Was wäre Romeo ohne Tybalt, Sherlock Holmes ohne Professor Moriarty und Harry Potter ohne Voldemort? Jedes Drama entfaltet seine Spannung aus dem Konflikt zwischen Protagonist und Antagonist. Fehlt einer dieser Pole bleibt das Schauspiel eine monologische Selbstdarstellung.
Am gestrigen Abend, dem 30. April – Walpurgisnacht – 2012, lockten fast sommerliche Temperaturen einige Hunderte Besucherinnen und Besucher in die Cafés und Bars im Hamburger Schanzenviertel rund um die Rote Flora. Ganz vereinzelt fanden sich Personen unter den Besuchern, die in schwarzen Kapuzenpullis gekleidet waren und eine Vorahnung auf das boten, was unter Umständen hätte folgen können: eine erneute Auflage der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Protestlern und der Polizei rund um den Tag der Arbeit.
Das Drama fiel jedoch aus. Denn Polizisten suchte man gestern Abend im Schanzenviertel vergeblich. Gegen 1 Uhr nachts waren einige der Akteure der Warterei überdrüssig und begannen das Schauspiel, indem sie einen Müllhaufen auf der Straße vor der Roten Flora aufschichteten und entzündeten. Das umherstehende Publikum quittierte den Beginn des ersten Aktes mit anfeuernden „Jetzt geht’s los!“-Rufen. Die Polizei schien jedoch ihren Einsatz verpasst zu haben; nicht einmal der brennende Müllhaufen lockte die Ordnungskräfte hinter dem Vorhang hervor. Der aus den Vorjahren gewohnte Aufzug in Kampfmontur mit Wasserwerfern blieb aus. Das Publikum wurde schließlich ungeduldig und versuchte mit einem Sprechchor („Wo sind die Bullen?“), die Polizei doch noch aus der Reserve zu locken.
Doch alles Rufen war gestern Abend vergeblich – die Polizei hatte ihren Auftritt schlicht geschwänzt und war nicht zum Festplatz erschienen. Somit war der erste auch der letzte Akt des Abends und endete mit dem Abgang eines Laiendarstellers von der Bühne, der etwas hektisch seinen gegenüber der Roten Flora geparkten BMW entfernte.
Die Selbstdarstellung der Protestler fand ein schnelles und überaus harmloses Ende: das Feuer wurde von den enttäuschten Wartenden gelöscht und die Straße wieder freigeräumt (siehe auch hier).
Ob das Warten auf den zweiten Akt unter Beteiligung aller Akteure am heutigen 1. Mai ebenso vergeblich ist, wie das Warten auf Godot, steht zum Zeitpunkt, da dieser Beitrag verfasst wird, noch nicht fest. Eindeutig hingegen ist, dass die Krawalle um den 1. Mai im Wesentlichen ein hochstilisiertes Schauspiel sind, dessen Inszenierung ganz wesentlich von der Rolle der Polizei abhängt.
Rafael Behr schreibt
Lieber Christian,
die Polizei hat keineswegs ihren Auftritt verpasst, sondern stand hinter den Kulissen bereit. Viele junge Komparsen bereiteten sich für den Auftritt vor, der wieder aus einem mittelalterlichen Kampfschauspiel bestehen sollte. Zufällig war ich in der „Garderobe“ des Theaters in Alsterdorf, das man offiziell „PU“ (für Polizeiunterkunft) nennt. Ab 20.00 Uhd mussten die Mitspieler bereits präsent sein und es begann eine lange Zeit des Wartens und der Vorbereitung (Rüstung anlegen, Essen und Trinken verstauen, Rolle studieren). Es wurden Wetten abgeschlossen ob und wenn ja, wann man die Hauptbühne zu betreten hatte. Die Kostüme waren an- bzw. bereitgelegt, man bekam von der Regie nur spärliche Informationen über die Entwicklung des Schauspiels vor der Roten Flora und ganz langsam wurden die Schauspieler und Schauspielerinnen nervös, die die „Krieger“ spielen sollten. Als dann nach Mitternacht die Flammen auf der Hauptbühne größer wurden und die dortigen Schauspieler ihre Aggro-Texte riefen, erklang aus dem Lautsprecher des Inspizienten die Durchsage „Wir fahren mal los“. Und tatsächlich: Die Kolonne setze sich in Marsch, sehr diszipliniert, aber vollständig bereit, sofort auf die Hauptbühne zu gelangen und das jährliche Spektakel wieder mitzumachen. Einzelne Schauspieler kommentierten die Entwicklung mit den Worten „Jetzt halten sie uns wieder Stöckchen hin und warten, dass wir darüber springen“. Einige ergänzten in der Tat „Wir sollten einfach mal wegbleiben“. Und es passierte etwas für Verschwörungtstheoretiker vielleicht Unerwartetes, aber für humanistische Polizeiforscher Wunderbares: Der Regisseur entschied sich für eine Kammerspielbesetzung bis zum Schluss und nicht für Passionsspiele. Er hielt mit ruhiger Stimme die Schauspieler zurück und sagte immer wieder, „das beruhigt sich wieder“. Es schien so, als wolle er dem Publikum den Spaß vorenthalten und in der Tat: dieses zeigte sich leicht enttäuscht, wo man es sich doch in den Logen schon gemütlich gemacht hatte („Frauen und Kinder nach vorne, die wollen auch was sehen“). Von den Komparsen zeigte sich dagegen niemand richtig enttäuscht, als es dann gegen 2.00 Uhr hieß, „Ihr könnt wieder zurück in die Garderobe“ – die meisten mussten am nächsten Tag wieder in die Maske, um eine weitere Vorstellung des Stücks „1. Mai in Hamburg“ zu geben.
Ach ja, Du fragst vielleicht, woher ich das alles weiß: ich war diesmal als „embedded scientist“ im 3. Zug der Hundertschaft, die nicht gekommen ist, aber sehr nah dran war.
Für mich ein gelungenes Beispiel einer erfolgreichen „Normalitätskonstruktion“ und für die Durchbrechung eines Regelkreises. Merke: Auch wenn Du denkst, die Polizei hat verschlafen: sie ist immer sehr nah dran.
Liebe Grüße
Rafael
PS: Übrigens: Birgit war auch da, auf einer wieder anderen Bühne ich hab‘ sie am Funk gehört – da hat sich glaube ich jemand über Feuer und Qualm beschwert. Oder warst Du das nicht?
Christian Wickert schreibt
Lieber Rafael,
bitte verstehe mich nicht falsch: ich war und bin begeistert vom Kammerspiel und keineswegs ein Freund des Passionsspiels. Das Schauspiel widersprach lediglich den Sehgewohnheiten und ich habe mich über den Mut/ die Weitsicht (???) des Regisseurs gewundert. Dein Kommentar hat jetzt aber ein wenig Licht hinter die Kulissen geworfen. Vielen Dank.