Dieser Beitrag bildet den Auftakt einer kleinen Artikelserie zum Thema Public Criminology. Im Rahmen eines Projektseminars waren Hamburger Studierende des Instituts für kriminologische Sozialforschung und des Instituts für Journalistik und Kommunikationswissenschaft aufgefordert, ein aktuelles gesellschaftliches Problem, das einen Bezug zur (kritischen) Kriminologie aufweist, in einer für Laien verständlichen Form zu erläutern. Dabei sollte eine (fiktive) Öffentlichkeitskampagne konzipiert werden, die geeignet ist, ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Sowohl die Wahl des Themas als auch die Art der Kampagne blieb den Studierenden überlassen.
Den theoretischen Rahmen des Seminars bildeten verschiedene Texte zur Public Criminology, von denen einige im Folgenden vorgestellt werden.
Public Criminology in der gegenwärtigen Wissenschaftsdebatte
Unerheblich, ob es sich um Lebensmittelskandale, die Sicherungsverwahrung von Straftätern oder der gesellschaftliche Umgang mit jugendlicher Devianz handelt – immer wieder sind KriminologInnen gefragt, ihr Expertenwissen in den öffentlichen Diskurs einzubringen und die Entwicklung von Verbrechen und Verbrechenskontrolle zu kommentieren.
Auch andere Fachdisziplinen stehen als gesellschaftliche Wissensmanufakturen in der Verantwortung, gesellschaftliche Entwicklungen zu begleiten, zu evaluieren und ggf. zu kritisieren; aber als eine Disziplin, die sich das Studium des „lawmaking, lawbreaking, and the reactions to lawbreaking“ (Sutherland/ Cressey 1974) auf die Fahnen geschrieben hat, mag diese soziale Verantwortung in einem noch größeren Maße auf der Kriminologie lasten.
Es verwundert deshalb nicht, dass das Thema Public Criminology derzeit Konjunktur hat.
Das Buch Public Criminology? (Ian Loader & Richard Sparks, 2010) stellt die derzeit aktuellste Publikation dar, die sich explizit mit dem Verhältnis von Kriminologie und Öffentlichkeit beschäftigt. Diese Publikation knüpft damit an entsprechende Debatten in der Soziologie (hier hat sich in den vergangenen Jahren vor allem der britische Soziologe Michael Burawoy verdient gemacht) und das Konzept der „Newsmaking Criminology“ (Gregg Barak, 1988) sowie einen viel beachteten Vortrag und Aufsatz von Christopher Uggen und Michelle Inderbitzin an (Public Criminologies, 2010, PDF; siehe auch: Criminology & Public Policy (2010) Volume 9, Issue 4, Pages 721-805).
Ausgangspunkt der Überlegungen von Loader & Sparks ist die ernüchternde Feststellung, dass die gegenwärtigen Kriminologie einen „successful failure“ (11) darstelle. Dem großen Erfolg der Kriminologie als wissenschaftliche Disziplin, die sich an wachsenden Studierendenzahlen, einer Vielzahl von Fachpublikationen und -kongressen festmachen lässt, stehe eine sinkende Nachfrage nach kriminologischem Fachwissen gegenüber. Stattdessen orientiere sich Kriminal- und Sicherheitspolitik immer häufiger an Richtlinien und Strategien, die durch die Medien und Meinungsumfragen vorgeben würden.
Gleichzeitig sei eine Abnahme der Qualität kriminologischer Forschung zu beobachten: Die Kriminologie werfe zu selten den Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin und sei stattdessen in einem selbst-referentiellen Spezialistentum (self-referential specialism) gefangen.
Die Kriminologie als „successful failure“ bildet den Bezugspunkt für die nun auf ca. 190 Seiten folgenden Ausführungen, in denen Loader und Sparks das Spannungsverhältnis zwischen autonomer Wissenschaft einerseits und beruflichen, gesellschaftlichen und politischen Verpflichtungen andererseits analysieren.
[Our aim is] to examine how the producers of criminological and related knowledge have themselves understood and resolved the tension between, inter alia, autonomy and engagement in the contexts in which they have found themselves acting. Second we want to make the question of criminology’s purposes the object of of comparative investigation and sociological reflection. Our broad concern is to interrogate the changing relation of criminology to politics and public life, and the involvement of criminological knowledge in shaping the ways in which crime has been apprehended and governed in recent decades.” (7)
Dabei setzen sie auf ein leicht modifiziertes Analyseraster, das ursprünglich von Burawoy eingeführt und von Uggen und Inderbitzin für die Kriminologie adaptiert wurde. Dieses Raster unterteilt die Soziologie/ Kriminologie in vier idealtypische Teilbereiche (Professional, Policy, Critical und Public).
Loader und Sparks ordnen diesen Teilbereichen fünf Idealtypen kriminologischer Forscher zu, die sich hinsichtlich ihres Wissenschaftsverständnisses, ihrer präferierten Methoden und vor allem hinsichtlich ihrer Einflussnahme auf den kriminalpolitischen Diskurs unterscheiden:
- Scientific expert (Der wissenschaftliche Experte betreibt eine evidenzbasierte Kriminologie, untersucht auf Basis von Langzeitstudien Ursachen, Verhalten, Situationen und Kosten in Bezug auf Kriminalität und evaluiert Maßnahmen der Verbrechenskontrolle. Dabei setzt er auf ein interdisziplinäres Wissenschaftsverständnis und ist in eine internationale Gemeinschaft von Wissenschaftlern eingebunden. Der wissenschaftliche Experte steht in Nähe zur Politik, Gesetzgebung und Öffentlichkeit, verhält sich jedoch politisch neutral. Seine oberste Maxime ist die Erlangung eines rationalen und datenbasierten Verständnisses von Kriminalität, das Politik, Praktikern im Feld der Kriminalitätsbekämpfung und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden soll.)
- Policy advisor (Der Politik-Berater ist Opportunist. Auch ihm geht es – wie dem wissenschaftlichen Experten – um Erlangung gesicherten Wissens über die Entstehungsbedingungen und Kontrolle von Kriminalität. Er will die Autonomie universitärer Forschung bewahren, sucht aber zugleich Möglichkeiten der Einflussnahme auf internationale, nationale und lokale Politiken. Um dies zu erreichen, tritt er beratend den unterschiedlichen mit der Kriminalitätskontrolle und Strafvollstreckung befassten Akteuren zur Seite.)
- Observer-turned-player (Vom Beobachter zum Entscheidungsträger – Dieser Typus bezweifelt, dass sich allein durch beratende Tätigkeit – wie sie vom Policy Advisor angestrebt wird – der gewünschte Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse erzielen lässt. Konsequenterweise sucht er selbst politischen Einfluss, um das System „von innen“ zu verändern.)
- Social movement theorist/activist (Der Aktivist bemängelt die Nähe der Kriminologie zu staatlichen Institutionen der Verbrechenskontrolle und tritt für eine Autonomie der Kriminologie ein. Um Kritik an herrschenden Diskursen üben zu können, sei eine Distanz erforderlich. Die Aufgabe der Kriminologie besteht nach Ansicht dieses Typus‘ darin, Probleme zu thematisieren und an den Staat heranzutragen – nicht jedoch darin, sie zu lösen. Im Mittelpunkt stehen dabei die empirische Erforschung des Zusammenhanges von Kriminalitätsproblemen und sozialer Ungleichheit. Politische Bemühungen müssten weiter ausgebaut werden, um neue Formen von Anerkennung und Schutz für sozial ausgeschlossene Gruppen zu ermöglichen.
- Lonely prophet (Der einsame Prophet betrachtet Kriminalitätsphänomene und Maßnahmen der Verbrechenskontrolle vor dem Hintergrund sozialer, ökonomischer, kultureller und technologischer Veränderungen. Diese vielfältigen Veränderungen (das „Big Picture“) müssten in Überlegungen der Kriminologie einfließen; nur so ließen sich aktuell zu beobachtende Phänomene wie z.B. der ‚punitive turn‘ als eine Eskalation gesellschaftlicher Entwicklungen begreifen und adäquat darauf reagieren.
Sonderfall Kritische Kriminologie
Sowohl das ursprünglich von Burawoy entwickelte Analyseraster als auch die Typisierung des „Lonely Prophet“ charakterisieren die Anhänger der kritischen Soziologie/ Kriminologie als dogmatische, wenig aufgeschlossene Intellektuelle, die vorwiegend damit beschäftigt sind, ihre Vorstellung und Ideen innerhalb der Wissenschaftgemeinschaft zu verteidigen. Ob dieser Meinung uneingeschränkt zuzustimmen ist, mag fraglich sein; es erscheint jedoch plausibel, dass z.B. die Vermarktung einer Studie, die evidenzbasierte Ergebnisse vorzuweisen hat, leichter fällt als das für die Kritische Kriminologie typische Hinterfragen gesellschaftlicher Macht- und Herschaftsstrukturen und deren Auswirkungen auf Prozesse der Kriminalisierung und Verbrechenskontrolle.
Das Institut für Kriminologische Sozialforschung (IKS) der Universität Hamburg steht in der Tradition der Kritischen Kriminologie. Deren Denkansätze und Theorien werden auch heute noch am Institut gepflegt und weiterentwickelt. Daher stellte es ein besonderes Anliegen dar, im Rahmen des Projektseminars zur Public Criminology den Beweis anzutreten, dass auch eine kritische Beschäftigung mit gegenwärtigen Phänomenen der Devianz und Kontrolle auf eine undogmatische, lebendige und spannende Weise erfolgen kann. Die studentischen Projektarbeiten, die im Laufe der nächsten Tage an dieser Stelle veröffentlicht werden, sollen demonstrieren, dass sich kritische Denkansätze und gelungene Öffentlichkeitskampagnen keineswegs ausschließen müssen.
Jane schreibt
Hallo, hat jemand zufällig das Buch Public Criminology? von Loader und Sparks und könnte es ausleihen? Leider ist das Buch in der Bibliothek vergriffen und wir könnten es für eine Gruppenarbeit zur Kriminologie in der Öffentlichkeit (für ein Seminar an der Uni Hamburg) sehr gut gebrauchen.
Liebe Grüße,
Jane