Die Geschichte der Kriminologie war und ist immer auch eine Geschichte ihrer unterschiedlichen und sich verändernden wissenschaftlichen Lehransätze und Denkweisen.
Ändert sich das wissenschaftliche Paradigma einer Disziplin, so ändert sich letztere auch in ihrer Gesamtheit: Die Fragestellungen und die Art der Theoriegenerierung, die Forschungspraxis, sowie die (politische) Darstellung der Ergebnisse sind immer abhängig vom jeweils vorherrschenden oder angenommenen wissenschaftlichen Lehrmuster.
Denker, denen die Einführung eines neues Paradigmas in die jeweilige Wissenschaft zugeschrieben wird, erlangen daher zumeist große Berühmtheit (egal ob diese Zuschreibung gerechtfertigt ist oder nicht).
In der Kriminologie ist da zunächst Cesare Beccaria zu nennen, dem man (mit etwas gutem Willen) die Übertragung des freien Willens aus der Philosophie in die Kriminologie zuschreiben kann. Als Teil der „Klassischen Kriminologie“ war Beccaria Mitbegründer des ersten kriminologischen Paradigmas: Alle Menschen sind gleich; ihre Handlungen sind das Ergebniss freier Wahlentscheidungen, jeder ist für sich verantwortlich (Indeterminismus).
Cesare Lombroso gilt indes als Begründer der lange Zeit vorherrschenden deterministischen Sichtweise der traditionellen Kriminologie: Biologische, psychologische oder auch gesellschaftliche Umstände führen den Kriminellen notwendigerweise zur Ausführung seiner Tat. Der freie Wille ist eine Illusion, der Mensch ein durchweg fremdbestimmtes und „programmiert“ handelndes Wesen.
Als Vorreiter des dritten und bisher neuesten kriminologischen Paradigmas wird schließlich Frank Tannenbaum aufgeführt, der weniger nach den Ursachen krimineller Handlungen suchen möchte, als mehr die Frage beantwortet sehen will, wer wie und wieso festlegt, welche Handlungen eigentlich kriminell sind und welche nicht – unabhängig davon, ob jene Handlungen determiniert oder Folge eines freien Willensentschlusses waren.
Eigenschaft dieser drei unterschiedlichen Sichtweisen ist ihre fortwährende Konkurrenz untereinander (auch Paradigmen- oder Schulenstreit genannt), weshalb wohl kaum von Paradigmenwechsel gesprochen werden kann, sondern vielmehr von einem ständigen Nebeneinander dreier sich unterscheidender Herangehensweisen.
Bleibt die Frage offen, ob es zukünftig gelingen wird, noch weitere, ganz andere Sichtweisen auf das Phänomen Kriminalität zu entwerfen, oder ob mit den hier aufgeführten Denkmustern bereits eine vollständige Erschöpfung kriminologischer Paradigmen stattgefunden hat. Man könnte diskutieren, ob die Analyse von Macht- und Makrostrukturen (Beispiel Repressive Verbrechen) auf der einen, und die Erforschung von Kultur und Emotion (Beispiel Cultural Criminology) auf der anderen Seite Ansätze für solch neue Paradigmen darstellen…
Andreas Prokop schreibt
Von Foucault stammt der Ausdruck „im ‚Wahren‘ sein“ und dieses ‚Wahre‘ ist sicherlich auch immer ein Ausdruck der Zeitumstände, der mehr oder weniger latenten Sinnstukturen. Große Unsicherheiten und Ängste lassen uns nach Erlösung rufen und machen uns anfällig für einfache Strickmuster. Die nächste große Krise kann dann alles wieder umstoßen, was eben noch als selbstverständlich galt. So geriet in letzter Zeit der ‚Kosten-Nutzen-Maximierer‘ in den Wirtschaftswissenschaften immer mehr in Misskredit und es bleibt zu fragen, ob sich dies auch in der entsprechenden kriminologischen Rezeption wiederfinden lassen wird. Adaptionen sind indessen oft zählebiger als ihre Originale Kraft Eigendynamik, aber es wäre zu wünschen, dass die Kriminologie den Mut zu etwas mehr Komplexität und etwas weniger Einseitigkeit findet.