Industrie,
- Privatisierung der Sicherheitssysteme und deren Verbindungen zur Drogenszene,
- Vermischung von Politik und Großunternehmen mit der Drogenszene,
- „(…) Erweiterung des Spielraumes der Drogenmafia, und die Transformation ihres Aktionsraumes auf ganz neue Tätigkeitsfelder, die nicht allein die Drogen, sondern auch solche Bereiche der Gesellschaft betreffen, die traditionell von Wirtschafts-, Sicherheits-, oder Politikeliten besetzt wurden.“ (ebd.),
- Grenzenlosigkeit von Konsum und Käuflichkeit durch die Maquiladora-Industrie, was dazu führt, dass der Körper zur Ware, zum Konsumartikel wird. „Bei den Frauenmorden geht es in erster Linie um Geld – viel Geld-, Drogen und Gewinn (…)“ (ebd.).
- Mitverantwortung der Maquiladora-Industrie durch die Schaffung von neuen frauenfeindlichen Geschlechtsmustern, „(…) Genderverständnis und Machtasymetrien zwischen den Geschlechtern (…)“ (ebd.). Was den Körper der Frau als „billiges Arbeitsinstrument“ (ebd.) abwertet und das Verständnis dafür schafft, dass der Körper einer Frau als „(…) entpersonalisierter Nutzgegenstand für sexuellen Missbrauch, Folterungen und Tötungen (…)“ benutzt wird. Dieses Verständnis ergibt sich daraus, dass die Frauen in den Maquiladora jederzeit entlassen oder „weggeworfen“ (ebd.) werden können. Dieses Muster findet man bei den Morden ebenfalls, indem die Körper der geschändeten Frauen auch einfach weggeworfen werden.
Somit fungiert Juárez als ein „ (…) warnendes Beispiel für die fundamentale Bedrohung der Menschenrechte und Frauenrechte, die aus einer ungerichteten und national entgrenzten Industrialisierung und einer Überbewertung des Marktes verbunden mit dem Machtzuwachs der Drogenszene und der Kriminalisierung von Politik hervorgehen.“ (ebd.).
Die Strafverfolgungsbehörde ist bei den Ermittlungen nicht sonderlich behilflich, sondern legt nur noch weitere Steine in den Weg. Rechtsanwälte und Journalisten, welche das Thema der Frauenmorde ansprechen, werden bedroht oder geraten selbst in den Mittelpunkt der Ermittlungen.
Besonders wichtig ist, dass die Morde seit 1993 geschehen und noch immer geschehen. Leider gibt es weder ernsthaft gemeinte Untersuchungen der Mordfälle, noch Aufklärung oder Ergebnisse, die in irgendeiner Art und Weise sichtbar sind. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass sich die Täter in einem Raum der Straffreiheit aufhalten, in dem weder Justiz noch Politik oder Regierung in der Lage sind, einzugreifen und dafür zu sorgen, dass die Morde in Juárez aufhören.
Es ist nicht nur so, dass die Strafverfolgungsbehörden zu wenig unternehmen, sondern die Täter sogar decken. Die Straflosigkeit schafft immer neue Morde und bringt immer neue Täter hervor. Seit Felipe Calderón im Dezember 2006 zum mexikanischen Präsidenten ernannt wurde, gibt es keine Thematisierung der Frauenmorde mehr. Das Thema wird vollkommen totgeschwiegen.
Quellenverzeichnis
Amnesty International
- Die ständige Bedrohung: Seit 1993 wurden in Mexiko über 500 junge Frauen ermordet, unter URL: http://www.amnesty.de/umleitung/2008/deu05/064?lang=de%26mimetype%3dtext%2fhtml (Letzter Zugriff: 28.10.2012).
- Frauenmorde in Ciudad Juárez – Ermittlungen der Behörden weiterhin unzureichend, unter URL: http://www.amnesty.de/umleitung/2005/deu07/033?lang=de%26mimetype%3dtext%2fhtml (Letzter Zugriff: 28.10.2012).
Atenco Resiste
- Antenco Resiste Interview zu Ciudad Juarez. Die Straflosigkeit muss die Justiz lösen. Telefonisches Interview mit Marisela Ortiz, unter URL: http://www.atencoresiste.org/web/index.php?article_id=48&clang=0 (letzter Zugriff: 18.10.2012).
- Die Handschrift auf den Körpern der ermordeten Frauen von Ciudad Juárez, unter URL: http://www.atencoresiste.org/web/index.php?article_id=49&clang=0 (Letzter Zugriff: 28.10.2012).
Quetzal -Politik und Kultur in Lateinamerika, Online-Magazin
- Frauenmorde und keine Aufklärung. Die Frauen von Juarez, unter URL: http://www.quetzal-leipzig.de/lateinamerika/mexiko/frauenmorde-und-keine-aufklarung-die-frauen-von-juarez-19093.html (Letzter Zugriff: 28.10.2012).
- Zahl der Frauenmorde in Mexiko erneut gestiegen, unter URL: http://www.quetzal-leipzig.de/lateinamerika/mexiko/zahl-der-frauenmorde-in-mexiko-erneut-gestiegen-19093.html (Letzter Zugriff: 29.10.2012).
[…] Criminologia: Der Feminizid von Ciudad Juárez – Zuletzt aufgerufen am 10.09.2014 [↩] […]