Anders Bering Breivik, der Attentäter von Oslo und Ütöya, hat gestern sein Urteil erhalten. Die Frage „krank oder kriminell“ wurde durch das Gericht in Oslo im Sinne der letztgenannten Kategorie beantwortet, wobei das „oder“ wohl lediglich rechtstechnisch und nicht ontologisch zu verstehen ist. Das maximal Mögliche wurde ausgeschöpft: 21 Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Theoretisch kann Breivik nach 10 Jahren freikommen, aber damit ist kaum zu rechnen. Breivik grinste während der Urteilsverkündung in sich hinein, hatte er doch sein wesentliches Ziel erreicht – nicht psychiatrisiert und damit als Aussagesubjekt ausgeschaltet zu werden. Er hatte das System unterlaufen, ihm seine eigene Hilflosigkeit überschrieben und die Macht, die „systemische Gewalt“ zu seinen Gunsten instrumentalisiert. Während die Psychiatrisierung als Auslöschung aller Identitätsansprüche hätte gelten können, wird ihm nun eine gerichtlich sanktionierte Identitätsstabilisierung sondergleichen zuteil – als Schwerverbrecher, der wusste was er tat und dies auch wollte. Das Gericht attestierte Breivik einen eigenen Willen – und das könnte vielleicht das geheime Ziel des ganzen Unternehmens gewesen sein. Um sein weiteres Leben muss er sich nicht mehr kümmern, das tun nun andere für ihn. Seine Identität kann ihm aber keiner mehr nehmen.
Das Urteil des Gerichts über Breiviks Geisteszustand hängst wohl im Wesentlichen damit zusammen, dass dessen Anschauungen von anderen geteilt werden – die Prämisse ist offenbar, dass Verrücktheit nur privat sein kann. Das Gericht wird nun von allen Seiten gelobt – und damit lobt sich die etablierte westliche Bürgerlichkeit selbst. Dass sie im Rechtsextremismus vielleicht so etwas wie ihr konstitutives Außen vorfinden könnte, bleibt dabei wohl ein blinder Fleck.
Sebastian Scheerer schreibt
Klug gesagt. Aber eine Frage noch: auf dem Bild scheint mir Breivik zufrieden zu lächeln. Warum die abwertende Bezeichnung „grinste in sich hinein“? Was soll uns das Wort grinsen in dem Zusammenhang suggerieren? Dass es sich um einen „abartigen“ Täter (so Reinhard Müller in der FAZ) handelt? Der Prozess in Oslo war auch deswegen beeindruckend, weil man auf – mit Verlaub – billige semantische Stigmatisierungen weitgehend verzichtete. Das steht einer „bürgerlichen“ Gesellschaft gut an. Und nur die hat – im Idealfall – Respekt vor der Würde des Menschen. Eines jeden.
Andreas Prokop schreibt
Ich verstehe Deinen Punkt. Das mit dem Grinsen sagte übrigens auch ein norwegischer Kommentator, aber ich beziehe mich hier auf Szenen, die in den Nachrichten gezeigt worden sind und wo das Lächeln nach meiner Wahrnehmung – etwas anders als auf dem Bild – tatsächlich zu einem Grinsen verzerrt war, das auch innere Spannungen deutet. Da sehe ich nicht unbedingt etwas „Abartiges“ aber etwas Infantiles, Unreifes durchschimmern. Es zeigt m. E. auch einen inneren Konflikt, eine innere Disparität an. Inwieweit diese Unreife aber wiederum auch auf soziale bzw. gesellschaftliche Konfliktlagen verweist, ist eine andere Frage.
Hinzufügen möchte ich noch, dass das Paradoxe an dem Schuldspruch sein könnte, dass er von Breivik – folgt man den subjektkonstitutiven Überlegungen von Judith Butler (und Louis Althusser) – geradezu als Freispruch von aller Schuld empfunden sein könnte. Denn der Schuldspruch weist Breivik einen klaren Status zu, dessen Fehlen dieser theoretischen Position zufolge ein sozusagen apriorisches Schuldgefühl evoziert. Massenmörder, Rechtsextremist, Amokläufer – das sind gesellschaftlich „anerkannte“, das heißt semantisch inaugurierte Statusbezeichnungen (deren „gemeinter Sinn“ im Übrigen durch Neubesetung unterlaufen werden kann).
Und auch die Würde des Menschen bezieht sich m. E. nur auf diesen abstrakten Status (als Subjekt der Sprache).