„Be Stupid“ fordert das italienische Modelabel Diesel in einer Werbekampagne zur aktuellen Sommerkollektion und zeigt auf Dutzenden Plakaten lauter gut aussehende Menschen bei hochriskanten, albernen und z.T. illegalen Aktivitäten.
Die preisgekrönte Kampagne der Agentur Anomaly setzt dabei gezielt auf Provokation. Das ist freilich kein Novum. Zahlreiche Modefirmen wie z.B. Benetton oder Sisley haben in der Vergangenheit durch aufreizende und provokante Werbekampagnen den Zorn der Moralwächter und damit die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit auf sich gezogen.
Ein Novum erscheint mir hingegen die Deutlichkeit zu sein, mit der hier eine „marketing of transgression“ (Keith Hayward (2004): City Limits: Crime, Consumer Culture and the Urban Experience) betrieben wird. Der Kunde – üblicherweise König und aufgrund der getroffenen, einzig vernünftigen, Kaufentscheidung grundsätzlich im Recht und intelligent – wird durch die Diesel-Kampagne zum normübertretenden Mitglied der Spaßgesellschaft verklärt.
Der Leitspruch diverser Präventionskampagnen „be smart“ (stay in school, don’t use drugs etc.) wird in sein Gegenteil verkehrt, Vernunft trifft auf jugendlichen Übermut, Beschränkung auf Grenzenlosigkeit, Scham und Selbstkontrolle auf den Appell zu einem „regretless life“ (siehe: www.diesel.com/be-stupid) .
„Be stupid“ ist die Erteilung der Absolution für das vielfältigen Restriktionen und Selbstregulationen unterliegende Individuum der Spätmoderne. Es ist zugleich der Schlachtruf eines „Carnival of Crime“ (Presdee, 2001) (oder hier besser: Carnival of transgression). Denn nur während des Karnevals wird der Narr zum König (hier: der König Kunde zum Narr) und Normübertretungen und Obszönitäten bleiben ungestraft (siehe Wortherkunft „Carnival“ lt. Wikipedia).
carne vale as „a farewell to the flesh“, a phrase actually embraced by certain carnival celebrants who encourage letting go of your former (or everyday) self and embracing the carefree nature of the festival.
Im 21. Jahrhundert ist es allerdings nicht länger die Kirche, der es zusteht, Absolution zu erteilen. Moralische Instanz ist der Markt. Gemäß des Satzes „Ich shoppe, also bin ich.“ oder vielleicht „Ich bin, was ich besitze.“ ist längst die Industrie zum Identitätsstifter geworden.
Reflexartig treten Moralhüter auf den Plan, die sich mit dieser neuen Rollenverteilung nicht zufrieden geben wollen und stellen fest, dass die entblößte Brust auf dem oben zu sehenden Plakat antisoziales Verhalten befördern könnte. Das Marketingkonzept ist aufgegangen: die Skandalisierungsmaschinerie läuft an, Medien berichten über den drohenden Werteverfall und Diesel darf behaupten, sich keiner Schuld bewusst zu sein und lediglich eine gesellschaftskritische Aufklärungskampagne betreiben zu wollen:
[The Ad] tackled society’s preoccupation with 24/7 camera surveillance, in a light and non-threatening way.
(zitiert nach: Adweek)
Hier schließt sich der Kreis: Der Konsument ist der Für-Dumm-Verkaufte, der aber selbstbewusst zu seiner Dummheit stehen kann – solange er die richtige Jeansmarke trägt.
Mehr Motive der Kampagne gibt z.B. hier zu betrachten: http://www.creativeadawards.com/diesel-be-stupid-advertising-campaign/
Grace schreibt
Im grunde genommen, ist das doch nur der Verkauf des ‚alternativ sein‘ als Lifstle Option neu aufgerollt. Dabei finde ich es sehr Auffällig, dass die Leute in den Anzeigen doch überaus konventionell sind. Sie gehören alle zu der selben Klon-Suppe von Models die auch in jeder anderen Werbung zu sehen sind. Es ist also Transgression auf einem extrem engen Feld. Alkohol, Sex, sinnlose Mutproben. Entgegen der Behauptung der Kampagne, dass es unteranderem um Kreativität und Mut gehe, ist davon nicht viel zu sehen.
Das ganze erinnert ein bisschen an das Phänomen ‚Hipsters‘ zudem bei Wikipedia steht:
In a Huffington Post article entitled „Who’s a Hipster?“, Julia Plevin argues that the „definition of ‚hipster‘ remains opaque to anyone outside this self-proclaiming, highly-selective circle“. She claims that the „whole point of hipsters is that they avoid labels and being labeled. However, they all dress the same and act the same and conform in their non-conformity“ to an „iconic carefully created sloppy vintage look“
Christian Wickert schreibt
Fast jede Werbung verkauft einen „einzigartigen“ Lifestyle. Mir fällt auf Anhieb gerade keine einzige Werbekampagne ein, die als eine reine Produktwerbung zählen könnte (vielleicht am ehesten noch Werbung für Haushaltsgeräte).
Je eigenschaftsloser das beworbene Produkt ist (z.B. Parfum) und je größer die Ähnlichkeit zu Konkurrenzprodukten (z.B. Jeanshosen), desto stärker wird durch die Werbung versucht, einen Lebensstil zu transportieren. Das transportierte Etikett unterliegt dabei einem zeitlichen Wandel (Grunge, Girlie, Vamp, Hipster). In der Markentheorie gilt dabei der Grundsatz, dass 80% Tradition (also Selbstähnlichkeit und Beständigkeit des Markenbildes) 20% Innovation gegenüberstehen. Mein Beitrag war der Versuch eines Plädoyers, eben diese 20% unter die „sozialwissenschaftliche Lupe“ zu nehmen.