Die Anti-Wall-Street-Demonstranten marschieren inzwischen direkt vor die Haustüren reicher New Yorker. Die Adressen sind so fein, feiner geht’s kaum: Fifth Avenue 834 (Rupert Murdoch; Penthouse für 44 Millionen Dollar), Park Avenue 740 (David Koch) – und irgendwo in der Nähe findet man auch das (ein) Wohnhaus von John Paulson, der in der Hypothekenkrise mit einigen wenigen kriminalisierungsfähigen Manövern vom schlichten Multimillionär gleichsam über Nacht zum Multimilliardär mutierte.
Die Demonstranten deponieren einen riesigen Scheck vor Paulsons Haus, ausgestellt von den 99% der Bevölkerung auf das oberste 1%.
Was die meisten Demonstranten nicht wissen ist, dass sie mit ihren direkten Aktionen auf den Fußstapfen eines der frühesten (und unbekanntesten) Kriminologen wandeln ….
Rückblende 4. März 1914: Es ist sein 21. Geburtstag. Frank Tannenbaum hat sich vom armen russischen Einwanderer zu einem der wortgewaltigsten und mutigsten Aktivisten der Wobblies, der anarchistisch-pazifistischen Gewerkschaft der International Workers of the World (IWW) entwickelt. Heute plant er mit seiner „Armee der Arbeitslosen“ der army of the unemployed – wieder eine direkte Aktion, um das Gewissen der reichen New Yorker zu wecken. Seine Methode besteht darin, die Reichen dort aufzusuchen, wo sie zu finden sind – mit Vorliebe durch die Besetzung ihrer Kirchen in den wohlhabenden Gebieten Manhattans. Heute geht es zur St. Alphonsus Kirche am West Broadway. Man besetzt die Kirche mit der Forderung nach Nahrung und Obdach. Diese Art von Militanz bringt die Medien in Wallung, die Rede ist von Terror und die Stadt verfällt in eine Moralpanik sondergleichen. Die Kirche wird geräumt, Frank Tannenbaum kommt vor Gericht und verschwindet für ein Jahr im Gefängnis. Allerdings hat die liberale New York Times einen Bericht über seinen Prozess veröffentlicht und vertritt die These, dass die öffentliche Wahrnehmung der Bedrohung verfälscht sein könne – sie lässt Tannenbaum zu Wort kommen und das überzeugt wiederum eine reiche Dame der High Society, die Kontakt zu ihm aufnimmt und ihm das heiß ersehnte Studium ermöglicht. Tannenbaum kommt aus dem Gefängnis, darf an der Columbia University studieren, schreibt über die Situation in den amerikanischen Gefängnissen und wird 1932 Professor für Kriminologie an der Cornell University. Das ist freilich nur eine Durchgangsstation. Als sein Hauptwerk erscheint (die Begründung der Labeling Perspektive im Jahre 1938 in seinem Buch „Crime and the Community“), ist er schon längst Berater der mexikanischen Regierung, Professor für Lateinamerikanische Geschichte an der Columbia University und hat die Kriminologie weit hinter sich gelassen. Die Geschichtsbücher verzeichnen ihn heute als Experten für Lateinamerika und für die Geschichte der Sklaverei. Und wie es die Ironie der Geschichte will: so, wie auch die Demonstranten von „Occupy Wall Street“ sich an ihren großen Vorgänger nicht erinnern, so finden sich auch im kollektiven Gedächtnis der Kriminologie kaum noch Spuren der Erinnerung an Frank Tannenbaum, den Kriminologen, der den Labeling Approach aus der Rekonstruktion der eigenen Erfahrungen erfand.
Irgendwie beruhigt mich, dass ich, als Student der Rechtswissenschaft zumindest wusste wer Frank Tannenbaum war, naja oder ich wusste es nicht, kannte ich doch gerade mal seine Kriminologische Arbeit. Naja, immerhin.